Ein verbreitetes Missverständnis über das Leid

Artikel von David Powlison
28. April 2019 — 3 Min Lesedauer

Die schwierigen Fragen stellen

Die Frage, warum wir Leid erfahren, ist wahrscheinlich im Herzen jedes ehrlichen Menschen. Ein geläufiges Missverständnis über das Leid kommt in christlichen Kreisen dabei immer wieder vor. Es besagt: „Du leidest, weil Gott dich etwas lehren will.“ Die Folgerung daraus ist, dass das Leid damit korreliert, eine bestimmte Sünde in unserem Leben anzusprechen.

Obwohl es stimmt, dass Gott uns inmitten des Leids begegnet und uns wachsen lässt, ist das aber nicht die ganze Geschichte. Denke zum Beispiel an Hiob. Hiobs Ratgeber lagen falsch, als sie schlussfolgerten, dass Hiob bestraft würde: „Du musst eine geheime Sünde haben und du erfährst Leid, weil Gott zornig auf dich ist.“ Es ist auch falsch, moralistische Schlüsse zu ziehen: „Du musst eine bestimmte Sünde oder einen blinden Fleck haben, auf den Gott seinen Finger legt und dich eine Lektion lehrt.“

„Im Kontext des Leides, welches er erlebte, wurde Hiob von seiner Selbst-gerechtigkeit überführt.“
 

Viele Dinge geschahen gleichzeitig im Leid von Hiob. Der Teufel wurde besiegt, die Ehefrau und Freunde von Hiob zurechtgewiesen, Hiobs Ehrlichkeit und Glaube demonstriert, Gottes Liebe für Hiob offenbart und Gott verherrlicht. Unzählige weitere Leidtragende in den folgenden Jahrtausenden wurden dadurch ermutigt, das Buch Hiob zu lesen. Und Hiob wuchs im Glauben.

Im Kontext des Leides, welches er erlebte, wurde Hiob von seiner Selbstgerechtigkeit überführt. Sein Glaube wurde so vertieft, dass er sagte: „Vom Hörensagen hatte ich von dir gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen“ (Hiob 42,5).

Wir sind nicht allein

Ich denke, dass viele Christen ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Ich bin gewiss. Ich habe fünfeinhalb Jahre extremer und progressiver Behinderung und Ermattung durchgemacht. Viele Menschen, die ihre eigenen gesundheitlichen Probleme durchgemacht haben, sagten mir: „Ich hätte mir nie selbst ausgesucht, das durchzumachen. Aber ich würde nie verlieren wollen, was ich dadurch gewonnen habe.“ Ich konnte am Ende das Gleiche sagen.

Das waren sehr schwierige Jahre, aber wenn ich über die Qualität, die Tiefe und die Beständigkeit meines Glaubens nachdenke, scheint es mir fast so, dass ich davor überhaupt kein Christ war. Ich war zwar Christ, nur wuchs ich in der Erkenntnis der Liebe Gottes auf Wegen, die ich vorher nicht gekannt habe.

„Gott zeigt sich uns in unserem Leben und in unserem Herzen. Er geht mit uns durch das Feuer.“
 

Also ja, wir lernen aus dem Leid, aber das ist keine einfache Lektion. Was am wichtigsten ist, ist dies: Gott zeigt sich uns in unserem Leben und in unserem Herzen. Er geht mit uns durch das Feuer. Er vermittelt unmittelbar seine Liebe. Er reinigt unseren Glauben. Er verankert unsere Hoffnung. Er vertieft unsere Liebe für andere Leidtragende. Gott lehrt uns etwas. Er offenbart sich uns.

Ein Missverständnis über das Ebenbild Christi geht oft einher mit diesem Missverständnis über das Leid. Wir denken, dass das Ebenbild Christi all die Dinge sind, die gut und stark und edel und großzügig sind. Wir können dabei vergessen, dass sein Ebenbild auch die Art und Weise umfasst, wie Jesus von Herzen Schriftstellen wie die Psalmen 22, 25 und 31 auslebte.

Sein Glaube zeigte sich in der Bedrängnis. Er rang mit Gott. Er trug Leid. Er vertraute. Er suchte seinen Gott. Er wandelte mit Gott auf schwierigen Wegen und war nicht immun für Herzschmerz und Trauer, die mit unserem menschlichen Dasein einhergehen. Wir werden in das Ebenbild Christi verwandelt. Die Psalmen lehren uns, dass eines der Dinge, die wir lernen, ist, wie wir ehrlich und glaubensvoll leiden können – und wie wir die Liebe erkennen können, die Gott für uns in den schwierigsten Lebenssituationen hat. Das ist eine ganze Reihe von Lektionen, die es wert sind, sie zu erlernen.