War Markus 16,9–20 Teil des originalen Markusevangeliums?

Artikel von Elijah Hixson
10. Juli 2020 — 10 Min Lesedauer

Wenn man das Markusevangelium komplett durchliest, kann es passieren, dass man ziemlich am Ende über eine seltsame Notiz stolpert. So vermerkt z.B. die Elberfelder bei Markus 16,9: „Die Verse 9–20 sind in einigen der ältesten Handschr. nicht enthalten.“ Ähnliche Hinweise findet man zu diesem Abschnitt auch bei Luther und in vielen weiteren Übersetzungen. Obwohl es in der Bibel nicht besonders viele Stellen gibt, in denen der Text durch eine derartige Anmerkung unterbrochen wird, kann diese Information dennoch irritieren.

Zunächst sollte man wissen – um das Ganze richtig einordnen zu können –, dass ein solcher Vermerk an dieser Stelle kirchengeschichtlich gesehen keine neue Erscheinung ist. Tatsächlich ist den Christen seit Jahrhunderten bewusst, dass Markus 16,9–20 möglicherweise nicht ursprünglich zum Markusevangelium gehört hat.

In einer Abschrift, die die Evangelien enthält, vermerkte schon im 10. Jhdt. ein Mönch namens Ephraim einen solchen Hinweis zwischen Markus 16,8 und 16,9: „In einigen Abschriften endet der Evangelist hier, ebenso brachte auch Eusebius des Pamphilus [nur] bis hierher die Kanonunterteilungen an. Aber in vielen ist das Folgende enthalten.“

Wir kennen Ephraim, weil uns noch weitere Manuskripte, die er angefertigt hat, erhalten geblieben sind. Einige von ihnen tragen seine Signatur. Andere können wir anhand seiner Handschrift und der Verarbeitung zuordnen. Doch Ephraim war nicht der eigentliche Verfasser jener Worte. Er schrieb regelmäßig Randbemerkungen mit ab, wie er sie in den Manuskripten, die er als Vorlage verwendete, vorfand – so auch diesen Hinweis. Und Ephraims Manuskript war nicht die einzige Abschrift des Markusevangeliums, die zwischen 16,8 und 16,9 eine solche Notiz enthielt. Es gibt noch mindestens elf weitere griechische Manuskripte. Der Verweis kann vermutlich einige hundert Jahre vor dem 10. Jhdt. datiert werden und ist damit deutlich älter als Ephraim.

Ephraim ging also mit dem Markusschluss auf die gleiche Weise um, wie es auch moderne Übersetzungen und Urtextausgaben tun. Das Tyndale House Greek New Testament druckt sogar Ephraims Vermerk wörtlich ab, als einen zur Vorsicht mahnenden Hinweis, dass 16,9–20 möglicherweise kein ursprünglicher Bestandteil des Markusevangeliums ist. Meiner Meinung nach ist das auch die beste Lösung.

Warum?

Was für Markus 16,9–20 spricht

Die Menge der Belege, die nahelegen, dass diese Verse dazugehören, ist überwältigend. Ein Blick auf die Manuskripte des Markusevangeliums, die uns bis heute erhalten geblieben sind, zeigt, dass mehr als 99 % davon Markus 16,9–20 enthalten. Das beinhaltet nicht nur mehr als 1600 griechische Handschriften, sondern auch einen Großteil der frühen Übersetzungen des Markusevangeliums.

Davon abgesehen zitierte Irenäus ca. 180 n.Chr. in Adversus haereses (3.10.6) eindeutig Markus 16,19 als Bibelwort. Wahrscheinlich kannten auch Justin der Märtyrer und Tatian diese Verse, und das sogar noch etwas früher im 2. Jhdt. Zweifellos wurde Markus 16,9–20 schon früh von vielen Christen als Teil des Markusevangeliums betrachtet.

Wie kann es dann sein, dass angesichts dieser beeindruckenden Beweislage irgendjemand die Echtheit von Markus 16,9–20 in Frage stellt?

Was gegen Markus 16,9–20 spricht

Es gibt im Grunde nur zwei griechische Manuskripte, in denen Markus 16,9–20 fehlt. Es handelt sich dabei um den Codex Sinaiticus  (ℵ01) und den Codex Vaticanus (B03), zwei wichtige Manuskripte aus dem 4. Jhdt. Es ist fast unvorstellbar, dass die Kopisten, die diese Codices anfertigten, Markus 16,9–20 nicht kannten – aber letztendlich nahmen sie den Text nicht in ihre Bibeln auf.

Wenn man etwas genauer hinsieht und nicht nur einerseits ℵ01 und B03 und andererseits die anderen, mehr als 1600 griechischen Manuskripte des Markusevangeliums gegeneinander abwägt, wird die Sache komplizierter. Es gibt mindestens 23 griechische Manuskripte, die zwar Markus 16,9–20 enthalten, aber Anomalien aufweisen – wie ein zusätzliches alternatives Ende oder einen Vermerk, dass Zweifel an der Echtheit dieser Verse bestehen. Ein wichtiges altlateinisches Manuskript aus dem 4. Jhdt. hat nach Vers 8 eine kurze Ergänzung und endet dann ohne die Verse 9–20. Ein wertvolles altsyrisches Manuskript aus dem 4. Jhdt. beendet das Markusevangelium ebenfalls mit Markus 16,8. Auch ein koptisch-sahidisches Manuskript (das vermutlich aus dem 5. Jhdt. stammt) schließt das Markusevangelium mit 16,8 ab. Im Jahr 1937 ermittelte E.C. Colwell 99 armenische Manuskripte des Markusevangeliums (von insgesamt 220, die erhalten geblieben waren), die mit 16,8 endeten, und weitere 33, die zwar 16,9–20 enthielten, aber darauf hinwiesen, dass die Echtheit dieser Verse nicht gesichert ist.

Abgesehen davon: Auch wenn mehr als 99 % der Manuskripte, die uns heute vorliegen, Markus 16,9–20 enthalten, muss das ja nicht immer so gewesen sein. Ein Christ namens Marinus schrieb an Eusebius (ca. 265–339 n.Chr.) und bat ihn um Rat, weil ihm ein vermeintlicher Widerspruch zwischen Matthäus und Markus aufgefallen war. Marinus fragte, warum Matthäus (28,1) berichtet, Jesus sei „nach dem Sabbat“ erschienen, dagegen jedoch Markus (16,9), Jesus sei „früh am ersten Tag der Woche“ erschienen. Eusebius antwortete darauf, dass eine mögliche Lösung für dieses Problem darin besteht, Markus 16,9 einfach nicht als echten Bestandteil des Markusevangeliums zu betrachten: „Die genauen Abschriften schließen den Bericht des Markus [mit 16,8] ab … damit wird in nahezu allen Abschriften des Markusevangeliums das Ende formuliert.“

Man muss sich das vorstellen: Eusebius teilte einem Christen, in dessen Bibel Markus 16,9–20 enthalten war, mit, dass in „nahezu alle Abschriften“ des Markusevangeliums – einschließlich der „genauen“ – diese Verse fehlen, daher seien sie möglicherweise keine inspirierte Schrift. Und Eusebius hatte kein Problem damit, so etwas zu sagen! So funktionierte das Leben als Christ in einer Zeit, in der die Abschriften der unfehlbaren Schrift durch fehlbare Hände angefertigt wurden. Das war Textkritik im pastoralen Rahmen, nicht irgendeine trockene akademische Übung.

Auf die Arbeit des Eusebius griffen sowohl Hieronymus (ca. 347–419 n.Chr.) als auch Severus von Antiochien (ca. 465–534 n.Chr.) zurück. Es ist zwar eindeutig, dass Hieronymus und Severus einiges aus Eusebius’ Werken übernommen haben. Dennoch hielt sie ihre eigene Erfahrung im Bereich der Manuskripte nicht davon ab, Eusebius’ Behauptung zu wiederholen, dass nämlich in der Mehrheit der Abschriften (Hieronymus) oder jedenfalls in den genauen (Hieronymus und Severus) diese Verse fehlen. Unabhängig von Eusebius bestätigte auch ein Kirchenvater des 5. Jhdts., Hesychios von Jerusalem, dass „die genaueren Abschriften“ des Markusevangeliums mit 16,8 enden.

Ist es wahrscheinlicher, dass Schreiber diese Verse einfügten oder dass sie sie ausließen?

Grundsätzlich waren beim Vorgang des Abschreibens Auslassungen wahrscheinlicher als Hinzufügungen – aber Auslassungen sind oft kurz und oft versehentlich, und es gibt viele Einschränkungen, die jene Tendenz zur Auslassung dann wieder relativieren. Eine solche Einschränkung ist, dass Material möglicherweise eingefügt worden ist, wenn die Änderung der Harmonisierung mit einer Parallelstelle diente. Und im weiteren Sinn ist es genau das, was durch Markus 16,9–20 passiert: Das einzige Evangelium, in dem jegliche Erscheinung des auferstandenen Jesus fehlt, wird durch diesen Abschnitt an die drei anderen angeglichen.

Mehr noch, wir wissen, dass es zumindest einmal vorkam, dass jemand Markus 16,9–20 zu einem Text hinzufügte, in dem die Verse ursprünglich nicht enthalten waren. Der Kompilator eines Kommentars aus dem 6. Jhdt., der Viktor von Antiochien zugeschrieben wird, räumte ein, dass in den meisten Handschriften, die er kannte, Markus 16,9–20 nicht enthalten war. Allerdings waren es seiner Meinung nach (im Gegensatz zu Eusebius) die „sorgfältiger hergestellten“, in denen auch diese Verse vorhanden waren – und daher ergänzte er 16,9–20 in seinem Evangelium. Es handelt sich also um eine Situation, in der ein Christ den Text, den er erhalten hatte, so nicht akzeptierte, sondern etwas einfügte, das ihm hier zu fehlen schien.

Um es kurz zu machen: Es wäre schwer zu erklären, warum Markus 16,9–20 entfernt worden sein sollte. Und doch fehlt dieser Abschnitt in frühen Manuskripten in verschiedenen Sprachen, laut Eusebius in der Mehrheit der griechischen Handschriften, wobei dessen Hinweis von Hieronymus nochmals so weitergegeben wurde. Es ist viel leichter zu erklären, weshalb man 16,9–20 an das einzige Evangelium angefügt hatte, bei dem einfach etwas zu fehlen schien – exakt das, was immerhin der Kompilator eines Kommentars aus dem 6. Jhdt. auch gemacht hat. Ohne 16,9–20 gibt es ein leeres Grab – aber wo ist Jesus? Mir scheint, dass die Frauen, die vom leeren Grab zurückkehrten, nicht die Einzigen waren, die Angst hatten, irgendwie hängengelassen zu werden.

Gott angesichts der Ungewissheit vertrauen

Markus 16,9–20 ist zweifellos früh, ist in 99 % der Manuskripte enthalten und wurde traditionell als kanonisch angesehen. Daher empfehle ich, diesen Abschnitt im Text zu belassen.

Aber er stammt wahrscheinlich nicht von Markus.

Es ist vermutet worden, dass diese Verse zwar apostolisch sind, aber nicht von Markus selbst geschrieben wurden. Meiner Meinung nach ist die beste Lösung die, die schon Ephraim wählte: diese Verse mit einschließen, dabei aber mit einem Hinweis zur Vorsicht mahnen, dass sie möglicherweise nicht ursprünglich sind. Damit tragen wir der Wahrheit Rechnung, dass frühe Christen Bibeln hatten, in denen das Markusevangelium mit 16,8 endete.

Diese Verse sind unbestritten früh und wurden mindestens seit dem 2. Jhdt. in der Kirche allgemein als Teil der Schrift betrachtet. Und doch erinnert uns ein deutscher Mönch, der 1517 an eine Tür in Wittenberg hämmerte, daran, dass die Tradition nicht immer richtig liegt. Die gleichen griechisch-sprechenden Christen, die Markus 16,9–20 als kanonisch akzeptierten, betrachteten auch Psalm 151 als kanonischen Teil des Psalters – aber mir sind keine Protestanten bekannt, die der Meinung sind, wir sollten diesen Psalm in unseren Bibeln ergänzen.

Gott hat es in seiner Vorsehung zugelassen, dass viele Christen Ausgaben des Markusevangeliums hatten, die mit 16,8 endeten. Nicht viele dieser Handschriften sind uns erhalten geblieben, aber soweit wir es beurteilen können, waren das echte Bibeln, die von echten Christen verwendet wurden, und zwar in echten Gemeinden, in denen Christus angebetet wurde. Wenn Gottes Verheißung, sein Wort zu bewahren, bedeutet, dass er auch dafür sorgt, dass es uns komplett zugänglich ist, und wenn sich diese Verheißung auch auf Markus 16,9–20 erstreckt – hat Gott dann diese Gläubigen im Stich gelassen? Das sei ferne! Diese Christen wussten, dass Gott uns den Schatz seines Evangeliums in irdenen Gefäßen (2Kor 4,7) gegeben hat, und das beinhaltete auch die Verantwortung, mit voneinander abweichenden Abschriften der Schrift sinnvoll umzugehen. Sie vertrauten Gott, dass er ihnen alles gibt, was sie brauchen – so, wie wir das auch tun sollten – selbst wenn seine Absicht insgesamt für uns verborgen bleibt.

Markus 16,9–20 ist nicht das einzige Zeugnis von Jesu leiblicher Auferstehung, und es ist auch nicht das früheste (Paulus schrieb 1Kor 15 vermutlich Mitte der 50er Jahre). Lukas erwähnt Jesu Himmelfahrt sowohl in seinem Evangelium als auch in der Apostelgeschichte. Sogar jene, die meinen, ihren Glauben durch das Anfassen von Schlangen beweisen zu müssen, haben nichts zu verlieren, wenn Markus mit 16,8 endet – sie könnten immer noch Paulus’ Kontakt mit einer Otter in Apg 28,3 als normativ verstehen (nicht, dass sie das wirklich tun sollten!).

Mit oder ohne Markus 16,9–20 ist das Grab leer, hat Jesus für uns die Vergebung erkauft – und dessen können wir uns sicher sein.“

 

Wir mögen die Unsicherheit an dieser Stelle nicht, aber wir verlieren nichts von unserem Glauben, wenn Markus mit 16,8 abschließt. Gott ruft uns oft dazu auf, ihm angesichts von Unsicherheit zu vertrauen. Ohne Glauben ist es nicht möglich, ihm zu gefallen – nach wie vor. Da nun der Glaube eine feste Zuversicht ist auf das, was man hofft (Hebr 11,1), und da Hoffnung, die man sieht, keine Hoffnung ist (Röm 8,24), wäre es kein Wandeln im Glauben, wenn Gott all unsere Fragen beantworten würde. Das wäre ein Wandeln im Schauen. Mit oder ohne Markus 16,9–20 ist das Grab leer, hat Jesus für uns die Vergebung erkauft – und dessen können wir uns sicher sein.

Anmerkung des Autors: Es gibt noch ein drittes griechisches Manuskript (neben ℵ01 und B03), das oft noch als solches angeführt wird, in dem der Markusschluss fehlt, nämlich die Minuskel 304 (aus dem 12. Jhdt.). Genau genommen muss die Minuskel 304 eher als Manuskript eines Kommentars betrachtet werden, nicht als Manuskript des griechischen Neuen Testaments. Obwohl sein Bibeltext tatsächlich mit 16,8 endet, weist das Manuskript an sich einige Schwierigkeiten auf. Daher scheint es für unsere Zwecke (da wir den Befund nur aus der Vogelperspektive betrachten) das Sinnvollste, 304 weder für noch gegen einen Abschluss mit 16,8 zu werten. Unabhängig davon, was man damit macht: 304 ist für sich genommen nicht hinreichend, um die Waage der einen oder der anderen Seite zuzuneigen.