Vier theologische Herausforderungen

...und wie die Geschichte vom Exodus uns damit helfen kann

Artikel von Andrew Wilson
2. Juli 2020 — 6 Min Lesedauer

Jede Generation steht spezifischen theologischen Herausforderungen gegenüber. Wenn es um unsere geht, würde ich auf mindestens vier hinweisen:

  1. Die Bibel und Gottes Charakter: wie wir die Darstellungen von Gott im Alten und Neuen Testament zu Themen wie Eingliederung, Gesetz und von Gott geduldete Gewalt schlüssig zusammen halten können.
  2. Gemeinde: unser offensichtlich entwurzelte, historisch nicht verankerte Identität mit all den Auswirkungen auf Lehre, Ekklesiologie und sogar Politik; und wie wir damit umgehen sollten.
  3. Sühne: wie wir die verschiedenen Bilder oder Vorbilder von dem, was am Kreuz passiert ist, verstehen sollten und wie sie alle zusammen passen.
  4. Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kultur: wie wir einerseits orthodox in Bezug auf die biblische Ethik sein sollten (z.B. bezüglich Lebensfragen oder Sexualität) und gleichzeitig unseren Einsatz und unsere Unterstützung für Unterdrückte und Ausgegrenzte steigern (für solche, die aufgrund von Geschlecht, Armut, Rasse, Machtmissbrauch, Behinderung, Diskriminierung oder anderen Ursachen Ungerechtigkeit erleben).

Diese Herausforderungen sind in gewissem Sinne eine schlechte Nachricht.

Die gute Nachricht ist, dass ein Nachdenken über die Exodus-Geschichte in 2. Mose und insbesondere die Echos, die sich durch die ganze Bibel ziehen, hilfreich sein kann. Manche dieser Resonanzen sind sehr deutlich („Denn auch unser Passalamm, Christus, ist geschlachtet“), wohingegen andere weniger offensichtlich sind (Streitwägen und Wasser in der Geschichte von Elia). Sie tragen jedoch alle dazu bei, unseren Einblick in die biblische Geschichte uns unsere Freude daran, dass sie von Erlösung durchzogen ist, zu vergrößern.

Und dieses tiefere Verständnis hilft im Umgang mit den vier theologischen Herausforderungen, die ich eben erwähnt habe, wie ich nun zeigen möchte.

1. Die Bibel und Gottes Charakter

Je mehr wir die Zusammenhänge zwischen den Testamenten erkennen, desto weniger erliegen wir der Vorstellung, dass der Gott des Alten Testaments dem Gott, wie er sich in Jesus offenbart, moralisch unterlegen ist (lesen sie dazu Greg Boyd’s Misunderstandings of the ‘Warrior God’). Nur wenige Menschen würden es klar so ausdrücken, aber viele halten hartnäckig so reichlich Abstand wie möglich zwischen der Eroberung Kanaans und der Person Jesu, als ob er das niemals bewilligt, geschweige denn befohlen haben könnte.

„Viele halten so reichlich Abstand wie möglich zwischen der Eroberung Kanaans und der Person Jesu, als ob er das niemals bewilligt, geschweige denn befohlen haben könnte.“

 

Andere sind noch weiter gegangen und behaupten, dass Gott schlichtweg nie jemanden aus egal welchem Grund umbringt und deshalb jeder Vorfall von Gewalt in der Bibel, in welchen Gott involviert ist, als a) unvereinbar mit Jesus und daher b) als vom alten Israel erfunden angesehen werden sollte. Betrachtet man das Ausmaß, mit welchem die Exodus-Geschichte, die Plagen und das Passafest inbegriffen, in der ganzen Schrift widerhallt – nicht zuletzt im Dienst und in der Lehre Jesu! – so werden die brüchigen Sockel aller möglicher Formen vom Neo-Markionismus erkennbar (Marcion trennte den bösen Gott des Alten Testaments vom guten Gott des Neuen Testaments, Anm. der Red.).

2. Gemeinde

In unserer entwurzelten und orientierungslosen Welt, in der Neuheiten und Selbstentfaltung mehr geschätzt werden als Weisheit und Erfahrung, gibt es keine bessere Möglichkeit, unsere Verankerung im Lesen des Alten Testaments zu finden, insbesondere als ob dieses, wie Paulus es ausdrückt, „um unsertwillen geschrieben worden“ (1Kor 9,10; siehe auch Röm 15,4; 1Kor 10,11) ist.

Die Bibel und insbesondere den Auszug aus Ägypten betrachten wir dann nicht mehr nur noch als ihre Geschichte, sondern als unsere. Unsere Väter sind „alle unter der Wolke gewesen”, schreibt Paulus den Korinthern (1Kor 10,1). Sie sind alle durchs Meer gegangen. Sie haben alle geistliche Speise und geistlichen Trank zu sich genommen. Und diese Dinge sind uns, ihren Ur-, Ur-, …, Urgroßkindern zum Vorbild geschehen (1Kor 10,1–6).

Wir sollten den Exodus so lesen, wie wir über die Abschaffung der Sklaverei oder die D-Day-Landungen lesen: eine Geschichte, die bestimmt, wer wir sind. Wir müssen ihren fortlaufenden Widerhall in der ganzen Schrift wahrnehmen und die Muster erkennen, die immer wieder auftauchen, um daraus Ermutigung für unser gegenwärtiges Leben zu schöpfen.

Der Exodus ist unsere Familiengeschichte und dies verwurzelt uns einerseits in der Geschichte und gibt uns andererseits Hoffnung, wie dies beispielsweise in der Bürgerrechtsbewegung deutlich wurde, dass der Gott, der die Gefangenen befreite, dies auch heute noch tut.

3. Sühne

Aus unterschiedlichen Gründen haben sich verschiedene Bereiche der Gemeinde heute ausschließlich auf bestimmte Vorstellungen, Modelle oder Darstellungen von Sühne ausgerichtet, was zu einem Zusammenschrumpfen des biblischen Evangeliums, als auch zu gewisser Uneinigkeit und Misstrauen führt. (Manche sagen “Ich gehöre zu Christus-Victor”, andere sagen “Ich gehöre zur Versöhnung”, jene sagen “Ich gehöre zum stellvertretenden Sühneopfer” und wiederum andere meinen “Ich gehöre zu Christus”). Reaktionen bringen Gegenreaktionen hervor und das Zentrum unseres Glaubens ist tragischerweise zu einer Quelle von Auseinandersetzungen geworden.

Die Exodus-Geschichte liefert jedoch aufgrund ihrer Länge und der Tatsache, dass sie so häufig auftaucht, einen wundervollen Rahmen fürs Nachdenken darüber, wie alle verschiedenen Vorstellungen von Sühne zusammen passen. Sie ist eine Geschichte über Erlösung aus der Sklaverei, die Blutopfer, eine Stellvertretung, Befreiung, Versöhnung mit Gott, einen großartigen Sieg, Rechtfertigung durch Glaube, Vereinigung mit Gott, Adoption, Priesterschaft, Passah, Taufe, Königreich und anderes beinhaltet - alles, was natürlich auch am Kreuz stattfindet.

Als solche hilft uns die Exodus-Geschichte zu verstehen, wie die vielen Beschreibungen dessen, was Christus für uns getan hat, alle wahr sein können, ohne sie gegeneinander ausspielen zu müssen.

4. Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kultur

Unsere Kultur ist unsicher, was die Wesensart wahrer Freiheit angeht. Deshalb denken so viele, dass das Streben nach Rassengerechtigkeit und das Streben nach biblischer Sexualität in einem Spannungsverhältnis stehen. Eines scheint fortschrittlich, das andere konservativ. Im Rahmen der Exodus-Geschichte lösen sich diese Kategorien jedoch auf. Unsere Erlösungsgeschichte ist eine Geschichte, in der „Freiheit von“ untrennbar mit „Freiheit zu“ verbunden ist.

„Es bringt viele Vorteile, wenn wir die Einheit der Schrift erkennen, besonders in Bezug auf den Auszug aus Ägypten in 2. Mose.“

 

Gottes Volk ist ein Exodus-Volk. Wir kennen also sowohl den Schmerz der Unterdrückung aufgrund ethnischer Gründe in Ägypten, als auch die Gefahren von Kompromiss, Götzendienst und Immoralität in der Wüste. Wir wissen ebenso, dass es wenig Sinn macht, frei vom Dienst unter dem Pharao zu sein, wenn wir nicht zugleich frei sind, Jahwe zu dienen. Infolgedessen sind wir nicht durch Kategorien wie 1789 oder 1968, progressiv und konservativ, definiert. Wir streben nach wahrer Freiheit – sei es von Ägypten oder dem goldenen Kalb, von Unterdrückung oder Immoralität – im Wissen, dass wenn uns der Sohn frei macht, wir wirklich frei sind (Joh 8,36).

Es bringt viele Vorteile, wenn wir die Einheit der Schrift erkennen, besonders in Bezug auf den Auszug aus Ägypten in 2. Mose. Dieser kann Menschen helfen, die Schrift, die Gute Nachricht und das christliche Leben besser zu verstehen. Und im Alltag kann er dazu beitragen, unsere Gebete, unseren Lobpreis und unsere Freude am erlösenden Gott des Exodus zu nähren.