Eine kurze Geschichte der Menschheit
Eine kurze Geschichte der Menschheit von Yuval Noah Harari war für mich ein echtes Lesevergnügen. Es handelt sich um eine brillante, zum Nachdenken anregende Odyssee durch die Menschheitsgeschichte – gezeichnet mit weit ausholenden, sicheren Pinselstrichen, die über die Zeitalter hinweg gigantische Szenarien sichtbar werden lassen. Es ist fesselnd geschrieben und von vorne bis hinten hochinteressant. Das Buch behandelt die überwältigende Spanne von 13,5 Milliarden Jahren Urgeschichte und Geschichte.
Von Anfang an versucht Harari, die vielfältigen Faktoren zu erfassen, die den Homo („Mensch“) zum Homo sapiens („verständiger Mensch“) werden ließen. Er fragt nach den Auswirkungen, die ein großes Gehirn, der Werkzeuggebrauch, komplexe soziale Strukturen usw. mit sich brachten. Zudem bringt er unser Bild auf den aktuellsten Stand, indem er auch Schlussfolgerungen aus der Kartierung des Neandertaler-Genoms zieht – welche aus seiner Sicht darauf hindeutet, dass sich der Sapiens nicht mit den Neandertalern vermischt, sondern sie stattdessen weitgehend ausgelöscht hat. Er stellt fest: „Der Homo Sapiens ist nicht gerade für seine Toleranz bekannt“ (S. 29), und gestaltet damit bereits das Bild, als welche Sorte Tier er uns darstellen wird.
Faszinierend, aber fehlerbehaftet
Harari präsentiert uns faszinierende Bilder der frühesten Menschen, der Jäger und Sammler und der ersten Ackerbau-Kulturen; doch er hastet weiter, lässt den Beginn des Ackerbaus vor 10.000 Jahren hinter sich, eilt über die Entstehung der Religion, die naturwissenschaftliche Revolution, die Industrialisierung, das Aufkommen der künstlichen Intelligenz bis zu einem möglichen Ende der Menschheit. Seiner Überzeugung nach ist der Homo sapiens ein ursprünglich als Jäger und Sammler in Afrika lebendes, unbedeutendes Tier, das zum „Schrecken des Ökosystems“ (S. 507) wurde. Diese Sicht hat natürlich etwas Wahres, aber das Bild ist doch sehr einseitig. Ich würde sagen, dass seine größte Stärke in seinem Porträt der modernen Welt liegt; auch seine weitsichtige Analyse dessen, was wir uns selbst antun, hat mich in vieler Hinsicht angesprochen.
Dennoch ist das Buch meiner Meinung nach teils auch sehr fehlerhaft – Harari ist ein weitaus besserer Sozialwissenschaftler als ein Philosoph, Logiker oder Historiker. Seine Kritik moderner sozialer Missstände ist sehr erfrischend und objektiv, und wie er die Bruchstücke der Vorgeschichte zusammensetzt, ist einfallsreich und wirkt auf den Nichtfachmann überzeugend. Doch seine Einsicht in manche der historischen Epochen und Dokumente ist sehr viel weniger treffend – und das, wie ich meine, nachweislich.
Fehleinschätzung im Hinblick auf die mittelalterliche Welt
Harari ist nicht allzu gut auf die mittelalterliche Welt – oder zumindest auf die mittelalterliche Kirche – zu sprechen. Er führt an, dass „vormoderne“ Religion behauptete, alles Bedeutsame, das man über die Welt wissen könne, „bereits bekannt war“ (S. 306), daher habe die Wissbegier gefehlt und die Bildung stagnierte. Wann setzt er den Zeitpunkt an, an dem sich diese Sicht änderte? Viel zu spät. Er konstruiert ein Beispiel eines Bauern im 13. Jhdt., der von einem Priester etwas über Spinnen wissen will – und abgewiesen wird mit der Begründung, die Bibel sage nichts darüber. Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll zu erklären, wie falsch eine solche Vorstellung ist.
Beispielsweise waren im 13. Jhdt. die Ordensbrüder, die so oft als faul und lasterhaft dargestellt werden, von erheblicher Bedeutung für die Gelehrsamkeit an den Universitäten. Mehr noch, es war ihnen damals möglich, unabhängig von kirchlichen Vorgaben zu unterrichten. Die Folge war der wissenschaftliche Austausch über nationale Grenzen hinweg, und es wurden anspruchsvolle Standards gesetzt. Zudem gründete die Kirche Schulen in den meisten Regionen Europas, und mit dem Anstieg der Alphabetisierungsrate vermehrten sich dann die Debatten sowohl unter Laien als auch unter Klerikern. Mönche, die religiöse wie auch klassische Texte studierten, sammelten umfangreiche Bibliotheken an. Ihre Skriptorien wurden zu den Forschungsanstalten der damaligen Zeit. Ein erhalten gebliebenes Beispiel ist die faszinierende Bibliothek der Benediktiner von San Marco in Florenz. Sie wurde 1437 in Auftrag gegeben und wurde die erste öffentliche Bibliothek Europas. Dies war ein enormer konzeptueller Durchbruch im Hinblick auf die Verbreitung von Wissen: Die einfachen Bürger dieser großen Stadt hatten nun Zugang zu jenen tiefgründigen Ideen, die seit der klassischen Periode bis in ihre Zeit gedacht worden waren.
Und dann gibt es da noch Thomas von Aquin. In der Regel wird er als der brillanteste Geist des 13. Jhdts. angesehen, er verfasste Schriften über Ethik, Naturrecht, politische Theorie, Aristoteles und noch vieles mehr. Harari vergisst, ihn überhaupt zu erwähnen – ihn, der heute, wie allgemein bekannt ist, in der katholischen Kirche als Heiliger angesehen wird.
Tatsächlich war es die Kirche, die – durch Petrus Abaelardus im 12. Jhdt. – die Vorstellung entwickelte, dass eine einzelne Autorität nicht ausreicht, um Wissen aufzubauen, sondern dass die Disputation erforderlich ist, um den Geist zu üben, ebenso wie die Vorlesung zur Wissensvermittlung. Das war ein Durchbruch im Hinblick auf das Denken, der den Lehrbetrieb an den Universitäten auf Jahrhunderte hinaus prägen sollte.
Oder was ist mit Johannes von Salisbury (einem Bischof des 12. Jhtds.), dem größten sozialen Denker seit Augustinus? Er hat uns die Idee von der Herrschaft des Rechts hinterlassen und das Konzept, dass sogar ein Monarch dem Gesetz untertan sein muss und vom Volk abgesetzt werden kann, wenn er das Gesetz bricht. In Anlehnung an Cicero lehnte er dogmatische Ansprüche auf Gewissheit ab und erklärte stattdessen, dass wir bestenfalls eine „wahrscheinliche Wahrheit“ anstreben können, die jedoch fortwährend neu bewertet und revidiert werden muss. Daher liegt Harari falsch damit, wenn er behauptet, dass Vespucci (1504) der erste war, der feststellte: „Wir wissen es nicht“(S. 353).
Im Hinblick auf die Geschichte tendiert Harari also dazu, eine allzu starre Trennlinie zwischen den mittelalterlichen und den modernen Epochen zu ziehen (S. 310ff.). Seine Stärke liegt in der Moderne, aber die Unterschiede sind markant genug, auch ohne die Sache so überbetont darzustellen wie er es tut.
Kurzsichtiger Reduktionismus
Sein Abschnitt über die Menschenrechte – dass sie in der Natur nicht existieren – trifft völlig zu, aber seine Abhandlung über die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ist sicherlich vollkommen fehlinterpretiert (S. 137ff.). Sie – wie er es tut – in eine Darlegung über Evolution zu „übersetzen“, kommt dem gleich, einen Regenbogen in einen bloß geometrischen Bogen zu „übersetzen“, oder noch besser: eine Landschaft in eine Landkarte zu „übersetzen“. Selbstverständlich ist keiner dieser Vorgänge eine Übersetzung, denn es ist unmöglich, so etwas zu tun. Sie sind, was sie sind. Das eine ist Idee, ein Phänomen, das andere eine Analyse. Es geht dabei nicht darum, ob das eine unwahr und das andere wahr ist – schließlich vermitteln sowohl Landschaften als auch Landkarten verschiedene Arten von Wahrheit.
Die Unabhängigkeitserklärung ist eine ambitionierte Darlegung der Rechte, die jedem Individuum im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit in einer nach-aufklärerischen Nation, beruhend auf christlichen Grundsätzen, gewährt werden sollten. Dagegen ist Hararis „Übersetzung“ eine Darlegung des (momentanen) Glaubens unserer heutigen Zeit, einer post-darwinistischen Kultur, die an evolutionäre Antriebe der Menschheit und unsere „egoistischen“ Gene glaubt. Die „Biologie“ mag uns derartige Dinge erzählen, aber die menschliche Erfahrung und die Geschichte erzählen etwas anderes: Es gibt sowohl Altruismus als auch Egoismus; es gibt sowohl Liebe als auch Angst und Hass; es gibt sowohl Moral als auch Amoral. Das Schwert ist nicht die einzige Art und Weise, wie Ereignisse und Epochen heraufgeführt wurden. Tatsächlich wirkt es auf tragische Weise kurzsichtig, aus der Biologie/Biochemie die abschließende, nicht mehr reduzierbare Methode zu machen, wie menschliches Verhalten zu erfassen ist – doch eben das scheint Harari zu tun.
Religiöser Analphabetismus
Es wundert mich nicht, dass das Buch in einer (im Großen und Ganzen) religiös uninformierten Gesellschaft zum Bestseller wurde. Auch wenn es in anderen Bereichen viele Vorzüge hat, ist seine Kritik des Judentums und Christentums historisch nicht seriös. Lediglich einige wenige Zeilen mit Hypothesen (S. 263) zur Entstehung des Monotheismus aus dem Polytheismus, dargestellt als Fakten – das ist inakzeptabel. Hier fehlt die Objektivität. Die große, weltverändernde abrahamitische Religion, die in der frühen Bronzezeit aus der Wüste heraus auftauchte (was offenkundig so war) und eine völlig neue Auffassung von einem alleinigen Schöpfergott mit sich brachte, ist eine enorme Änderung. Das kann einfach nicht derart übergangen werden, wenn er den gebildeten Leser von seinen Rekonstruktionen überzeugen will.
Harari ist außerdem nachweislich sehr unsicher in seiner Beschreibung dessen, was Christen glauben. So ist beispielsweise seine Überzeugung, dass der Glaube an die Existenz Satans das Christentum zu einer dualistischen Religion mache (ein unabhängiger guter und ein unabhängiger böser Gott), schlicht unhaltbar. Einer der allerfrühesten biblischen Texte (das Buch Hiob) zeigt, wie Gott Satan erlaubt, Hiob anzutasten, dabei jedoch seine Methoden kategorisch einschränkt (Hiob 1,12). Später befiehlt Jesus Satan, aus Personen auszufahren (z.B. Mk 1,25), und das letzte Buch der Bibel zeigt, wie Gott Satan vernichtet (Offb 20,10). Hier gibt es nicht viel Dualismus! Natürlich haben wir hier ein tiefes Geheimnis vor uns – aber das gründet ziemlich sicher nicht darin, dass die Bibel einen Dualismus lehren würde. Entweder kennt Harari die Bibel nicht oder aber er hat sich entschieden, sie falsch darzustellen. Er kennt zudem auch Thomas Hardy nicht, der (für geraume Zeit!) exakt das glaubte, wovon Harari feststellt, dass „bis heute kaum jemand Lust [verspürt]“ (S. 269), zu glauben, dass Gott böse sei – was ein Roman wie Tess of the d’Urbervilles oder sein Gedicht The Convergence of the Twain bestätigt.
Herumfingern am Problem des Bösen
Ein weiteres Beispiel für Hararis Mangel an Objektivität finden wir in der Art und Weise, wie er das Problem des Bösen behandelt (S. 267ff.). Er führt hier den abgedroschenen Gedanken ins Feld, dass – vorausgesetzt, man entscheidet sich, das Problem unter Verweis auf einen freien Willen zu lösen – darauf sogleich die nächste Frage folgt: Wenn Gott „im Voraus weiß“, dass Böses getan werden wird, warum hat er dann den Täter erschaffen?
Doch um objektiv zu sein, müsste der Autor auch eine Gegenfrage stellen: Wenn es keinen freien Willen gibt, wie kann es dann Liebe geben und Wahrheit? Roboter ohne einen freien Willen handeln nach Vorgabe und es kann zwischen ihnen keine Liebe geben – per definitionem. Nochmals: Wenn alles determiniert ist, dann ist dies die Ansicht, die ich eben dargestellt habe. In dem Fall besitzt sie keine Gültigkeit als Maßstab für Wahrheit – alles ist determiniert, entweder durch die Zufallskräfte des Urknalls oder z.B. durch das, was ich zum Frühstück gegessen habe, weil meine Stimmung mir das so vorgegeben hat. Das sind uralte Probleme, auf die es keine einfachen Lösungen gibt, aber ich würde von einem Wissenschaftler erwarten, dass er beide Seiten darstellt, nicht nur die populistisch einseitige Beschreibung, die Harari bietet.
Gemäß der christlichen Theologie schuf Gott sowohl Zeit als auch Raum, aber er selbst existiert außerhalb davon. Daher ist es nicht so, dass der Gott der Christen irgendetwas „im Voraus weiß“, denn das ist ein Begriff, der nur auf diejenigen anwendbar ist, die innerhalb des Raum-Zeit-Kontinuums leben, d.h. die Menschheit. Der erste, der das erkannt hat, war der christliche Philosoph Boethius im 6. Jhdt.; Theologen wissen das – aber Harari scheinbar nicht, obwohl er es wissen sollte.
Ignorieren der Auferstehung
Wie so viele ist Harari nicht in der Lage, zu erklären, warum das Christentum in der Lage war, „die Herrschaft über das mächtige römische Weltreich zu erlangen“ (S. 264), doch er nennt das eine der „erstaunlichsten Wendungen der Menschheitsgeschichte“ (ebd.). Das trifft zu, aber eine Erklärung, die man berücksichtigen sollte, ist Christi Auferstehung, die natürlich einen völlig hinreichenden Grund bieten würde – wenn Menschen diesen Gedanken einen Moment lang erwägen würden. Doch soweit ich sehen konnte, wird die Auferstehung nirgendwo im Buch erwähnt (noch nicht einmal als maßgeblicher Glaubensinhalt).
Der Grund, der üblicherweise für ein solches Übergehen angegeben wird, lautet, dass „so etwas in der Geschichte nicht passiert; tote Menschen stehen nicht wieder auf“. Doch ich fürchte, dass das konsequenterweise eine sehr hoffnungslose Antwort ist. Wer das sagt, ist deswegen der Meinung, dass es nicht geschehen sein kann, weil er bereits vorausgesetzt hat, dass es keinen Gott gibt, der so etwas tun könnte. Sobald man aber die Voraussetzung fallen lässt, ändert sich die ganze Situation von Grund auf: Im Licht dieses Gedankens wird es jetzt völlig plausibel, dass diese erstaunliche Wendung Teil des göttlichen Plans war. Und das Komische dabei ist, dass – im Unterschied zu anderen Religionen – das Christentum ausgerechnet an diesem Punkt am meisten auf seiner Historizität beharrt. Petrus, Paulus und die frühe Kirche allgemein waren davon überzeugt, dass Jesus lebt, obwohl sie genauso gut wie wir wussten, dass tote Menschen tot sind – und sogar besser als wir wussten, dass insbesondere gekreuzigte Menschen wirklich tot sind! In den allerersten christlichen Predigten (etwa 33 n.Chr.) ging es um das, was sie erlebt hatten – die Auferstehung Jesu –, und nicht um Moral oder Religion oder die Zukunft.
Einseitige Sicht auf die Kirche
Harari hat Recht, wenn er auf die erschreckende Bilanz der Kriege in der Menschheitsgeschichte verweist, und wir sollten nicht versuchen, Entschuldigungen für die Rolle zu finden, die die Kirche dabei spielte. Ich habe dazu an anderer Stelle ausführlicher Stellung genommen, ebenso wie weitaus fähigere Leute. Aber glauben wir wirklich, nur weil damals jedermann in Europa entweder als katholisch oder als evangelisch bezeichnet wurde („cuius regio, eius religio“), dass deshalb ihre Kriege Religionskriege waren?
In Cambridge Modern History wird im Zusammenhang mit dem entsetzlichen Massaker der Bartholomäusnacht 1572 (auf die sich Harari auf S. 262 bezieht) aufgezeigt, wie der Pariser Mob aufgeheizt war, Katholiken ebenso schnell wie Protestanten zu töten – und genau das geschah auch. Es handelte sich dabei um das Resultat von politischen Intrigen, sexuell motivierter Eifersucht, menschlicher Barbarei und Fehden. Der Oxforder Professor Keith Ward erklärt in seinem Buch Is Religion Dangerous?: „Religionskriege sind nur eine winzige Minderheit unter den menschlichen Konflikten.“ Wenn man nun die Kirche als negativen Einfluss darstellt, weshalb fehlt dann in einem wissenschaftlichen Werk der Verweis auf ihren unbestreitbar und konkurrenzlos positiven Einfluss während der letzten 300 Jahre (ganz abgesehen von der Zeit davor)? Man kann nicht von guter Geschichtsschreibung sprechen, wenn man den guten Einfluss, den die Kirche im Bereich Bildung und Soziales hatte, ignoriert. Man sollte schon auf beide Seiten verweisen.
Philosophische Spannungsfelder
Mich erstaunt auch, welche Selbstgefälligkeit Harari gelegentlich an den Tag zu legen scheint, beispielsweise darüber, wohin uns der wirtschaftliche Fortschritt gebracht hat. Ist es vertretbar, wenn er auf S. 325 schreibt: „Wenn eine Region von einer Katastrophe heimgesucht wird, laufen sofort internationale Rettungsaktionen an, um die schlimmsten Folgen abzuwenden. Zwar leiden noch immer viele Menschen unter den Erniedrigungen und Krankheiten der Armut, doch in den meisten Ländern der Welt muss heute niemand mehr verhungern.“? Das muss man mal den Menschen in Haiti erzählen, wo sieben Jahre nach dem Erdbeben – Berichten der UNO zufolge – immer noch zweieinhalb Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Oder den Menschen im Südsudan, die an Durst und Hunger sterben, während sie versuchen, in ein Flüchtlingslager zu gelangen. Jetzt in diesem Moment leben sechzig Millionen Flüchtlinge in entsetzlicher Armut und Not. Angesichts dieser Tatsachen erscheint mir Hararis Kommentar doch ziemlich unzureichend.
Aber es gibt ein noch größeres philosophisches Spannungsfeld, das sich durch das ganze Buch zieht und beständig droht, seine Schlüsse zu zerschlagen. Seine ganze Aussage beruht auf der Idee, dass die Menschheit lediglich das Produkt zufälliger evolutionärer Kräfte ist, und das bedeutet, dass die Geschichte aus seiner Sicht nicht wirklich zielgerichtet sein kann. Es gibt sicherlich eine Richtung, aber er ist der Meinung, dass die Geschichte ihre Richtung einschlägt wie ein Eisberg, nicht wie ein Schiff.
Das wäre in Ordnung, wenn er geradeheraus sagen würde, dass all seine Argumente auf der Voraussetzung beruhen, dass – wie Bertrand Russell sagt – „der Mensch … bloß das Ergebnis einer zufälligen Anordnung von Atomen“ ist und ohne jegliche Bedeutung. Doch stattdessen bedient er sich eines Zirkelschlusses. Das bedeutet, er setzt von vornherein voraus, was in der Untersuchung dann erwiesen werden soll – nämlich, dass der Mensch auf sich alleine gestellt ist und dass es keinerlei Art von göttlicher Lenkung gibt. Harari hätte also seine vorausgesetzte Annahme zu Beginn klarstellen sollen, aber bezeichnenderweise hat er das unterlassen. Im Ergebnis bedeutet das, dass viele seiner anfänglichen Feststellungen nur unbegründete Hypothesen sind, die auf der größten Hypothese beruhen: dass die Menschheit alleine auf einem einsamen Planeten dahintreibt, der wiederum dahintreibt in einer Galaxie, die in einem sterbenden Universum dahintreibt. Wo sind bitte die Beweise dafür, dass die Menschheit „nicht mehr als“ ein biologisches Gebilde ist und dass das menschliche Bewusstsein kein schwacher (und grundlegend beschädigter) Abglanz des göttlichen Geistes sein kann?
Die Tatsache, dass (wie er sagt) der Sapiens seit langer Zeit existiert, durch die Unterwerfung der Neandertaler auf der Bildfläche erschien und mit einer blutigen und gewalttätigen Geschichte behaftet ist, steht in keiner logischen Verbindung zu der Überlegung, ob Gott ihn („sie“ für Harari) gemacht hat als ein Wesen, das fähig ist, richtig und falsch zu unterscheiden, Gott in der Welt zu erkennen und sich sowohl zu einem Michelangelo, Mozart, einer Mutter Teresa zu entwickeln wie auch zu einem Nero und Hitler. Wenn man darauf besteht, dass derart erhabene oder abscheuliche Wesen „nichts weiter als“ hochgejubelte Affen sind, dann ignoriert man damit den Elefanten im Raum: Die kleinen Unterschiede in unserem genetischen Code sind genau die Unterschiede, die vernünftigerweise auf ein göttliches Eingreifen hinweisen – weil das Resultat so schockierend unverhältnismäßig ausfällt, wenn man uns und unsere nächsten Verwandten vergleicht. Ich habe schon Schimpansen und Menschenaffen beobachtet; ich tue das gerne (und insbesondere liebe ich Gorillas!), aber … sie sind so ähnlich, und doch so sehr anders.
Fragwürdige Annahmen
Hier nun einige kurze Beispiele für die Annahmen des Autors, die es im Kontext zu überprüfen gilt:
- „zufällige Genmutationen … war das reiner Zufall“ (S. 34).
- „Gesetze gibt es gar nicht – sie existieren nur in unserer kollektiven Vorstellungswelt“ (S. 41).
- „in der physischen Realität“ (S. 47).
Letzteres ist ein riesiger Sprung unbegründeten Glaubens. Sein Konzept der „wirklichen Welt“ scheint die „physische Realität“ zu umfassen, aber seiner Meinung nach gibt es nichts darüber hinaus. Tatsächlich sind sich Menschen aber mehrheitlich sicher, dass immaterielle Dinge sehr wohl existieren: Liebe, Eifersucht, Wut, Armut, Reichtum, um nur einige für den Anfang zu nennen. Es mag auch sein, dass Dunkle Materie den größten Teil des Universums ausmacht – man sagt uns, dass sie existiert, aber wir können sie nicht messen.
Hararis Schlusskapitel sind durchaus brillant, was ihre Weite und Tiefe betrifft, und höchst interessant im Hinblick auf die mögliche Zukunft nach dem Aufkommen der Künstlichen Intelligenz – ob mit oder ohne den Sapiens. Seine Wiedergabe dessen, wie Biologen die Beschaffenheit des Menschen sehen, ist ebenso einseitig wie die Behandlung vorheriger Themen. Wenn man sagt, dass unser „subjektives Wohlbefinden nicht durch äußere Parameter [...] bestimmt wird“ (S. 470), sondern durch „Serotonin, Dopamin and Oxytocin“ (ebd.), dann vertritt man eine behavioristische Sicht, die alle anderen biochemischen/psychiatrischen Wissenschaften ausschließt. Neuere Studien sind dagegen zu dem Schluss gekommen, dass menschliches Verhalten und Wohlbefinden nicht nur darauf basieren, welche Menge an Serotonin usw. in unserem Körper vorhanden ist, sondern dass in Reaktion auf externe Ereignisse sich die Menge an Serotonin, Dopamin usw. verändert, die unser Körper produziert. Hier findet ein wechselseitiger Einfluss statt. Deswegen sind unsere Entscheidungen von zentraler Bedeutung. Unser Verhalten wirkt sich tatsächlich auf die Chemie in unserem Körper aus, und umgekehrt. Harari hat eine Abneigung gegen das Wort „Geist“ und bevorzugt „Gehirn“, aber es gibt niemanden, der entscheiden könnte, ob/wie diese beiden Dinge koexistieren. Auf S. 497 gibt er einen kurzen Blick auf diese Idee: Er lässt sie – ohne sie abzulehnen – ganze vier Zeilen lang zu, was ein sehr besorgniserregendes Versäumnis ist, da es sich um einen Gedanken handelt, der alles auf den Kopf stellen würde.
Mir gefiel seine gewagte Diskussion über die Fragen nach dem Glück des Menschen, die von Historikern und anderen nicht gestellt werden, war aber überrascht von seinen zwei Seiten über den „Sinn des Lebens“ (S. 476f.), die mir etwas unredlich erschienen. „Soweit wir das aus rein wissenschaftlicher Sicht beurteilen können, hat das Leben nicht den geringsten Sinn. ... Unser Leben ist nicht Teil eines göttlichen Plans für das gesamte Universum“ (S. 477, kursive Hervorhebung hinzugefügt). Der erste Satz ist in Ordnung – natürlich ist das wahr! Wie sollte es sonst sein? Wissenschaft befasst sich damit, wie Dinge geschehen, es geht nicht um das Warum im Sinne von Bedeutung oder Metaphysik. Es ist absurd, bei den Naturwissenschaften nach Antworten auf Fragen der Metaphysik zu suchen – man findet sie dort nicht. Ebenso gut könnte man im Schwimmbecken nach einem Sandkasten suchen. Profilierte Wissenschaftler wie Sir Martin Rees und John Polkinghorne, die in ihrem Fachgebiet in erster Reihe stehen, haben das erkannt und die Unterscheidung der beiden „Magisteria“ thematisiert. In der Wissenschaft geht es um physikalische Tatsachen, nicht um Sinn; solche Antworten suchen wir in der Philosophie, Geschichte, Religion und Ethik. Hararis zweiter Satz ist ein non sequitur – ein Schluss, den man nicht aus der Prämisse folgern kann. Gottes „kosmischer Plan“ könnte durchaus darin bestehen, das Universum, das er geschaffen hat, dafür zu verwenden, um sowohl auf der Erde als auch darüber hinaus (in Zeit und Ewigkeit) Wesen zu erschaffen, die über unsere kühnsten Träume hinaus herrlich sind. Ich denke sogar, er hat das schon gemacht – wenn ich bedenke, was der Sapiens erreicht hat.
Ein seltsam ermutigendes Ende
Ich fand die allerletzte Seite des Buches merkwürdig ermutigend:
„Wir haben größere Macht als je zuvor ... Schlimmer noch, die Menschheit scheint verantwortungsloser denn je. Wir sind Self-made-Götter, die nur noch den Gesetzen der Physik gehorchen und niemandem Rechenschaft schuldig sind“ (S. 507)
Genau! Daher wäre es Zeit für eine Veränderung. Es ist besser, in einer Welt zu leben, in der wir Rechenschaft zu geben haben – einem gerechten und liebenden Gott.
Harari ist ein brillanter Autor, aber er folgt einer sehr klaren Agenda. Auf seinem eigenen Gebiet ist er ausgezeichnet, aber er wirft sein Netz zu weit aus, so dass ein Teil der Maschen reißt – so dass irritierende Fremdkörper kommen und gehen – und das Wasser sich trübt. Aufgrund seines Versäumnisses, in Bereichen außerhalb seines eigenen Fachgebiets klar und objektiv zu denken, werden sich informierte Christen von seinen Ausführungen nicht beeindrucken lassen.
Buch
Yuval Noah Harari. Eine kurze Geschichte der Menschheit. München: Pantheon, 2015. 528 Seiten. 14,99 Euro.