In Vergessenheit geratene Lehren zu Abendmahl und Predigt

Artikel von Chris Castaldo
11. Juni 2020 — 10 Min Lesedauer

Francis Chans Predigt zum Abendmahl und der Notwendigkeit christlicher Einheit am Tisch des Herrn hat wie eine theologische Bombe eingeschlagen. Diese Sicht der Eucharistie bzw. des Abendmahls basiert weitgehend auf einer bestimmten Lesart der Kirchengeschichte, deren Darstellung des Abendmahls, der Reformation und Jahrhunderte alter katholischer Glaubenspraxis viele römisch-katholische Christen zustimmen könnten.

Im Folgenden will ich eine hoffentlich friedvolle Antwort darauf geben, in der ich erkläre, dass es notwendig ist, christliche Lehren aus der Kirchengeschichte wieder aufzugreifen, dass die Predigt berechtigterweise im Zentrum des Gottesdienstes steht und welche Bedeutung die Gegenwart Christi beim Abendmahl hat.

Das Abendmahl als Zentrum des Gottesdienstes?

In seiner Predigt sagt Chan: „Ich wusste nicht, dass das Abendmahl in den ersten 1500 Jahren der Kirchengeschichte von jedem buchstäblich als Leib und Blut Jesu verstanden wurden. Erst vor 500 Jahren hat jemand angefangen, die Idee zu verbreiten, dass es sich dabei nur um ein Symbol handelt und weiter nichts.“

„Ist es angemessen, einen Keil zwischen Predigt und Abendmahl zu treiben? Und: Bestand in der Kirche vor der Reformation tatsächlich ein Band der Einheit durch das Abendmahl?“

 

Diese Lesart stellt die Reformation des 16. Jahrhunderts als Bowlingkugel dar, die zwischen den Kirchen durchfegt, die kirchliche Einheit schließlich zerstört und zu einer Vielzahl von Denominationen führt. Sie legt nahe, dass die Fragmentierung damit begann, dass die Reformatoren das Abendmahl um der Predigt willen aus dem Zentrum des Gottesdienstes rückten. Mit anderen Worten: Der sakramentale Leib Christi – nicht der Verkündiger oder die Predigt – ist das angemessene Zentrum des Gottesdienstens und der zentrale Punkt, durch den Kirchen wieder zusammengebracht werden können. Allerdings stellen sich bei dieser Sichtweise zwei wichtige Fragen: Ist es angemessen, einen Keil zwischen Predigt und Abendmahl zu treiben? Und: Bestand in der Kirche vor der Reformation tatsächlich ein Band der Einheit durch das Abendmahl?

In Bezug auf die Predigt stellt G. R. Evans, Professorin für die Theologie des Mittelalters in Cambridge, in ihrem Buch Roots of the Reformation fest, dass Kirchenbischöfe bis zum Ende des Römischen Reiches das Predigen der Bibel als eine ihrer entscheidenden Pflichten betrachteten. Augustinus von Hippo, Johannes Chrysostomos und Gregor der Große hatten regelmäßig ausgedehnte Predigtreihen durch die Bücher der Bibel (lat. lectio continua) und damit ausführliche Predigten, die Exegese und Homiletik verbanden. Die Verkündigung des geschriebenen Worten Gottes und die Feier des Abendmahls als das „sichtbare Wort“ gingen Hand in Hand.

In den Jahrhunderten nach dem Zerfall des Römischen Reiches, in denen Leiter der Kirche mit neuen zivilen und politischen Anforderungen konfrontiert wurden, erlebte die Kirche einen Niedergang der Predigt. Diese Fehlentwicklung hielt über einen langen Zeitraum des Mittelalters an. Der Leerraum bestand bis ins 10. Jahrhundert, als Anselm von Canterbury sich durch seine Initiativen zur Ausbildung von Predigern der Bibel gegen die Ignoranz der geistlichen Elite wandte.

„Anzunehmen, dass eine Betonung der Predigt zu Verwirrung und Uneinigkeit führt, ist historisch betrachtet ein Fehlschluss.“

 

Diese erfreuliche Schwerpunktsetzung hielt bis in die Dienstjahre Bernhards von Clairvaux im frühen 12. Jahrhundert. Evans schreibt: „Bernhards Gedanken waren so von der Bibel erfüllt, dass er scheinbar keinen Satz schreiben konnte, ohne aus ihr zu zitieren oder sich auf sie zu beziehen.“ Um den Wellen an Irrlehren zu begegnen, die durch die vielen Jahre lehrmäßiger Ignoranz entstanden waren, kam es in den folgenden Jahrzehnten zu einer weit verbreiteten Erneuerung des Predigtdienstes in den Orden der Dominikaner und Franziskaner. Es ist kein Zufall, dass etwa Dominikaner bis heute mit den Buchstaben OP („Orden der Prediger“) gekennzeichnet werden. Kurz: Anzunehmen, dass eine Betonung der Predigt zu Verwirrung und Uneinigkeit führt, ist historisch betrachtet ein Fehlschluss.

Ebenso problematisch ist die Idee, dass die vorreformatorische Kirche eine tiefe Einheit und Verbundenheit durch das Abendmahl genoß. Das angeblich „universale“ Verständnis des Abendmahls, wovon Protestanten sich abgrenzen, wurde erst mit dem vierten Laterankonzil im Jahre 1215 zur offiziellen Lehre der katholischen Kirche. Außerdem empfingen die meisten westlichen Christen zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Eucharistie nur einmal im Jahr. Christen verherrlichten den Leib und das Blut Christi meistens aus der Ferne. Dazu beugten sie sich zur Anbetung entweder vor der geweihten Hostie während diese an Fronleichnam in einer Prozession durch die Straßen getragen wurde oder vor einer Monstranz, einem Gefäß, das zum Transport der Hostie genutzt wurde.

Die meisten Messen kurz vor der Reformation wurden privat für die Toten gefeiert. Wenn Laien daran teilnahmen, so empfingen sie nur das Brot ohne den Wein. Meistens starrten katholische Laien den Leib Christi nur aus der Ferne an. Dieses Verständnis des Abendmahls war weit von der innigen Gemeinschaft der frühen Kirche entfernt, in der Christus sein Volk dazu einlud, ihm und einander nahezukommen.

Die Transsubstantiationslehre der Römisch-Katholischen Kirche, bei der behauptet wird, dass Brot und Wein buchstäblich in den Leib und das Blut Christi verwandelt werden, und die damit verbundene Praxis stellte die Vermittlung durch Priester in den Vordergrund. Priestern wurde die Kraft zugeschrieben, Christus in der Messe zu vergegenwärtigen. Im Höhepunkt der Messe, in dem Brot bei läutenden Glocken geweiht wurde, schauten Kirchgänger auf die erhöhte Hostie (lat. hostia = „Opfer“), während der Priester die Worte der Einsetzung sprach: hoc est corpus meum (lat. „Dies ist mein Leib“. Von diesem Satz stammt der Ausdruck „Hokuspokus“, was für etwas Magisches oder Übernatürliches steht). Die Reformatoren sahen durch diesen Prunk eine Verschleierung der persönlichen Bedeutung des Abendmahls und eine religiöse Show, die die Schrift verunglimpfte und Gott von seinem Volk trennte.

Das Abendmahl in der Reformationszeit

Im Gegensatz dazu bringt die Eucharistie nach Martin Luther die Gemeinschaft der Heiligen als Teilhaber an Christi geistlichem Leib zum Ausdruck: „Dieses Sakrament in Brot und Wein empfangen bedeutet nichts anderes, als ein gewisses Zeichen dieser Gemeinschaft und leibliche Verbindung mit Christus und allen Heiligen empfangen“. 1526 brachte Luther seinen Wunsch zum Ausdruck, dass der Diener Gottes sich der Gemeinde mit dem Gesicht zuwendet (und sich nicht abwendet, wie es in der Katholischen Kirche üblich war), so wie Christus es wahrscheinlich während dem letzten Abendmahl tat. Luther schloss mit einer Aufforderung, die Verheißungen, die Gott in diesem heiligen Mahl gibt, anzunehmen, nämlich dass Christus uns tatsächlich seinen Leib und sein Blut als Unterpfand der Vergebung und des göttlichen Wohlgefallens gibt. Dabei war Luther klar in Bezug auf die Zentralität des Wortes Gottes: „Wir können auf alles verzichten, außer auf das Wort.“ Außerdem betonte er die reale und leibliche Gegenwart Christi im Sakrament.

Im Unterschied zu Luther entwickelte sich in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts das Verständnis des Abendmahls als Gedächtnisfeier. Luthers Weggefährte, Andreas Bodenstein von Karlstadt, veröffentlichte mehrere Traktate zur Eucharistie, in denen er die leibliche Gegenwart Christi ablehnte und stattdessen den Akt der Erinnerung betonte. Die Worte Jesu („Dies ist mein Leib“) verstand er als Verweis auf Jesu eigenen Leib und nicht auf das Brot.

1525 behauptete Huldrych Zwingli, dass das „ist“ in „Dies ist mein Leib“ als „bringt zum Ausdruck“ aufgefasst werden kann. Über mehrere Monate entwickelte er diese Interpretation und betonte dabei die symbolische Bedeutung der Elemente und die Aufforderung an den Gläubigen zur Dankbarkeit in Erinnerung an Christi Leiden. In Zwinglis eigenen Worten: „Wir verstehen also jetzt aus dem Namen selbst die Bedeutung der Eucharistie, das heißt: des Abendmahls. Es ist eine Danksagung, eine gemeinsame Freudenkundgebung derer, die Christi Tod verkünden“.

Es sollte hinzugefügt werden, dass diese Sichtweise auch historisch bezeugt ist. Vorgänger wie etwa Ratramnus († 868) fochten die Vorstellung an, dass der leiblich gegenwärtige Jesus im Abendmahl verzehrt wird. Er behauptete, dass wir die Gegenwart des Herrn durch den Heiligen Geist erleben, da Jesus in den Himmel aufgefahren ist. Wie Karlstadt und Zwingli hielt Ratramnus daran fest, dass das Abendmahl eine geistliche Anteilnahme und eine Erinnerung an den sieghaften Tod des Retters bedeutet.

Für Luther würdigte das Gedächtnismahl aber die tatsächliche Selbstmitteilung Gottes zu einer geistlich-psychischen Aktivität des Gläubigen herab und enteignete das Sakrament seiner Bedeutung – und enteignete es somit Christi selbst. So wurde das Evangelium, nach Luther, zunichte gemacht und in persönlichem Glauben und persönlicher Praxis gegründet. Luther verstand dies als eine nach innen gewandte Bewegung, die gerade die Ängste wieder erzeugte, welche durch die Reformation beseitigt werden sollten. Im Blick auf diese Bedenken beschrieb auch Calvin Zwinglis frühe Lehren zu diesem Thema als „profan“.

Eine Mittelposition

Letztlich kam es aber zu einem Mittelweg. Lehrer wie Martin Bucer, Johannes Calvin, Peter Martyr Vermigli und Thomas Cranmer versuchten, eine vermittelnde Position zwischen Zwingli und Luther einzunehmen. An Zwingli kritisierten sie eine fehlende Wertschätzung der geistlichen Bedeutung des sakramentalen Zeichens, während sie an Luther bemängelten, dass er dieses Zeichen überbetonte und damit das dahinterliegende Geheimnis untergrub. Mit Ersterem kamen sie überein, dass Christus zur Rechten Hand Gottes sitzt und nicht als „in“ oder „mit“ dem sakramentalen Mahl erachtet werden sollte. Allerdings stimmten sie Letzterem darin zu, dass die Elemente nicht bedeutungslose Symbole sind, sondern ein Mittel zur echten Anteilnahme an Christus.

Nach Calvin sollten die Gläubigen „annehmen und gewisslich überzeugt sein, dass die Wahrheit der Sache, die zum Ausdruck gebracht wird, auch gegenwärtig ist“. In anderen Worten ist also Christus, wenn auch nach dem Leib abwesend, dennoch gegenwärtig durch den Heiligen Geist. Diese Gegenwart vermittelt die Kraft und Wirksamkeit des Retters durch das Brot und den Wein – die sichtbaren Worte des Sakraments.

Diese reformierte Auffassung des Abendmahls ist viel mehr als bloß eine Gedächtnisfeier, bei welcher die Gläubigen sich fromme Gedanken über einen abwesenden Christus machen. Auch wenn wir nicht an die leibliche Gegenwart des Leibes und Blutes Christi in den Elementen glauben, so haben wir als Brüder und Schwestern im heiligen Mahl doch wahrhaftige Anteilnahme an seinem Leib und Blut, indem wir den Geist durch Glauben empfangen und eine tiefere Gemeinschaft mit Christi Leib erlangen.

Auf den Schultern unserer Vorväter stehen

„Der reformierte Glaube bekennt, ohne sich dafür zu entschuldigen, dass die biblische Predigt nicht der Feind wahren christlichen Glaubens oder christlicher Einheit ist.“

 

Im Gegensatz zu dem, was manche behaupten, bezeugt der reformierte Glaube (und in der Tat alle rechtgläubigen Christen), dass das Abendmahl wahre geistliche Bedeutung hat. Der reformierte Glaube bekennt, ohne sich dafür zu entschuldigen, dass die biblische Predigt nicht der Feind wahren christlichen Glaubens oder christlicher Einheit ist. Substanzielle Predigten gehören in die Mitte des christlichen Gottesdienstes; durch die wöchentliche Verkündigung wird die Gemeinde immer wieder für das Wachstum im neuen Leben zugerüstet.

Die wichtigere Lektion ist hier vermutlich, wie unerlässlich das christliche Denken aus früheren Jahrhunderten und damit ein historisches Bewusstsein der ganzen Kirchengeschichte ist. Es befähigt uns, vorschnelle und vereinfachte Schlüsse aufzudecken. In anderen Worten: Wir müssen auf den Schultern unserer Vorväter in Christus stehen, die schon vor uns durch viele unserer heutigen Probleme gegangen sind. Generationen von Gläubigen haben von ihrem Denken profitiert und wir vernachlässigen sie zu unserem eigenen Nachteil. Wenn wir der Berufung Christi in unserer Zeit treu sein wollen, dann ist diese Aufmerksamkeit gegenüber der Vergangenheit von essenzieller Bedeutung.