Die gewöhnliche christliche Familie

Was ist das eigentlich?

Artikel von Tedd Tripp
9. Juni 2020 — 9 Min Lesedauer

Einer meiner erwachsenen Söhne sagte neulich zu mir, die traditionelle Familie sei Schnee von gestern. Ich verstehe, was er meint. Die gewöhnliche christliche Familie ist fast ausgestorben. Die Gegenwartskultur definiert Familie neu. Ob nun die homosexuelle Ehe, eine Bandbreite von kreativen Wohngemeinschaften oder der Druck, Polygamie zu akzeptieren, sie alle greifen einträchtig die christliche Familie an. Die Auffassung, dass Eltern – deren Liebe Kinder hervorgebracht hat – als Ehepaar zusammenleben und sich dabei gemeinsam der Aufgabe widmen, ihren Kindern ein gottesfürchtiges Heim und Stabilität zu bieten, ist als kulturelles Ideal fast verschwunden.

Die gewöhnliche christliche Familie besteht einfach aus gewöhnlichen Christen, die in gewöhnlichen Lebensumständen aus der außergewöhnlichen Gnade des Evangeliums leben. Und das sind nicht nur Familien mit beiden Elternteilen. Es gibt unzählige alleinerziehende Elternteile, die Gott in ihren Familien ehren und viele Großeltern, die tapfer ihre Enkel großziehen. Ich habe eine Schwiegertochter, die mit einer Mutter gesegnet war, die als Alleinerziehende drei Kinder großgezogen hat, welche sich nun als christliche Erwachsene um ihre eigenen Kinder kümmern. Diese Mutter erinnerte ihre Kinder immer wieder an die biblischen Normen für eine Familie: „Wenn du einen Vater hättest, würde er das jetzt tun, aber so muss ich es tun.“ Obwohl es keinen Ehemann gab, lehrte sie ihre Kinder, die Rolle eines Ehemanns und Vaters in der Familie zu verstehen.

Familiendynamiken

Epheser 5 beschreibt die gewöhnliche christliche Familie: Ehemänner sind dazu berufen, liebende Leitung auszuüben. In 1. Thessalonicher 2 gebraucht Paulus Vaterschaft als eine Metapher für seinen pastoralen Dienst. Er erinnert die Thessalonicher an seine Mühen und Schwierigkeiten, wie er tagsüber gepredigt und nachts gearbeitet hat, um ihnen nicht zur Last zu fallen. Daran wird sehr schön sichtbar, was gottesfürchtige Leitung ist. Paulus brachte sein Leben als ein lebendiges Opfer dar. Gottesfürchtige Leitung besteht nicht darin, andere zu unterdrücken. Gottesfürchtige Autorität äußert sich im Dienst am anderen, indem man sein Leben als ein lebendiges Opfer darbringt.

Epheser 5 bietet ein ebenso stringentes Bild der Ehefrau. Ebenso, wie sich die Gemeinde Christus unterordnet, lebt die Ehefrau unter der Leitung ihres Ehemannes. Sie hilft ihm dabei, ein erfolgreicher Leiter der Familie zu sein. Es ist keine leichte Sache, das eigene Leben der Leitung eines anderen anzuvertrauen, aber laut Epheser 5 ist das die gewöhnliche Berufung für eine Ehefrau. Letztendlich vertraut sich die Ehefrau Gott an und rechnet damit, dass Gott sie segnet, während sie unter der Autorität ihres Mannes lebt.

Gleichermaßen verheißt Gott in Epheser 6, dass es dem Kind gut gehen wird, das seine Eltern ehrt und ihnen gehorcht. Weise Eltern lehren die Notwendigkeit des Gehorsams auf einladende Weise. Sie ermutigen ihre Kinder, indem sie ihnen erklären, dass sie deshalb gehorchen sollen, weil Gott den Eltern Autorität gegeben hat. Gehorsam geschieht nicht wegen der Ansprüche der Eltern, sondern weil es der Wille Gottes für Kinder ist. Im Kontext des Gehorsams geht es den Kindern gut. Gott segnet ihren Gehorsam.

Es ist wunderbar, wenn Kinder und Jugendliche die Wahrheit annehmen, dass Gottes Wege gut sind. Zu meiner Freude durfte ich Enkelinnen und Enkel sehen – ganz gewöhnliche Kinder und Jugendliche –, die ihre Eltern gern haben und die es bereitwillig annehmen, in ihnen Autoritäten zu haben, die sie genug lieben, um ihnen weise Grenzen zu setzen.

So wie neulich bei einem Gespräch an unserem Küchentisch:

Jugendlicher: „Papa, darf ich ein bisschen Kaffee haben?“

Papa: „Natürlich.“

Kind: „Darf ich auch?“

Papa: „Nein, mein Sohn. Ich denke nicht.“

Kind: „Das ist nicht fair; er darf Kaffee haben.“

Papa: „Mein Junge, ich muss nicht fair sein; ich muss weise sein.“

Es waren nur wenige Worte, eine Momentaufnahme. Worüber ich mich dabei freute, war, dass der jüngere Bruder die Entscheidung des Vaters akzeptierte, ohne sich darüber zu beschweren. Er hatte gelernt, die Autorität seines Vaters freudig zu akzeptieren. Eines Tages wird auch er eine freundliche und weise Autorität sein.

Wenn die Beziehungsdynamiken entsprechend der biblischen Ordnung ausgerichtet sind, gibt es drei Berufungen für die Familie: Die Familie ist eine Schule der Theologie, eine Schule sozialer Beziehungen und eine Schule, in der man das Evangelium verstehen lernt.

Eine Schule der Theologie

Gottes Berufung für ein gewöhnliches Leben wird in den zwei Tafeln des Gesetzes zusammengefasst: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft! Dies ist das erste Gebot. Und das zweite ist ihm vergleichbar, nämlich dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Größer als diese ist kein anderes Gebot“ (Mk 12,30–31). Gott zu lieben und den Nächsten zu lieben ist eine gute Beschreibung dessen, was in einer gewöhnlichen christlichen Familie geschieht.

„Wenn Eltern ihren Kindern Gottes Herrlichkeit zeigen wollen, müssen sie selbst von Gott fasziniert sein.“

 

Die Familie als eine Schule der Theologie betrifft die erste Tafel des Gesetzes. Als Familie staunt man gemeinsam darüber, wer Gott ist. Kinder erlangen dadurch ein tiefes Bewusstsein für die Herrlichkeit Gottes. Der Psalmist drückt es so aus: „Ein Geschlecht rühme dem andern deine Werke und verkündige deine mächtigen Taten!“ (Ps 145,4). Wie sieht das aus? Worüber redet man, wenn man als eine Generation gegenüber der nächsten Gott rühmt? Psalm 145 sagt es uns. Es bedeutet, über den herrlichen Glanz der Majestät Gottes nachzusinnen; über seine ehrfurchteinflößenden Taten zu reden; seine Größe zu verkünden; das Lob seiner großen Güte reichlich fließen zu lassen; jubelnd seine Gerechtigkeit zu besingen; von der Herrlichkeit seines Reiches zu reden; seine Freundlichkeit bewusst zu machen; seinen Ruhm zu verkünden (Ps 145,4–20). Liebe zu Gott wird entfacht, wenn wir über seine Herrlichkeit und Güte nachsinnen. Kinder können nicht dazu gebracht werden, sich in einem konzeptuellen Vakuum an Gott zu erfreuen. Wenn Eltern ihren Kindern Gottes Herrlichkeit zeigen wollen, müssen sie selbst von Gott fasziniert sein. Die Familie ist eine Schule der Theologie.

Eine Schule sozialer Beziehungen

Andere zu lieben ist das Thema der zweiten Tafel des Gesetzes. Das hat auch mit der Familie zu tun. Das Familienleben bietet wunderbare Möglichkeiten, anderen die Liebe Christi zu zeigen. Warum? Weil das Familienleben die größten Anlässe für Beziehungskonflikte liefert. Jakobus 4 spricht soziale Konflikte mit treffenden Fragen an: „Woher kommen die Kämpfe und die Streitigkeiten unter euch? Kommen sie nicht von den Lüsten, die in euren Gliedern streiten?“ (Jak 4,1). Typischerweise suchen wir außerhalb von uns selbst nach dem Grund für Konflikte – „Er macht mich so wütend ...“; „Sie hat über meine Fehler gelacht ...“ Jakobus dreht den Spieß um. Er sagt, dass die Lüste, die in unseren Herzen streiten, der Auslöser für Beziehungskonflikte sind.

Unsere Leidenschaften und Sehnsüchte produzieren Konflikte. Die Familie ist der Ort, wo wir diese Sehnsüchte erkennen, die in uns streiten und uns in Konflikt mit anderen bringen. Sie ist der Ort, wo uns die Hässlichkeit der Selbstliebe vor Augen geführt wird. Das Familienleben bietet die Möglichkeit, die kostbare Fähigkeit der aufopfernden Liebe für andere zu erlernen. Es ist ein ausgezeichneter Rahmen, um wirklich nach dem Wohl der anderen zu streben.

Familienkonflikte sind keine unnötigen Unterbrechungen im Leben. Sie sind ein wesentlicher Teil, der uns lehrt, wie man in Liebe lebt. Die Familie ist ein Ort der Liebe zueinander.

Eine Schule des Evangeliums

„Wir versuchen, in Liebe zusammenzuleben, und doch kommen Konflikte auf – das zeigt uns, wie nötig wir die Gnade des Evangeliums haben.“

 

Schließlich ist die Familie auch eine Schule des Evangeliums; ein Ort, an dem man die Gnade des Evangeliums ausleben kann. Wir versuchen, in Liebe zusammenzuleben, und doch kommen Konflikte auf – das zeigt uns, wie nötig wir die Gnade des Evangeliums haben. Wir können Gott und andere nicht ohne Gnade lieben. Christus lebte als Mensch ohne Sünde, um uns eine Gerechtigkeit zu schenken, die wir auf keine andere Weise bekommen können. Er starb, um die Schuld für unsere Sünde zu bezahlen und den Ansprüchen des Gesetzes Gottes zu entsprechen. Selbst jetzt tritt er für uns ein, damit wir seine Gnade erfahren und damit wir als Menschen leben, die Vergebung erlebt haben und diese Vergebung nun anderen widerfahren lassen können.

Die gewöhnliche christliche Familie ist kein vollkommener Ort. Wir sündigen und gegen uns wird gesündigt. Unsere Kinder sündigen und gegen sie wird gesündigt. Wir stehen in der Versuchung, Konflikte mithilfe menschlicher Weisheit zu regeln, aber wir verpassen dann den Nutzen, den wir aus unseren Konflikten ziehen könnten, weil wir sie ohne Bezug auf das Evangelium lösen wollen. Die unvermeidlichen Konflikte im Familienleben bieten ausgezeichnete Möglichkeiten, um gegeneinander freundlich und barmherzig zu sein und einander zu vergeben, gleichwie auch Gott uns vergeben hat in Christus (vgl. Eph 4,32).

Eltern, die verstehen, dass auch sie Sünder sind, die von ihren Leidenschaften und Sehnsüchten bestimmt werden, können mit ihren Kindern mitfühlen, wenn diese sündigen. Ein Elternteil, der sowohl das Problem der Sünde als auch die Gnade und Kraft des Evangeliums versteht, ist in der Lage, seine Kinder zu verstehen und ihnen wirklich zu helfen. Die Erfahrung, dass man ein Sünder ist, der Gnade gefunden hat, befähigt Eltern, ihren Kindern die Kraft und die Gnade des Evangeliums zu bringen.

Das christliche Ideal sind Familien, in denen die Menschen Gott lieben, ihn ehren und in ihrem Zusammenleben gemeinsam in der Gnade wachsen. Aber christliche Familien – die Gott und andere lieben – existieren nicht als Abstrakt. Sie sind keine Idee in der Welt der Theorien. Gewöhnliche christliche Familien existieren nur als wirkliche Menschen aus Fleisch und Blut, die ihr Leben als ein lebendiges Opfer darbringen. Solche Familien sind mächtige Zeugnisse für die Wahrheit und die Schönheit des christlichen Glaubens.