Wie man seine Geistesgaben (nicht) erkennt

Artikel von Thomas R. Schreiner
3. Juni 2020 — 5 Min Lesedauer

Ist es wichtig, deine Geistesgaben zu kennen? Oder ist das Interesse daran ein Beweis für den für unsere Kultur so charakteristischen Narzissmus?

Vielleicht können wir das Erkennen unserer Geistesgaben mit dem derzeitigen Interesse an Persönlichkeitstests und Typenlehren wie dem Enneagramm vergleichen. Das Enneagramm untersucht neun unterschiedliche Persönlichkeitstypen und hat einiges Aufsehen in evangelikalen Kreisen erregt. Kevin DeYoung warnt zu Recht vor den Gefahren des Enneagramms, indem er aufzeigt, dass es der Schrift in vielerlei Hinsicht fremd ist. Russell Moore stimmt DeYoung im Wesentlichen darin zu, dass das Enneagramm, restlos angenommen, nicht hilfreich ist, denkt aber, dass es als Werkzeug benutzt werden kann, um sowohl seine potenziellen Stärken und Schwächen als auch die motivierenden Wünsche und Neigungen anderer zu erkennen und zu verstehen.

Ich denke, wir können etwas Ähnliches über den Prozess des Erkennens von Geistesgaben sagen.

Geistesgaben-Tests?

In den vergangenen Jahren waren Bestandsaufnahmen und Fragebögen zu Geistesgaben sehr beliebt, um Gläubigen beim Erkennen ihrer Geistesgaben zu helfen. Das wesentliche Problem dieser Werkzeuge ist ihre Abstraktion; wir können diese Tests nehmen und versuchen, unsere Gaben zu erkennen, ohne in das Leben einer lokalen Gemeinde eingebunden zu sein. So eingesetzt, sind Bestandsaufnahmen zu Geistesgaben künstlich und sogar irreführend.

Sie sind künstlich, weil wir in Absonderung von anderen nicht erkennen (können), wie Gott uns begabt hat. Gaben können nicht wie DNA im Labor aufgespürt werden. Die Fragebögen sind auch irreführend, weil die Tests selbst, auch wenn sie in mancherlei Hinsicht hilfreich sind, natürlich unvollständig und fehlerhaft bleiben. Mit anderen Worten, die Bestandsaufnahmen werden von Menschen erstellt, die ihre eigenen Wahrnehmungsverzerrungen und vorgefassten Meinungen haben, und auf diese Weise kommen Gläubige nach einer solchen Bestandsaufnahme und denken, dass sie eine bestimmte Gabe haben, obwohl das nicht der Fall ist. Andererseits denken sie möglicherweise, dass sie nach der Bestandsaufnahme eine Gabe nicht haben, obwohl sie sie haben.

Entdeckung durchs Gemeindeleben

„Falls du dich also in das Leben anderer in deiner Gemeinde einbringst und liebst, wie Jesus es befahl, dann wirst du deine Gabe entdecken.“

 

Der beste Weg deine Gabe zu entdecken, ist also nicht, indem du einen Test machst. Solche Instrumente gab es in der Frühkirche nicht, aber die Leute entdeckten und nutzten ihre Gaben sehr gut! Falls du dich also in das Leben anderer in deiner Gemeinde einbringst und liebst, wie Jesus es befahl, dann wirst du deine Gabe entdecken.

Manche könnten vielleicht sagen, dass sie ihre Gabe immer noch nicht kennen. Aber deine Geistesgabe zu kennen ist nicht so wichtig wie sie auszuüben. Mit Sicherheit kannten viele Gläubige der Kirchengeschichte ihre Geistesgaben nicht oder dachten nicht viel darüber nach, aber trotzdem übten sie diese Gaben auf kraftvolle Weise aus. Wenn du nicht sicher bist, welches deine Geistesgaben sind, würde ich mir keine Gedanken darüber machen. Wenn du dich selbst anderen Gläubigen in der Gemeinde hingibst, wirst du unvermeidlich deine Gaben nutzen.

„Wenn du nicht sicher bist, welches deine Geistesgaben sind, würde ich mir keine Gedanken darüber machen. Wenn du dich selbst anderen Gläubigen in der Gemeinde hingibst, wirst du unvermeidlich deine Gaben nutzen.“

 

All das bringt uns zurück zum Thema Geistesgaben-Tests. Wenn du in das Leben einer Gemeinde involviert bist und so einen Test machst, kann sich das als hilfreich herausstellen. Manchmal sehen wir uns selbst nicht klar, und andere Gläubige und Ressourcen können uns dabei helfen zu erkennen, wo wir begabt sind. Solche Werkzeuge können natürlich auf narzisstische und egozentrische Weise gebraucht werden, aber es ist auch wahr, dass ein besseres Verständnis von uns selbst uns helfen kann, wirksamere Diener zu werden.

Kenne dich selbst

Die Wichtigkeit der Selbsterkenntnis zeigt uns Römer 12,3 klar auf:

„Denn ich sage kraft der Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass er nicht höher von sich denke, als sich zu denken gebührt, sondern dass er auf Bescheidenheit bedacht sei, wie Gott jedem Einzelnen das Maß des Glaubens zugeteilt hat.“

Paulus warnt uns hier, dass wir weder eine aufgeblasene Sicht von uns haben noch uns selbst schlechtmachen sollten, sondern dass wir uns selbst richtig kennen und einschätzen sollten. Wir wissen, dass in Bezug auf Geistesgaben Fehler in beiden Richtungen gemacht werden können. Manche sagen vielleicht, dass ihre Gaben nicht wichtig sind und im Leib nicht gebraucht werden (vgl. 1 Kor 12,15–16). Andere sagen vielleicht, dass sie die anderen Gaben und Mitglieder des Leibes nicht brauchen (vgl. 1 Kor 12,21). Aber jedes Mitglied wird gebraucht, jedes Mitglied spielt eine wichtige Rolle, jedes Mitglied ist bedeutungsvoll.

Wenn wir uns manche der Geistesgaben anschauen, wird klar, dass es hilfreich (wenn nicht unverzichtbar) ist, unsere Gaben zu kennen. Paulus sagt zum Beispiel, dass diejenigen mit der Gabe des Dienens sich auf das Dienen konzentrieren sollten, diejenigen mit der Gabe des Lehrens auf das Lehren und diejenigen mit der Gabe des Ermahnens auf das Ermahnen (vgl. Röm 12,7–8). Wenn du weißt, dass Ermahnen deine Gabe ist, kannst du deine Energie bündeln. Das heißt natürlich nicht, dass du nicht dienst oder evangelisierst oder Seelsorge betreibst. Wir sollten das, was Paulus sagt, nicht in eine Entschuldigung zur Selbstsucht verdrehen. Trotzdem, das Leben ist kurz und wir sollten uns auf unsere Stärken konzentrieren, denn damit erbauen wir die Gemeinde.

Unsere Stärken und Gaben zu kennen hilft uns, uns darauf zu fokussieren, wie wir anderen Gläubigen am besten nützlich sein können. Wenn du deine Gabe noch nicht kennst, mach dir keine Sorgen. Mit der Zeit wird es dir klar werden und andere Gläubige zu fragen kann dir dabei hilfreich sein, deine Gabe zu erkennen. Wir sind oft in großer Eile, unsere Gaben zu erkennen, aber Gott ist es nicht. Er hat eine Absicht und einen Plan, um dich im Leben deiner Gemeinde zu gebrauchen, und es wird dir klar werden, wenn du ihm und anderen dienst.

Thomas R. Schreiner ist Professor für Neues Testament und stellvertretender Dekan für Bibelauslegung am Southern Baptist Theological Seminary in Kentucky (USA). Man kann ihm auf Twitter folgen.