Johannes 3,5: Was bedeutet „aus Wasser und Geist geboren“?

Artikel von D.A. Carson
28. Mai 2020 — 8 Min Lesedauer

Das ist eine wichtige Frage, denn diese Formulierung steht im Zentrum von Jesu Erklärung, was „von Neuem geboren werden“ bedeutet – es geht um die Wiedergeburt. Als Jesus diesen Begriff zum ersten Mal verwendet (Joh 3,3), versteht Nikodemus offensichtlich nicht, was Jesus damit meint (Joh 3,4): „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?“, fragt er. „Er kann doch nicht zum zweiten Mal in den Schoß seiner Mutter eingehen und geboren werden?“

Viele sind der Meinung, diese Rückfrage zeige, wie begriffsstutzig – weil völlig auf die wörtliche Bedeutung fixiert – Nikodemus doch ist. Doch das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein zu hartes Urteil. Man wird nicht „Lehrer Israels“ genannt (Joh 3,10; möglicherweise war das ein Titel), wenn man nicht in der Lage ist, die seltsame Metapher zu entschlüsseln. Nikodemus hörte Jesu Worte, dass man „von Neuem geboren“ werden muss, um in das Reich Gottes zu kommen. Ich vermute, dass er Jesus so verstand, dass wir nicht gut genug sind, um in das Reich Gottes zu kommen – wir brauchen einen Neuanfang, eine andere Abstammung, müssen aus einem anderen Leben hervorgehen. Doch Nikodemus ist der Meinung, dass Jesus hier zu weit geht: Menschen können nicht einfach nochmal von vorne beginnen oder einen Anspruch auf ein neues Leben erheben, sich gar etwas auf eine Neugeburt einbilden oder sich darüber freuen, einen neuen Anfang zu bekommen. Omar Chayyam hatte schon Recht: „Des Ew’gen Finger schreibt der Menschen Schicksalsbuch; Fruchtlos, ihr Frommen, ist, ihr Weisen, eu’r Versuch, Daß ihr nur einen Spruch, auch nur ein Wort von denen, Die er geschrieben hat, auslöscht mit euren Tränen.“1

Die meisten von uns haben schon Momente erlebt, in denen wir uns einen Neuanfang gewünscht hätten oder zumindest, einige unserer schlimmsten Sünden und Fehler auslöschen zu können. Alfred Lord Tennyson schrieb: „Ach, dass in mir ein Mensch erstünde / So dass der, der ich bin, nicht länger sei!“ Oder wie John Clare sagte: „Wenn es eine zweite Auflage des Lebens gäbe, wie viel würde ich in den Korrekturabzügen verbessern!“ Nikodemus ist klar, wie zwecklos es ist, einen Neuanfang zu verlangen; es ist einfach ein bisschen spät dafür, einen Neuanfang zu fordern, wenn wir uns auf dem bisherigen Weg schon in einen derartigen Schlamassel manövriert haben (Joh 3,4.9). Wenn es also das ist, was man benötigt, um in das Reich Gottes zu kommen, dann gibt es keine Hoffnung: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?“

Doch Jesus ist weit davon entfernt, hier klein beizugeben, sondern er wiederholt seine Aussage (Joh 3,5) – und zwar dergestalt, dass er „von Neuem geboren“ näher ausführt, indem er es durch „aus Wasser und Geist geboren“ ersetzt. D.h. er beleuchtet etwas genauer, worum es geht. Deshalb ist es so wichtig, zu verstehen, was Jesus mit dieser Formulierung meinte.

Also: Was meint er?

Vorschläge, die nicht überzeugen

Es wurden im Lauf der Zeit verschiedene Möglichkeiten in den Raum gestellt, die sich als eher unbefriedigend erwiesen haben. So vermuteten manche, dass Jesus hier auf zwei Geburten abzielt: Man muss nicht nur die natürliche Geburt erleben („aus Wasser geboren“), sondern auch eine geistliche Geburt („aus [dem] Geist geboren“). Menschen müssen nicht einfach nur geboren, sondern auch „wiedergeboren“ werden. Aber es gibt zwei wesentliche Schwierigkeiten mit dieser Auslegung:

(1) Sie ist allzu banal. Der erste Teil sagt dann nicht mehr, als dass es nötig ist, zu existieren, damit man in das Reich Gottes kommen kann: Du musst geboren worden sein, es muss dich geben. Das bedeutet, dass das ganze Gewicht von Jesu Antwort auf dem zweiten Teil liegt, nämlich „aus [dem] Geist geboren“ – man fragt sich, was der erste Teil („aus Wasser geboren“) überhaupt zu Jesu Erklärung beiträgt.

(2) Es ist mir nicht gelungen, irgendeine Quelle zu finden, die belegen würde, dass in der Antike die Wendung „aus Wasser geboren“ als Ausdruck für die natürliche Geburt verwendet wurde. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, dass der Abgang des Fruchtwassers, der einer natürlichen Geburt vorangeht, zu einer solchen Formulierung – „aus Wasser geboren“ – geführt haben kann, aber falls das so ist, dann ist das bisher noch nicht in jüdischen oder griechischen Quellen zutage getreten. Wenn man diese beiden Einwände berücksichtigt, dann erscheint es doch recht fraglich, dass es sich dabei um die wahrscheinlichste Auslegung handelt.

Andere haben das vorgeschlagen, was man eine sakramentale Auslegung nennen könnte: Die neue Geburt, so ihre Vermutung, geschieht in Verbindung mit a) der Taufe (Wasser) und b) dem Geist. Allerdings ist dabei völlig unklar, wie Jesus in diesem Zusammenhang von Nikodemus hätte erwarten können, dass er in dem Wort Wasser eine Anspielung auf die christliche Taufe erkennt. Davon abgesehen betont Johannes schon im nächsten Kapitel die Tatsache, dass Jesus selbst niemanden taufte (Joh 4,2), sondern das seinen Jüngern überließ; zumindest in einem geringen Umfang distanziert er sich hier selbst.

Eine bessere Erklärung

Es gibt eine bessere Vorgehensweise. Stellen wir als einen ersten Schritt Johannes 3,3 und Johannes 3,5 so dar, dass die Parallelen sichtbar werden:

Joh 3,3 Joh 3,5
Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir:
Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird,
so kann er das Reich Gottes nicht sehen! so kann er nicht in das Reich Gottes eingehen!

 

Sofort ist klar, dass „aus Wasser und Geist geboren“ (3,5) parallel zu „von Neuem geboren“ (3,3) steht. Mit anderen Worten: Es kann bei „aus Wasser und Geist geboren“ nicht um zwei Geburten gehen, eine natürliche und eine geistliche; stattdessen bezieht es sich auf eine Geburt, nämlich die gleiche, die Jesus meint, wenn er davon redet, „von Neuem geboren“ zu werden. Daraus folgt, dass es sich bei der Formulierung „aus Wasser und Geist geboren“ um Jesu Erklärung handelt, was er mit „von Neuem geboren“ meint – und zwar als Antwort auf Nikodemus’ Frage.

Als zweites zeigt sich im Folgenden, dass Jesus offensichtlich meint, seine Erklärung müsste für Nikodemus genügen. Tatsächlich rügt Jesus Nikodemus sogar dafür, dass er es als „Lehrer Israels“ nicht versteht (Joh 3,9–10). Als gelehrter Pharisäer hatte Nikodemus das, was wir das Alte Testament nennen, gründlich studiert, einschließlich umfangreicher theologischer Erwägungen dazu. Welchen Anknüpfungspunkt gab es in all diesem Wissen, auf den Nikodemus aufgrund von Jesu Worten zurückgreifen sollte, um besser zu verstehen, wovon Jesus hier redete?

Diese Überlegung bringt uns zu einem dritten Punkt, nämlich dem entscheidenden Hinweis. Die Frage, die nun zu klären ist, lautet: Wo im Alten Testament werden „Wasser“ und „Geist“ zusammengebracht, und zwar in einem Kontext, in dem ein Neuanfang verheißen wird? Es gibt verschiedene Möglichkeiten, aber die offensichtlichste ist Hesekiel 36,25–27:

„Und ich will reines Wasser über euch sprengen, und ihr werdet rein sein; von aller eurer Unreinheit und von allen euren Götzen will ich euch reinigen. Und ich will euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres legen; ich will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben; ja, ich will meinen Geist in euer Inneres legen und werde bewirken, dass ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechtsbestimmungen befolgt und tut.“

Gott verheißt also durch den Propheten Hesekiel, sechs Jahrhunderte vor Jesus, dass eine Zeit kommen wird, in der es einen Neuanfang geben wird, durch den Menschen umgewandelt werden. Beschrieben wird das als eine eindrucksvolle Reinigung, die symbolisiert wird durch Wasser, das alle Unreinheiten und Götzen wegwäscht, und durch die kraftvolle Gabe des Geistes, der die Herzen der Menschen verändert. Das ist es, was nötig ist, damit Menschen in das Reich Gottes kommen können.

Es ist also kein Wunder, dass Jesus nochmals wiederholt: „Ihr müsst von Neuem geboren werden!“

Wenn etwas mehr Raum zur Verfügung stünde, könnte viertens noch gezeigt werden, wie diese Auslegung der Worte „aus Wasser und Geist geboren“ mit dem Rest dieses Abschnitts zusammenhängt – und tatsächlich mit dem ganzen Johannesevangelium. Glücklicherweise beharrt Jesus darauf, dass hinter jener Feststellung, dass diese Art von Neugeburt notwendig ist, die Autorität der Offenbarung steht: Er selbst ist vom Himmel gekommen, um sie uns zu bringen (Joh 3,11–13). Und das Muster, dass Gott vom Himmel herab machtvoll eingreift und sein Volk von ihrer Sünde und ihrem Götzendienst errettet, erscheint bereits im Alten Testament (Joh 3,14–15; vgl. 4Mo 21,4–9).

Letztendlich ist all das in der unvergleichlichen Liebe Gottes gegründet (Joh 3,16–21) und wird durch den Glauben erlangt: „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verlorengeht, sondern ewiges Leben hat.“

Fußnote

1 Deutsche Übersetzung übernommen aus: Omar Chayyam, Vierzeiler, Berlin: Holzinger, 2013 (unter Rückgriff auf die Übersetzung von Adolf Friedrich von Schack), S. 22 (vgl. www.zeno.org [abgerufen am 25.04.2020]).