Gemeinden, lasst euch nicht durch das Coronavirus spalten

Artikel von Brett McCracken
25. Mai 2020 — 8 Min Lesedauer

Gemeindemitglieder und Älteste weltweit mussten in den letzten Monaten fortlaufend komplexe Herausforderungen in Bezug auf die Leitung ihrer Gemeinde während der Covid-19-Pandemie bewältigen. Die jüngste Aufgabe ist die vielleicht bisher schwierigste: wie man persönliche Zusammenkünfte auf eine umsichtige Art und Weise wieder aufnehmen kann.

Als ob die Frage nach den logistischen Details nicht herausfordernd genug wäre – wie man die Distanz einhalten und die Personenanzahl begrenzen kann, ob es eine Maskenpflicht geben sollte oder nicht, ob gesungen werden sollte, was man mit den Kindern macht und so weiter –, ist das ganze Thema ein Nährboden für Spaltungen. Wenn eine Gemeinde – und das Führungsteam innerhalb der Gemeinde – nur im Ansatz einen Mikrokosmos unserer Gesellschaft darstellt – werden in ihr wahrscheinlich viele stark gefestigte Überzeugungen aufeinander treffen. Einige werden sich lieber persönlich treffen wollen und können es nur mit großer Ungeduld erwarten, bis alles wieder normal läuft. Andere werden darauf beharren, dass es unweise ist, sich vor der Entwicklung eines Impfstoffes überhaupt mit anderen zu treffen. Und viele werden sich irgendwo dazwischen bewegen.

Wie können Gemeinden in einem solch heiklen und polarisierenden Umfeld „fein und lieblich in Eintracht beisammen sein“ (Ps 133), anstatt sich spalten zu lassen? Es wird nicht einfach sein. Aber durch die Gnade Gottes und die Kraft des Heiligen Geistes, die uns auf eine Weise verbindet, wie es das Fleisch niemals könnte, besteht für uns die Möglichkeit, eine „Gegenkultur“ zu bilden und zum Vorbild für den Rest der Welt zu sein.

Opferbereitschaft

In Zeiten, in denen das Ausmaß der Selbstvergötterung auf unschöne Weise zum Vorschein kommt, hat die Gemeinde die Möglichkeit, Liebe auf eine Art zu zeigen, die die Interessen anderer über die eigenen stellt. Es könnte jemandem zum Beispiel schwierig, wenn nicht sogar verrückt vorkommen, während des Gottesdienstes eine Maske tragen und ständig einen Meter Abstand von anderen halten zu müssen. Du selbst kannst diese Vorsichtsmaßnahmen für eine völlige Überreaktion halten. Aber auch wenn sich herausstellen sollte, dass du recht hattest – kannst du dein Ideal nicht für einen gewissen Zeitraum aus Liebe zu anderen, die die Vorsichtsmaßnahmen für richtig halten, opfern? Auch wenn du es persönlich für albern oder sogar feige hältst, wenn jemand sonntags zu Hause bleibt, obwohl das Gemeindehaus wieder geöffnet wurde, kannst du dann nicht auf die Weisheit von Paulus in Römer 14 zurückgreifen: „Darum lasst uns nicht mehr einander richten, sondern das richtet vielmehr, dass dem Bruder weder ein Anstoß noch ein Ärgernis in den Weg gestellt wird!“ (Röm 14,13)? Oder 1. Korinther 8,9: „Habt aber Acht, dass diese eure Freiheit den Schwachen nicht zum Anstoß wird!“

„Aber auch wenn sich herausstellen sollte, dass du recht hattest – kannst du dein Ideal nicht für einen gewissen Zeitraum aus Liebe zu anderen, die die Vorsichtsmaßnahmen für richtig halten, opfern?“

 

Genau so sollten diejenigen, die der Meinung sind, dass die Verbote noch länger aufrechterhalten werden sollten, nicht über diejenigen urteilen, die die Entscheidungen der Regierung über die anhaltenden Beschränkungen in Frage stellen. Gemeinden sollten sich bemühen, die Menschen auf beiden Seiten des Spektrums zu respektieren. Ja, es wird durchaus kostspielig für Gemeinden sein, weiterhin Online-Gottesdienste für diejenigen anzubieten, die sich nicht wohl dabei fühlen, an physischen Zusammenkünften teilzunehmen. Und ja, es wird ein Opfer für die Gemeindemitglieder sein, die Masken, Kontaktbeschränkungen und Online-Streaming satthaben, diese aber weiterhin für andere auf sich nehmen müssen. Aber es gibt nicht vieles, das christlicher ist als eine Haltung der Opferbereitschaft: „Ich ermahne euch nun, ihr Brüder, angesichts der Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber darbringt als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer: das sei eurer vernünftiger Gottesdienst!“ (Röm 12,1). Wir sollten diese Haltung mit Freude einnehmen.

Demut

Hast du bemerkt, wie außergewöhnlich überzeugt viele von uns derzeit in ihren Ansichten sind? Unbegründete Gewissheit – gleichermaßen bei Laien, Führungskräften, einflussreichen Persönlichkeiten und „Experten“ zu finden – ist mindestens genau so ansteckend wie Covid-19 selbst. Wir können alle ein wenig mehr Demut gebrauchen, und Gemeinden sollten hierin vorangehen.

Genauso wie je zuvor sollten Christen dem Rat von Jakobus folgen: „Darum, meine geliebten Brüder, sei jeder Mensch schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn“ (Jak 1,19). Gut zuzuhören kann den Prozess des Nachdenkens und des Planens zwar verlangsamen, aber das ist es wert. Unabhängig von der persönlichen Meinung der Gemeindeleiter zur Wiedereröffnung sollten sie sich Zeit nehmen, um demütig auf die Stimmen anderer zu hören – z.B. die verschiedenen Interessengruppen innerhalb der Gemeinde, andere Gemeindeleiter und die zuständigen Politiker in ihrem Bezirk. Mitglieder der Gemeinde sollten ebenfalls ein Beispiel für christusähnliche Demut sein (z.B. Php 2,3), die sich darin zeigt, wie sie auf die von den Leitern aufgestellten Pläne reagieren, selbst wenn sie nicht mit jedem einzelnen Aspekt davon einverstanden sind. Keiner von uns sollte davon ausgehen, dass wir die endgültige Antwort parat haben, wie man mit dieser Situation umgehen sollte. Lasst uns Demut zeigen, indem wir uns eingestehen, dass nicht alles offensichtlich ist, und wir alle nur versuchen, das Beste in dieser uns völlig neuen und herausfordernden Lage zu tun.

Geduld

„Wir sollten schmerzhaft spüren, was wir durch die virtuellen Treffen verlieren. Jeder Christ sollte sich nach dem Tag sehnen, an dem aus dem virtuellen Gottesdienst wieder ein Gottesdienst im Gemeindehaus wird.“

 

Geduld ist eine der seltensten Tugenden in der heutigen jetzt-sofort-Welt. Doch selten war Geduld erforderlicher, da viele von uns ungeduldig darauf warten, aus der „StayHome“-Isolation auszubrechen und wieder zur Normalität zurückzukehren. Natürlich ist es gut und richtig, sich als Gemeinde wieder zu versammeln. Wir sollten Hebräer 10,25 ernst nehmen, wo es heißt, dass wir der Versammlung nicht fernbleiben sollen. Wir sollten schmerzhaft spüren, was wir durch die virtuellen Treffen verlieren. Jeder Christ sollte sich nach dem Tag sehnen, an dem aus dem virtuellen Gottesdienst wieder ein Gottesdienst im Gemeindehaus wird. Allerdings sollten wir darauf achten, nicht schneller voranzuschreiten, als es die Regierung vorgibt, und auch nicht schneller, als es von den Menschen um uns herum nachvollzogen werden kann. Wir sollten geduldig bei der Vorgehensweise sein, auch wenn sie möglicherweise langsamer ist, als wir uns das wünschen; geduldig beim Prozess der Wiedereröffnung, der zweifellos nicht fehlerfrei sein wird; geduldig mit Führungspersonen, die den Druck in dieser komplexen Situation zu spüren bekommen; und geduldig miteinander, während wir uns an die neue Normalität herantasten. Diejenigen, die auf physische Zusammenkünfte verhalten reagieren, sollten geduldig sein mit denen, die es nicht tun, und umgekehrt. So schwer es auch sein wird, Geduld zu üben, sollten wir uns vor Augen halten, dass diese Situation – sollte sie Monate oder Jahre andauern – im Licht der Ewigkeit nicht mehr als eine Millisekunde sein wird.

Nuance

Wir leben in einer Zeit, in der es fast nur schwarz-weiß gibt. Das Wirtschaftsmodell der Medien (das auf Klicks und Seitenaufrufen basiert) wirkt einer differenzierten Sicht der Dinge entgegen. Marketing-Agenturen wissen, dass sich Nuance nicht verkaufen lässt. Politiker wissen das auch. Wir sollten uns nicht darüber wundern, wie selten es in der heutigen übermäßig parteiischen, durch die Medien geprägten Welt dazu kommt, dass jemand eine demütige und komplexe sowohl-als-auch-Ansicht vertritt. Doch wenn Gemeinden als intakte Einheit und Gemeinschaft aus dieser Krise hervorgehen wollen, müssen sie eine „Gegenkultur“ bilden und Nuancen betonen. Auf diesem Weg vermeidet man Hysterie, indem man erkennt, dass Wahrheit selten einfach und schrill ist, wie Twitter uns das glaubhaft machen will. Mit diesem Ansatz wird sowohl Mut als auch Weisheit wertgeschätzt; man nimmt von Pollyanna-artigen (d.h. naiv optimistischen, Anm. der Red.) Reaktionen und solchen, die den Weltuntergang kommen sehen, Abstand. Das bedeutet, dass wir einigen Aspekten der Kontaktsperre skeptisch gegenüberstehen können ohne auf Verschwörungstheorien einzugehen. Gleichzeitig können wir die Behörden ehren (Röm 13) und, wenn nötig, auf angemessenem Weg Veränderungen anstoßen. Eine differenzierte Sicht auf die Dinge vermeidet, dass wir das Schlimmste über unsere Mitmenschen denken, und sieht gleichzeitig ein, dass die anderen manchmal auch richtig und wir falsch liegen können. Nuance entsteht, wenn Demut und Geduld zusammen kommen.

Es gibt natürlich Dinge, zu denen Christen eine eindeutige Meinung haben sollten, z.B. das klare Bekenntnis zum Evangelium Jesu Christi und zu allem, was die Schrift sagt. Was Paulus den Ephesern dringend ans Herz legt, sollte daher für uns heute genauso dringend sein: „So ermahne ich euch nun, ich, der Gebundene im Herrn, dass ihr der Berufung würdig wandelt, zu der ihr berufen seid, indem ihr mit aller Demut und Sanftmut, mit Langmut einander in Liebe ertragt und eifrig bemüht seid, die Einheit des Geistes zu bewahren durch das Band des Friedens“ (Eph 4,1–3).