Die Himmelfahrt

Artikel von R.C. Sproul
21. Mai 2020 — 7 Min Lesedauer

Diese Männer hatten drei Jahre in einem Zustand außerordentlicher Freude verbracht. Was sie miterlebt hatten, hatte in der gesamten Geschichte noch nie irgendein Mensch vor ihnen erlebt. Ihre Augen erblickten klar und deutlich Dinge, die selbst Engel gerne gesehen hätten – aber sie konnten es nicht. Ihre Ohren hörten, was die Heiligen aus der Vergangenheit von Herzen gern mit eigenen Ohren gehört hätten. Diese Männer waren die Jünger von Jesus von Nazareth. Sie waren seine Schüler. Sie waren seine Gefährten. Wo er hinging, gingen auch sie hin. Was er sagte, das hörten sie. Was er tat, sahen sie mit ihren eigenen Augen. Sie waren die eigentlichen Augenzeugen des irdischen Dienstes des Sohnes Gottes.

Aber eines Tages hörten diese Männer von den Lippen ihres Meisters die schlimmstmögliche Ankündigung: Jesus sagte ihnen, dass er sie verlassen wird. Er sagte ihnen, dass die Tage ihrer engen Gemeinschaft in dieser Welt zu einem jähen Ende kommen werden. Was für ein Schock! Panik machte sich in den Herzen dieser Jünger breit, als Jesus ihnen sagte, dass es bald vorbei sein wird.

In Johannes 16 lesen wir, was Jesus genau sagte: „Noch eine kurze Zeit, und ihr werdet mich nicht sehen, und wiederum eine kurze Zeit, und ihr werdet mich sehen; denn ich gehe zum Vater. Da sprachen etliche seiner Jünger zueinander: Was bedeutet das, dass er sagt: Noch eine kurze Zeit, und ihr werdet mich nicht sehen, und wiederum eine kurze Zeit, und ihr werdet mich sehen, und: Ich gehe zum Vater? Deshalb sagten sie: Was bedeutet das, dass er sagt: Noch eine kurze Zeit? Wir wissen nicht, was er redet! Da erkannte Jesus, dass sie ihn fragen wollten, und sprach zu ihnen: Ihr befragt einander darüber, dass ich gesagt habe: Noch eine kurze Zeit, und ihr werdet mich nicht sehen, und wiederum eine kurze Zeit, und ihr werdet mich sehen? Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und wehklagen, aber die Welt wird sich freuen; und ihr werdet trauern, doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden. Wenn eine Frau gebiert, so hat sie Traurigkeit, weil ihre Stunde gekommen ist; wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst, um der Freude willen, dass ein Mensch in die Welt geboren ist. So habt auch ihr nun Traurigkeit; ich werde euch aber wiedersehen, und dann wird euer Herz sich freuen, und niemand soll eure Freude von euch nehmen“ (Joh 16,16–22).

Kurz vor dieser rätselhaften Aussage hatte Jesus zu seinen Jüngern gesagt: „Nun aber gehe ich hin zu dem, der mich gesandt hat, und niemand unter euch fragt mich: Wohin gehst du?, sondern weil ich euch dies gesagt habe, ist euer Herz voll Traurigkeit. Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich hingehe; denn wenn ich nicht hingehe, so kommt der Beistand nicht zu euch. Wenn ich aber hingegangen bin, will ich ihn zu euch senden“ (Verse 5-7).

„...das Gefühl des Verlassenseins, das sie einen Augenblick lang niederdrücken wird, wird sich in unbeschreibliche Freude verwandeln.“

 

Jesus kündigt also an, dass ihre Herzen nicht nur von etwas Trauer und Enttäuschung berührt werden, sondern das Ausmaß ihrer Traurigkeit wird so groß sein, dass sie die Kammern ihres Herzens ausfüllt. Der Kummer wird sie überwältigen. Ihre Trauer wird sie an die Grenzen dessen bringen, was ein Mensch aushalten kann. Doch Jesus sagt auch, dass dieser Zustand, den sie erleben werden, zeitlich begrenzt sein wird; das Gefühl des Verlassenseins, das sie einen Augenblick lang niederdrücken wird, wird sich in unbeschreibliche Freude verwandeln.

Zugleich erklärt Jesus, warum er sie verlassen muss. Er sagt, es ist nötig, dass er weggeht, damit die Jünger mit dem Heiligen Geist erfüllt werden können. Was nach einem absoluten Rückschlag klingt, wird in Jesu Erklärung zum Hauptgewinn. In Apostelgeschichte 1,9–11 lesen wir: „Und als er dies gesagt hatte, wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf von ihren Augen weg. Und als sie unverwandt zum Himmel blickten, während er dahinfuhr, siehe, da standen zwei Männer in weißer Kleidung bei ihnen, die sprachen: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr hier und seht zum Himmel? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen worden ist, wird in derselben Weise wiederkommen, wie ihr ihn habt in den Himmel auffahren sehen!“ Als Jesus sie verließ, sahen die Jünger zu. Sie blickten gebannt in den Himmel, solange ihre Augen ihn sahen. In diesem Moment kamen zwei Engel und fragten, warum sie so in den Himmel starrten. Die Engel kündigten ihnen an, dass der gleiche Jesus, der sichtbar und körperlich in den Himmel aufgefahren war, zu einem späteren Zeitpunkt auf die gleiche Weise wieder zurückkommen würde.

„So schwer es auch für sie zu fassen war, hatten sie doch angefangen zu glauben, dass Jesu Abwesenheit besser für sie war als seine körperliche Anwesenheit bei ihnen.“

 

Lukas berichtet uns in seinem Evangelium über die Himmelfahrt (Lk 24,50–53): „Er führte sie aber hinaus bis in die Nähe von Bethanien und hob seine Hände auf und segnete sie. Und es geschah, indem er sie segnete, schied er von ihnen und wurde aufgehoben in den Himmel. Und sie warfen sich anbetend vor ihm nieder und kehrten nach Jerusalem zurück mit großer Freude; und sie waren allezeit im Tempel und priesen und lobten Gott.“ Hier hat sich vollständig erfüllt, was Jesus vorhergesagt hatte – die große Trauer, von der sie völlig überwältigt waren, als sie die Nachricht von seinem Weggang hörten, hatte sich nicht nur in Zufriedenheit verwandelt, nicht nur in ein Hinnehmen des Unvermeidlichen, nicht nur in Freude, sondern in große und erfüllende Freude. Sie kehrten von ihrer letzten Begegnung mit Jesus mit einem vollen Herzen zurück. Wie kann das sein? Die offensichtliche Antwort ist, dass die Jünger die Bedeutung der Himmelfahrt verstanden hatten. So schwer es auch für sie zu fassen war, hatten sie doch angefangen zu glauben, dass Jesu Abwesenheit besser für sie war als seine körperliche Anwesenheit bei ihnen – und der Grund dafür lag darin, wohin er ging, und was er dort tun würde.

Schon in Johannes 3,13 hatte Jesus erklärt: „Und niemand ist hinaufgestiegen in den Himmel, außer dem, der aus dem Himmel herabgestiegen ist, dem Sohn des Menschen.“ Dieser Vers scheint auf den ersten Blick schwierig zu sein, denn wir wissen, dass im Alten Testament Henoch in den Himmel hinaufging in dem Sinne, dass er dorthin hinweggenommen wurde, ebenso Elia, den die Wagen aus Feuer in den Himmel trugen. Aber als Jesus von der Himmelfahrt redete, sprach er nicht bloß davon, „hinaufzugehen“. Er verwendete technische Begriffe, um auf etwas hinzuweisen. Jesus dachte vor dem Hintergrund der Wallfahrtspsalmen, in denen die Salbung eines Königs gefeiert wird (Ps 120–134). Wenn Jesus sagt, dass niemand in den Himmel hinaufgestiegen ist, dann ist das deswegen wahr, weil niemand sonst in der gleichen Weise oder zum gleichen Zweck wie er in den Himmel hinaufgestiegen ist. Er wurde in den Wolken der Herrlichkeit aufgehoben, um zu seinem Vater zu gelangen, weil er dort als König gekrönt werden würde – als König der Könige und Herr der Herren. Er stieg in den Himmel auf, um seine Rolle als unser großer Hohepriester zu erfüllen, der täglich für sein Volk eintritt. Da er jetzt zur Rechten des Vaters sitzt und seine Herrschaft über die ganze Welt ausübt und vor dem Vater für sein Volk eintritt, verbessert sich unsere Lage immens. Und nicht nur das, sondern es war notwendig, dass Christus hinaufstieg und zusammen mit dem Vater den Heiligen Geist mit all seiner Macht aussendete, damit Pfingsten kommen konnte. Der Heilige Geist wurde auf die Gemeinde ausgegossen, und dadurch wurde sie für ihr Missionswerk in der ganzen Welt befähigt.

Auch wenn es schwierig ist, sich das vorzustellen: Der Zustand, in dem wir jetzt leben, nachdem Jesus am Kreuz Sühne geleistet hat, nachdem er auferstanden ist, nachdem er aufgefahren ist und nachdem er den Heiligen Geist ausgegossen hat, ist aus der Perspektive der Erlösung ein besserer Zustand als der, den die Jünger während ihrer dreijährigen Wanderschaft mit dem Herrn Jesus genossen. Wir feiern die Himmelfahrt, weil wir unseren König feiern.