Wenn nicht alles offen­sichtlich ist

Artikel von Kevin DeYoung
18. Mai 2020 — 6 Min Lesedauer

Das Buch von Duncan Watts aus dem Jahr 2011 hat einen passenden Titel. Vorausgesetzt, du kannst Wörter verkehrt herum lesen. Das Buch heißt: „Alles ist offensichtlich*“, mit einem Sternchen nach dem Wort „offensichtlich“. Wenn Du das Buch umdrehst, kannst Du unter dem Sternchen lesen: „Sobald Du die Antwort kennst.“ Der clevere Titel beschreibt den Hauptgedanken des Buches. Wir neigen dazu, zu glauben, dass es einfache Antworten auf die komplexesten Fragen des Lebens gibt. Wir gehen davon aus, dass es sich bei der Lösung bedeutender Probleme – sei es bei der Vorhersage menschlichen Verhaltens, in der Wirtschaft oder in der Regierungspolitik – um eine

„Wir neigen dazu, zu glauben, dass es einfache Antworten auf die komplexesten Fragen des Lebens gibt.“

 

Frage des gesunden Menschenverstandes handelt. Wir glauben, dass alles offensichtlich ist. Dennoch sind, wie Watts überzeugend argumentiert, die meisten Lösungen für komplexe Probleme alles andere als offensichtlich. Und wenn sie offensichtlich erscheinen, dann nur, weil wir den Vorteil haben, im Nachhinein erkennen zu können, was tatsächlich funktioniert hat.

Höchstwahrscheinlich befinden wir uns noch immer am Anfang der Coronavirus-Krise. Auch wenn die Krankheit im Sommer verschwinden und nie wieder zurückkehren würde, müssten wir uns trotzdem mit den emotionalen und wirtschaftlichen Folgen von COVID befassen. Ärzte, Ökonomen sowie Journalisten, Historiker und Epidemiologen werden noch jahrzehntelang über das Virus schreiben. Früher oder später wird offensichtlich sein, ob die Schließung von Schulen Leben gerettet hat oder ob die Maßnahme sinnlos war. Früher oder später wird offensichtlich sein, welche Länder und welche Staats- und Regierungschefs die besten Entscheidungen getroffen haben. Früher oder später wird offensichtlich sein, auf welche Art und Weise wir ein riesiges Problem weniger tödlich gemacht, oder eine ernsthafte Krise verschlimmert haben. Aber im Moment – mitten im Nebel eines krankhaften Krieges – wird einem nach fünf Minuten auf Twitter klar, dass der bestmögliche nächste Schritt doch nicht so offensichtlich ist.

„Aber als Pastor ohne Fachkenntnisse in Medizin, Epidemiologie oder mathematische Modellierung möchte ich vorsichtig sein bei den Schlussfolgerungen, was wir tun oder nicht tun sollten.“

 

Das bedeutet nicht, dass nicht einige Ideen besser sind als andere. Ich habe meine eigene Meinung (hoffentlich auf Basis der neuesten Informationen) darüber, welche Erklärungen und Richtlinien offensichtlich richtig sind. Aber als Pastor ohne Fachkenntnisse in Medizin, Epidemiologie oder mathematische Modellierung möchte ich vorsichtig sein bei den Schlussfolgerungen, was wir tun oder nicht tun sollten.

Ich bin nicht mit allem in Watts Buch einverstanden, aber es ist eine hilfreiche Erinnerung an die vielen Situationen, in denen uns die Intuition im Stich gelassen hat. Wir glauben, dass andere Menschen in ihrer jeweiligen Situationen genau so handeln werden wie wir, aber das tun sie nicht. Wir glauben, dass jedes Problem eine einfache Lösung hat, aber viele Probleme sind schrecklich komplex und können nicht gesteuert oder kontrolliert werden. Wir glauben, dass wir die meisten Probleme mit wenig Aufwand verstehen können, aber viele Probleme erfordern jahrelanges Fachwissen (und selbst dann sind sich die Experten nicht einig darüber, was offensichtlich getan werden sollte!).

Watts listet eine Reihe von Vorurteilen auf, die unsere Fähigkeit trüben, gute Urteile zu fällen.

Rückblickende Vorurteile

Wir formulieren Erklärungen, die uns sinnvoll erscheinen, weil sie bereits eingetreten sind, die aber keine wirkliche Vorhersage beinhalten. Zum Beispiel zitiert Watts einen Artikel über den Erfolg von Harry Potter. Der Autor argumentiert, dass es sich um die einfache Formel einer Cinderella-Story handele, die in einem Internat spielt, einfache Stereotypen mit alltäglichen Lastern enthält und diese mit moralischen Aussagen über den Wert von Mut und Freundschaft sowie einer übergreifenden Botschaft über die Kraft der Liebe und des Opfers verbindet. Das ist die perfekte Kombination für ein erfolgreiches Buch. Laut Watts bedeutet diese Aussage nicht mehr als: Harry Potter war erfolgreich, weil es die Merkmale von Harry Potter enthielt.

Vorurteile bei den Stichproben

„Mit anderen Worten: wir tendieren zu den Beispielen, die in unsere eigene Annahme passen und ignorieren dabei die, die es nicht tun.“

 

Wenn wir kausale Erklärungen vorschlagen, sind wir oft sehr darauf bedacht, was in außergewöhnlichen, und nicht was in gewöhnlichen Situationen passiert. Wir haben vielleicht das Gefühl, dass die Ampel immer auf gelb steht und vergessen, wie oft wir über grün fahren. Wir erinnern uns an die Erfolge eines Basketballspielers aber vergessen dessen Niederlagen. In einem ernsteren Zusammenhang stellen wir fest, dass es sich bei dem Amokschützen um einen jungen Mann handelt, der Videospiele spielte und nicht viele Freunde hatte. Gleichzeitig vergessen wir aber, dass eine solche Beschreibung wahrscheinlich auf Millionen von Menschen zutrifft, die nie zu Amokschützen werden. Mit anderen Worten: wir tendieren zu den Beispielen, die in unsere eigene Annahme passen und ignorieren dabei die, die es nicht tun.

Vorurteile aufgrund von Einzelfällen

Das stammt von mir: Wir neigen dazu, umfassende Urteile aufgrund von beispielhaften Einzelfällen zu treffen. Du hast von einer 104-jährigen Frau gehört, die sich von COVID-19 erholt hat, und niemand aus deinem näheren Umfeld musste ins Krankenhaus? Dann wird es wohl halb so schlimm sein. Du hast Einträge von zwei jungen Müttern auf Facebook gelesen, die ihre Ehemänner verloren haben, und ein befreundeter Arzt musste sich seine eigene Maske nähen? Es muss viel schlimmer sein, als wir es uns vorstellen können. Es ist leicht, auf der Grundlage einer Handvoll von persönlichen Erfahrungen eine unanfechtbare Schlussfolgerung zu ziehen.

Was können wir also tun, wenn nicht alles offensichtlich ist?

Watts schreibt, dass wir uns auf so viele Fakten und messbare Informationen stützen sollten, wie wir nur auffinden können. Das ist ein guter Rat und sicherlich klug während einer Pandemie.

Aber ich würde noch eine andere Lehre vorschlagen: epistemische Demut. Das ist meine raffinierte Art, um zu sagen: Wir sollten uns vor Augen führen, was wir wirklich wissen und was nicht. Lasst uns in diesem Sinne dafür beten, dass es sich bei unseren Führungspersonen um weise und mutige Männer und Frauen handelt, die bestrebt sind, das Beste zu tun, egal was es auch sein mag und wer am Ende das Lob dafür bekommt. Und schließlich sollte uns das Eingeständnis unseres begrenzten Wissens gegenüber denen demütig machen, die zusammen mit uns die gleichen Ziele in dieser Krise verfolgen, aber nicht zu den gleichen Schlussfolgerungen kommen. Früher oder später mag alles offensichtlich sein, aber im Moment kennen wir nicht alle Antworten – oder wahrscheinlich nicht mal alle Fragen, die gestellt werden müssten.