Gott beruft nicht nur in den geistlichen Dienst

Artikel von Tim Challies
4. Mai 2020 — 8 Min Lesedauer

Von den vielen Vermächtnissen der protestantischen Reformation haben nur wenige einen größeren und breiteren Einfluss gehabt als die Wiederentdeckung des biblischen Verständnisses von Berufung. Vor der Reformation waren die einzigen Menschen, die eine Berufung hatten, diejenigen, die vollzeitig für die Kirche arbeiteten – Mönche, Nonnen oder Priester. So beschreibt es Gene Veith in seinem Buch God at Work:

Die normalen Tätigkeiten des Lebens – Bauer zu sein oder eine Küchenmagd, Werkzeuge oder Kleidung herzustellen, ein Soldat oder selbst ein König zu sein – wurden zwar als notwendig anerkannt, aber eben auch als weltlich. Solche Menschen konnten gerettet werden, aber sie waren in die Welt verstrickt. Um Gott vollständig zu dienen, um ein Leben zu führen, das wirklich geistlich ist, musste man sein Leben vollzeitig dafür weihen.

Die Reformatoren schauten über Traditionen, die nicht von Gott gegeben waren, hinaus und kehrten zur Autorität und Genugsamkeit des Wortes Gottes zurück. So fanden sie heraus, dass der vollzeitige christliche Dienst zwar eine Berufung sein konnte, aber keineswegs die einzige. Sie sahen, dass jeder von uns eine Berufung hat und dass jede Berufung in den Augen des Herrn Würde und Wert besitzt. Wir können alle mit der Arbeit, die wir tun, Gott ehren.

„Sind christliche Klempner, Köche, Doktoren, Geschäftsmänner weniger christlich, weil sie nicht im ‚vollzeitigen‘ Dienst stehen? Und was ist mit christlichen Müttern und Hausfrauen?“

 

Aber diese alte Tradition ist immer noch in unseren Köpfen. Wenn wir nicht immer wieder zum Wort Gottes zurückkehren und es ihm gestatten, uns zu korrigieren, werden wir schnell abdriften. Es ist hilfreich, dass wir heute viele christliche Pastoren und Autoren haben, die untersuchen, was es heißt, ein normaler Christ zu sein, der eine gewöhnliche Arbeit im Rahmen seines Lebens verrichtet. Und es ist ermutigend zu sehen, dass diese Leiter den Wert aller Berufungen unterstreichen. Die Fragen, vor denen jeder Christ irgendwann einmal steht, sind diese: Sind christliche Klempner, Köche, Doktoren, Geschäftsmänner weniger christlich, weil sie nicht im „vollzeitigen“ Dienst stehen? Und was ist mit christlichen Müttern und Hausfrauen? Können sie Gott durch ihr sehr gewöhnliches Leben ehren? Können wir Gott durch ein normales Leben ehren, ohne unbewusst eine gefährliche Art von geistlicher Selbstzufriedenheit zu fördern? Was heißt es, sich nicht diesem Weltlauf anzupassen, sondern sich auf diesem Gebiet der Berufung verwandeln zu lassen durch die Erneuerung des Sinnes (vgl. Röm 12,2)?

Wie wir es erwarten würden, spricht Gottes Wort über diese Fragen. Im ersten Brief an die Thessalonicher antwortet Paulus auf Fragen, die er von Leuten aus der Gemeinde in Thessalonich erhalten hatte. Und anscheinend lautete eine Frage, die sie dem Apostel stellten, ungefähr so: „Wie können wir ein Leben führen, dass Gott wohlgefällt“ (vgl. 1Thess 4,1–12)?

Jene Menschen, denen er diese Frage stellte, kannten Gottes Schöpfungsmandat. Gott hat uns geschaffen und auf diese Erde gestellt, damit wir als seine Stellvertreter agieren. Sie hatten auch den Missionsbefehl Christi gehört. Sie wussten also, dass sie als Volk Gottes das Evangelium bis in die entlegensten Winkel der Erde zu tragen haben und, wenn immer Menschen aus der Dunkelheit ins Licht kommen, sie diese in den Dingen des Herrn ausbilden sollen.

Diese Gemeinden kannte also das große Ganze. Trotzdem brauchten sie von Paulus eine spezifische Wegweisung. Was heißt es für normale Menschen an gewöhnlichen Orten zu alltäglichen Zeiten, den Schöpfungsauftrag und den Missionsbefehl umzusetzen? Verlangt es dafür einen vollzeitigen christlichen Dienst? Ist es dafür notwendig, an entfernte Orte der Erde zu ziehen? Wie sieht ein Leben aus, an dem Gott Wohlgefallen hat?

Die Antwort von Paulus ist faszinierend und vollkommen konsistent mit der Lehre der Berufung. Seine Antwort spricht drei Themen an: Sexualmoral, die Ortsgemeinde und Arbeit.

Das Leben unter Kontrolle haben

Die erste Sache, die Paulus dieser Gemeinde sagt, ist, dass ein Leben nach Gottes Wohlgefallen bedeutet, dass sie sexuelle Unzucht vermeiden und stattdessen nach sexueller Reinheit streben müssen: „Denn das ist der Wille Gottes, eure Heiligung, dass ihr euch der Unzucht enthaltet; dass es jeder von euch versteht, sein eigenes Gefäß in Heiligung und Ehrbarkeit in Besitz zu nehmen“ (1Thess 4,3–4). Die Thessalonicher sollten die weltlichen Götzen im Bereich Sex und Beziehungen ablehnen und stattdessen nach Gottesfurcht streben.

Das Leben in Gemeinschaft

Die zweite Sache, die Paulus dieser Gemeinde sagt, ist, dass sie die Menschen in ihrer Ortsgemeinde lieben müssen, wenn sie ein Leben führen wollen, das Gott wohlgefällt: „Denn ihr seid selbst von Gott gelehrt, einander zu lieben. […] Wir ermahnen euch aber, ihr Brüder, dass ihr darin noch mehr zunehmt“ (V. 9–10). Wenngleich Christen alle Menschen ohne Unterschied lieben sollen, sollen sie ihre Liebe doch besonders auf die Geschwister in ihrer Ortsgemeinde fokussieren.

Das Leben auf der Arbeitsstelle

Der dritte Punkt, den Paulus anspricht, ist für die gewöhnliche christliche Arbeit besonders wichtig. Er sagt diesen Christen, dass sie ihre Ehre darin suchen sollen, „ein stilles Leben zu führen, eure eigenen Angelegenheiten zu besorgen und mit euren eigenen Händen zu arbeiten, so wie wir es euch geboten haben, damit ihr anständig wandelt gegenüber denen außerhalb [der Gemeinde] und niemanden nötig habt“. Wenn die Bibel den Gläubigen sagen wollen würde, dass vollzeitiger christlicher Dienst eine bessere oder höhere Berufung wäre, wenn sie uns sagen wollen würde, dass die besten Christen diejenigen sind, die alles verkaufen, was sie haben und auf die andere Seite des Planeten ziehen, dann ist das genau die Stelle, an der wir erwarten würden, es zu finden. Aber das tun wir nicht. Wir finden etwas gänzlich anderes.

In 1. Thessalonicher 4 gibt Paulus sehr einfache Unterweisungen, die Zeit, Geographie und Kultur überschreiten. Er sagt den Thessalonichern, dass sie ein stilles Leben führen, ihre eigenen Angelegenheiten besorgen und mit ihren eigenen Händen arbeiten sollen. Wenn er ihnen sagt, dass sie ein stilles Leben führen sollen, möchte er, dass sie zufrieden damit sind, unbekannt und unbemerkt zu bleiben. Hier liegt ein Paradoxon vor: Sie sollen hart arbeiten, um ein stilles Leben zu führen und sie sollen es zu ihrer Ambition machen, von weltlichem Ehrgeiz frei zu sein. Sie sollen mit ihrem Los zufrieden sein und wissen, dass diese Genügsamkeit etwas ist, mit dem sie Gott am besten ehren können. Wenn Paulus ihnen sagt, dass sie ihre eigenen Angelegenheiten besorgen sollen, möchte er, dass sie sich auf ihre eigene Arbeit konzentrieren und sich nicht irgendwo anders einmischen und mit allem Möglichen beschäftigt sind außer mit dem, was am wichtigsten ist. Und wenn er ihnen sagt, dass sie mit ihren eigenen Händen arbeiten sollen, möchte er, dass sie die Arbeit ausführen, mit der sie beschäftigt sind, selbst dann (oder besonders dann), wenn es sich um Handarbeit handelt. Er konnte sie zu all dem aufrufen, weil ihre Arbeit Wert in sich selbst hatte. Es war ihre Berufung – ihre von Gott gegebene Berufung.

Soweit wir wissen, schrieb Paulus hier nicht an eine Gruppe junger Christen. Er gab ihnen nicht die grundlegenden Unterweisungen, die sie durch ihre frühen Jahre tragen würden, bevor sie irgendwann reife und schwierigere Dinge tun würden. Diese Gemeinde scheint stark und geistlich reif zu sein, und dennoch ist das Wort, das Paulus ihnen mitgibt, sehr simpel: Ihr bringt Gott Ehre durch euer sehr gewöhnliches Leben.

Das Leben in der Mission

„Es ist ein Aufruf, treu zu sein genau da, wo wir sind, und zu wissen, dass Gott Gefallen an seinem Volk hat, wenn sie ein gewöhnliches Leben leben.“

 

Für den Fall, dass diese Unterweisung nicht ausreichen würde, erklärt Paulus die Bedeutung und die Auswirkung dieser einfachen Dinge. Er möchte, dass sie dies tun, „damit ihr anständig wandelt gegenüber denen außerhalb [der Gemeinde] und niemand nötig habt“ (4,12). Hier zeigt Paulus, dass Christen Gottes Willen für ihr Leben durch ihre gewöhnliche Arbeit und ihr gewöhnliches Leben tun. Dieses stille Leben, dieses Leben, in dem man seine eigenen Angelegenheiten besorgt und hart arbeitet, erlaubt ihnen, den großen Missionsbefehl umzusetzen. Denn: Wenn sie diese Dinge tun – wenn sie nach sexueller Reinheit streben, wenn sie einander lieben und hart arbeiten – dann, versichert ihnen Paulus, werden sie anständig wandeln gegenüber denen, die außerhalb sind. Nicht nur das, sondern sie werden Liebe für ihre christlichen Brüder und Schwestern zeigen.

Lasst es mich klar sagen: Das ist kein Aufruf zur Selbstzufriedenheit oder zu einem bloßen Minimalismus. Es ist ein Aufruf, treu zu sein genau da, wo wir sind, und zu wissen, dass Gott Gefallen an seinem Volk hat, wenn sie ein gewöhnliches Leben leben. Es wird manche geben, die zu vollzeitiger Gemeindearbeit berufen werden. Es wird manche geben, die Arbeit mit ihren Händen aufgeben, um als vollzeitige Pastoren ausgebildet und ausgesandt zu werden, wobei sie fortan auf die Unterstützung anderer angewiesen sein werden.

Es wird manche geben, die aufhören, mit ihren Händen zu arbeiten, um auf das Missionsfeld zu gehen. Das ist gut und ehrt Gott. Aber es ist keine höhere oder bessere Berufung oder ein sicherer Weg, um Gott zu gefallen. Wir gefallen Gott, wenn wir als gewöhnliche Menschen ein gewöhnliches Leben leben und unsere gewöhnlichen Umstände gebrauchen, um ein außergewöhnliches Evangelium zu verkünden und auszuleben.