Wunder­schöne Tränen

Was sichtbar wird, weil Jesus weinte

Artikel von Makoto Fujimura
21. April 2020 — 8 Min Lesedauer

In Johannes 11 wird davon berichtet, dass Jesus weint. Seine Tränen, vergossen als Reaktion auf den Tod von Lazarus und angesichts der Trauer von Maria und Martha, verkörpern eine Fülle an Wahrheit, Schönheit und Güte.

Wieso weinte Jesus? Er hatte es hinausgezögert, nach Bethanien zu kommen, „damit der Sohn Gottes dadurch verherrlicht wird“ (Joh 11,4), und als er schließlich ankam, teilte er Martha mit, dass er „die Auferstehung und das Leben“ ist (Vers 25). Wenn er nun also nach Bethanien kam, um seine Macht zu zeigen – aufzuzeigen, dass er wirklich der Messias ist und die Macht besitzt, Tote aufzuerwecken – warum schwang er dann nicht schleunigst seinen „Zauberstab“ und „löste das Problem“ des Todes bzw. der Krankheit von Lazarus? Man hätte sofort ein Fest feiern können und alle Tränen wären unnötig gewesen. Tränen sind unnötig, ja, eine Verschwendung, wenn du die Macht besitzt, Wunder zu tun. Stattdessen machte sich Jesus verletzlich, hielt inne, um den Stachel des Todes zu spüren und sich mit diesen zerbrechlichen Menschen zu identifizieren, die verzweifelt um einen letzten Rest Hoffnung rangen.

Durch diese Tränen hindurch rief Jesus: „Lazarus, komm heraus!“ (Vers 43). Eine tiefe, emotionale Reaktion bereitete den Weg für den Moment der Auferstehung. Lazarus kam aus dem Grab gestolpert und viele begannen, an Jesus zu glauben. Doch bald trachteten die Machthaber danach, Lazarus töten – und Jesus ging weiter auf seinem Weg, in Richtung Kreuz.

„Jesus war nicht nur ein Retter, sondern erwies sich als persönlicher Freund.“

 

Jesu Tränen veränderten Marias Sicht auf ihren Herrn. Als diese langsam im verhärteten Boden von Bethanien versickerten, vermischten sich Jesu Tränen mit den ihren. Jesus war nicht nur ein Retter, sondern erwies sich als persönlicher Freund; durch diese tiefe Freundschaft mit dem Sohn des Menschen leuchtete die Herrlichkeit Gottes auf. Johannes bemerkte das.

Für die alten Japaner war Schönheit die Klammer, die das Vergängliche mit dem Heiligen zusammenhielt. Kirschblüten sind am schönsten, wenn sie fallen, und die Würdigung dieser Beobachtung führte die Japaner dazu, ihre eigene Sterblichkeit zu bedenken. Hakana bi (vergängliche Schönheit) bedeutet Traurigkeit, und doch liegt für Japaner in dem Bewusstsein für die Vergänglichkeit des Lebens eine tiefe Schönheit. Der Nobelpreisträger Yasunari Kawabata zitiert aus den Selbstmordnotizen des japanischen Nachkriegsautors Ryunosuke Akutagawa: „Aber die Natur ist schön, weil sie vor meinen Augen ihr äußerstes Ausmaß erreicht“ (Japan, the Beautiful, and Myself, S. 63).

Kawabata beging wenige Jahre später ebenfalls Selbstmord. Für Japaner ist der Sinn für Schönheit eine tief tragische Angelegenheit und mit der Unvermeidbarkeit des Todes verknüpft.

Auch Jesu Tränen waren vergänglich und schön. Seine Tränen bleiben uns gegenwärtig als eine fortdauernde Erinnerung an den Retter, der weint. Doch anstelle von Verzweiflung zeigen uns Jesu Tränen den Weg zur größten Hoffnung: der Auferstehung. Statt in den Selbstmord führen Jesu Tränen zur Fülle des Lebens.

Maria reagierte später darauf, indem sie mit ihrem wichtigsten Besitzstück zu Jesus eilte. Sie platzte mitten hinein in eine geschlossene Gesellschaft von Jüngern und öffnete ihr Alabastergefäß mit Narde – die ein Jahresgehalt wert war und die sie eigentlich für ihre Hochzeit aufbewahren sollte. Aus Jesu Tränen erahnte sie, dass ihn jedes seiner Wunder seinem Opfertod einen Schritt näher brachte. Darauf musste sie einfach reagieren – mit einem unmittelbaren, intuitiven, aber doch sehr bewussten Akt der Hingabe.

Während die Jünger (vor allem Judas) murrten, würdigte Jesus ihr Tun und sprach: „Sie hat ein gutes Werk an mir getan. … Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus zum Begräbnis gesalbt. Wahrlich, ich sage euch: Wo immer dieses Evangelium verkündigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch von dem sprechen, was diese getan hat, zu ihrem Gedenken!“ (Mk 14,6–9).

„Als Jesus am Kreuz hing, war der einzige irdische Besitz, den er an sich trug, Marias Narde.“

 

Jesu Tränen führten zu Marias Opfertat, die einen verschlossenen Raum in Bethanien mit Nardenduft füllte. Dort wurde durch die Übertretung einer Frau ein neues Paradigma des Wohlgeruchs Christi eröffnet, die Wirklichkeit des Evangeliums wehte in unsere zerbrochene Welt und füllte die Risse des Leids aus. Als Jesus am Kreuz hing, war der einzige irdische Besitz, den er an sich trug, Marias Narde.

Wie Jesu Tränen und Marias Narde, so breitet sich auch Kunst in unserem Leben aus und schenkt nutzlose Schönheit für diejenigen, die darüber nachsinnen wollen. Viele betrachten Kunst als ein „Extra“ in unserem Leben, eine Verschönerung, einen bloßen Zeitvertreib. Aber wie viele aufopferungsvolle Stunden fließen hinein, bis man in der Lage ist, eine Sonate von Chopin zu spielen? Oder in die grazilen Bewegungen eines Tänzers auf der Bühne des Lincoln Centers? Was viele als ein Extra betrachten, sogar als Verschwendung, darin kann unser Menschsein Gestalt gewinnen. An jenem Abend in Bethanien hingen mit dem Duft, den Maria verbreitete, auch Leonardo da Vincis Zeichnungen und Johann Sebastian Bachs Kantaten in der Luft (ich danke James Elaine, Kurator und Künstler für diese Beobachtung). Jeder Akt der Kreativität ist, direkt oder indirekt, eine intuitive Reaktion, um Gott das darzubringen, was er uns gegeben hat. Wir mögen diese Intuition verdrehen und etwas begehren, das sündhaft und schädlich ist, aber dieser kreative Impuls an sich kommt von unserem Schöpfer. Jesus weinte.

Judas war außer sich über Marias Tun und brachte vor, man hätte die Narde verkaufen und das Geld den Armen geben können (Mk 14,5). Pragmatismus, Gesetzlichkeit und Gier können die Kraft von vergänglicher Schönheit nicht verstehen. Das Gegenteil von Schönheit ist nicht Hässlichkeit; das Gegenteil von Schönheit ist Gesetzlichkeit. Gesetzlichkeit ist harter Determinismus, der die Seele langsam erdrückt. Gesetzlichkeit verletzt, indem er pragmatische Antworten auf unser Leid gibt. Gesetzlichkeit nimmt Leben, indem er verbietet, dass die Narde zu unseren Füßen vergossen wird. Künstler können – wie Maria – intuitiv und kreativ geben und Unterdrückung aufbrechen. Oft stehen dem in der Gemeinde und in der Welt jedoch Pragmatismus und Gesetzlichkeit im Weg.

Künstler brauchen Jesu Tränen, um etwas zu kreieren. Sie müssen sich mit Jesu Tränen verbunden fühlen.

Künstler kennen die Armen und haben es nicht nötig, von einem Gesetzlichen aufgefordert zu werden, den Armen etwas zu geben. Jesus weiß, dass die, die wirklich freudig geben, nur auf einen verschwenderischen Gott reagieren. Was uns als Verschwendung und Vergeudung erscheint, das nennt Jesus das Allernötigste. Das Problem ist nicht, dass wir auf die Armen zu wenig verschwenderisch reagieren; das Problem ist, dass wir nicht an einen verschwenderischen Gott glauben.

Für mich ist jede Kunst ein Nachhall dieses Wohlgeruchs des Christus, der am Kreuz hängt. Kunst fließt aus wie Marias Narde auf einen Boden, der „sauber“ sein sollte; solche Kunst offenbart gleichzeitig, was wirklich schön ist (Marias Handeln) und was wirklich schädlich ist (Judas’ Handeln). Künstler wie Kawabata sind auch durch Verzweiflung angreifbar. Gesetzlichkeit und Verzweiflung sind beides Werkzeuge in der Hand des Teufels: Selbstmord steht am Ende dieser beiden Wege.

Wenn ich Zeit in meinem Studio verbringe, dann verteile ich Wasser auf der Oberfläche meiner Zeichnungen und mische es mit Mineralpigmenten. Ich strebe nach Gnade in dem Akt des Malens. Die Materialien, die ich einsetze, sind verschwenderisch, teuer. Gold, Platin, Silber, handgeschöpftes Papier, Seide und einhundert Jahre alte Sumi-Tinte – aus all diesen Materialien entstehen die Schichten, die die Oberfläche meiner Werke bilden. Ich erinnere mich daran, dass ich wie Maria sein möchte. Ich erinnere mich an Jesu Tränen.

Christus ist der große Künstler. Vielleicht sah er in Maria einen kleiner Künstler, der sein großes Opfer nachahmt und widerspiegelt.

Maria verletzte in diesem Akt der Liebe kulturelle Normen, vor Dankbarkeit zitternd, denn sie wusste, dass der König gesalbt werden musste. Mit einer Handbewegung öffnete sie das Geheimnis des Augenblicks. Ihre Narde breitete sich aus und der Duft erfüllte den Raum. Es war eine Handlung für den Moment, die sie selbst nicht als „Kunst“ betrachtete. Ich bin mir sicher, sie war selbst überrascht von Jesu Worten, dass man sich an ihre Tat erinnern würde; dass sie ein andauerndes Vermächtnis hinterlassen würde.

Jesus sagte seinen Jüngern, dass man das, was Maria getan hat, verkündigen wird „wo immer dieses Evangelium verkündigt wird“. Vielleicht müssen wir über die logische Folge dieser erstaunlichen Bestätigung nachdenken: Ist unser Werk für das Evangelium durchtränkt mit dem Duft von Marias Narde? Was ist unsere schöne, verschwenderische Gabe, die offenbart, wer Judas ist? Eine Gabe, zubereitet für die zukünftige, kosmische Hochzeit?

Was uns wie eine Verschwendung vorkam, nannte Jesus unbedingt notwendig. Jesus weinte.