Die Kraft der Vergebung Gottes

Artikel von Peter Orr und Rory Shiner
13. April 2020 — 12 Min Lesedauer

Im Anschluss an ihren ersten Artikel über Geschichte und ihren Sinn sowie ihren zweiten Artikel über die Einzigartigkeit der Kirche setzen Peter Orr und Rory Shiner ihre Reihe über christliche Kernüberzeugungen fort. In diesem Artikel geht es um Vergebung und Sünde.


Am 8. November 1987 fand in Enniskillen (Nordirland) die alljährliche Gedenkfeier zum Remembrance Day1 statt. Auch der ortsansässige Geschäftsmann Gordon Wilson und seine 20-jährige Tochter Marie nahmen daran teil. Um 10.43 Uhr brachte die IRA nahe der Veranstaltung eine 18 kg schwere Bombe zur Explosion. An diesem Tag wurden elf Menschen getötet – auch Marie Wilson. Das zwölfte Opfer, Ronnie Wilson (nicht verwandt mit Gordon oder Marie), starb nach 13 Jahren im Koma.

Der Anschlag löste weltweit heftige Reaktionen aus. Die Rockgruppe U2 gab am folgenden Tag ein Konzert in Colorado, und als sie ihren Song „Sunday, Bloody Sunday“ spielten (ein Lied über den Nordirland-Konflikt), unterbrach Bono das Lied, um seiner Wut Ausdruck zu verleihen:

„Und ich will euch etwas sagen. Ich habe genug von den irischen Amerikanern, die seit zwanzig oder dreißig Jahren nicht mehr in ihrem Heimatland waren, aber zu mir kommen und mir etwas vom Widerstand, von der Revolution daheim erzählen wollen … und von der Ehre, für die Revolution zu sterben. *$@! die Revolution! […] Wie ehrenhaft ist es denn, eine Parade von Rentnern zum Remembrance Day zu bombardieren, für die diese alten Männer ihre Orden herausgekramt und wieder aufpoliert haben? Was bitte soll daran ehrenhaft sein? Sie sterben zu lassen oder lebenslang verkrüppelt oder tot unter den Trümmern einer Revolution, die die meisten Leute in meinem Land überhaupt nicht wollen? Schluss damit!“

Traurigerweise war Empörung nicht die einzige Reaktion auf diese Schreckenstat. Weil es sich bei den Opfern ausschließlich um Protestanten handelte, wurden mehrere Racheakte an römisch-katholischen Zivilisten verübt. Tags darauf wurde ein protestantischer Student, Adam Lambert, von einer protestantischen paramilitärischen Gruppe namens UDA erschossen, weil sie ihn versehentlich für einen Katholiken gehalten hatten.

Dieser Bombenanschlag von Enniskillen hinterließ bei mir als Teenager einen tiefen Eindruck – zum einen wegen der Art dieser Tragödie, aber auch wegen persönlicher Beziehungen (Ronnie Wilson war der Vater meines Mathelehrers und Adam Lambert war in der Schule wenige Klassen über mir gewesen). Aber es war die Reaktion von Gordon Wilson, die mich – und viele andere – am meisten berührte. In Interviews am folgenden Tag berichtete er von den letzten Momenten mit seiner Tochter, als sie nebeneinander unter den Trümmern verschüttet lagen. In äußerst emotionaler Verfassung erinnerte er sich an ihre letzten Worte an ihn: „Daddy, ich liebe dich sehr.“ Dann fügte er hinzu: „Ich habe gestern Abend für die Bombenleger gebetet, dass Gott ihnen vergeben möge.“2 In einem anderen Interview ging er näher auf seine Gefühle ein: „Ich hege keinen Groll gegen irgendjemanden, auch meine Frau nicht. Ich habe gestern Abend für sie gebetet – von Herzen. Und ich hoffe, dass mir die Gnade verliehen wird, das auch weiterhin tun zu können.“3

Gordon Wilsons vergebende Haltung gegenüber den Mördern seiner Tochter berührte eine Nation zutiefst, die sich noch im Schockzustand über die Gräueltat des vergangenen Tages befand. Gordon Wilson war Christ, und an ihm wurde die Haltung sichtbar, die Jesus vorgelebt hatte. Jesus hatte selbst ähnliche Worte gesagt, die von erstaunlicher Vergebung zeugten. Als er gekreuzigt wurde – hingerichtet, obwohl er ein unschuldiger Mann war –, betete er für seine Henker: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34).

Ein charakteristisches Merkmal

Vergebung ist ein charakteristisches Merkmal, das das Leben eines Christen kennzeichnet (oder es jedenfalls tun sollte). Das Neue Testament ist nicht so naiv, davon auszugehen, dass Beziehungen zwischen Christen immer glatt laufen würden. Es finden sich dort eine Menge Aufforderungen an Christen, einander zu vergeben oder einander zu ertragen.

  • Am bekanntesten ist das Vaterunser, wo Jesus seine Jünger anleitet, folgendermaßen zu beten: „Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern“ (Mt 6,12). Dann fügt er hinzu: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euer himmlischer Vater euch auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen ihre Verfehlungen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Mt 6,14–15).
  • Später im Matthäusevangelium fragt Petrus Jesus, wie oft er einem Mitchristen vergeben soll – wobei er großzügig „siebenmal“ anbietet (Mt 18,21). Doch Jesus setzt das höher: „siebzigmalsiebenmal“ (Mt 18,22).
  • Paulus schreibt an die Kolosser, um sie an einen grundlegenden Bestandteil der Nachfolge Christi zu erinnern: „… ertragt einander und vergebt einander, wenn einer gegen den anderen zu klagen hat“, und fügt dann hinzu: „gleichwie Christus euch vergeben hat, so auch ihr“ (Kol 3,13).

Besonders dieser letzte Vers offenbart, woher die Kraft zum Vergeben kommt: Vergebung ist nicht nur etwas, das Christen nachahmen (indem sie sich etwa Jesus zum Vorbild nehmen), sondern etwas, das Christen erleben. Weil wir Vergebung erlebt haben, können und müssen wir sie auch an andere weitergeben.

Aber was bedeutet es, dass uns „vom Herrn vergeben“ ist?

Wir müssen uns zuerst bewusst machen, was die Bibel damit meint, wenn von „Sünde“ oder „Sünden“ die Rede ist. Diese Begriffe werden oft in der Werbung herangezogen, so lautete beispielsweise ein Slogan der Firma Heinz für ihr zuckerreduziertes „Fit Ketchup“: „No Sin“. Die Tierrechtsorganisation PETA ist noch deutlicher: „Eating Meat is a Sin: Go Vegetarian“ („Fleisch essen ist eine Sünde: Werde Vegetarier!“).

Zwei wichtige Gebote

Jesus verweist uns auf zwei wichtige Gebote: Liebe zum Nächsten und Liebe zu Gott (Mt 22,36–40). Sünde ist nach seinem Verständnis, den Nächsten nicht wie sich selbst zu lieben (sei es, indem man ihn aktiv verletzt – ihn belügt, ihn bestiehlt, ihn umbringt usw. – oder aber, indem man sich nicht um ihn kümmert). Und ebenso ist es Sünde, Gott nicht so zu lieben wie wir es sollten. Auf der Basis dieses weitreichenden Ansatzes wird klar, warum aus der Perspektive der Bibel Sünde allgegenwärtig ist: „… denn alle haben gesündigt und verfehlen die Herrlichkeit, die sie vor Gott haben sollten“ (Röm 3,23). Dabei ist die Bibel brutal ehrlich: „Weil kein Mensch auf Erden so gerecht ist, dass er Gutes tut, ohne zu sündigen, …“ (Pred 7,20); und: „Wenn wir sagen, dass wir keine Sünde haben, so verführen wir uns selbst“ (1Joh 1,8). An einer Stelle – nahezu beiläufig – bezeichnet Jesus sogar seine Jünger als „böse“ (Mt 7,11).

Das ist ein Aspekt der Lehre Jesu, den die Leute äußerst schwierig finden. Natürlich, es gibt Menschen in der Welt, die unglaublich böse sind (Hitler, Stalin, usw.), aber es gibt doch zweifellos auch gute Menschen! Wie kann Jesus sagen: „Niemand ist gut als Gott allein!“ (Mk 10,18)?

Unser Problem besteht dabei zum Teil darin, dass wir uns die Menschheit wie ein Hochhaus vorstellen: Irgendwo verläuft eine Trennlinie, und die Leute unterhalb davon sind „böse“, aber die Leute oberhalb davon sind „im Grunde gut“. Die meisten von uns siedeln sich selbst irgendwo wenige Stockwerke oberhalb dieser Trennlinie an. Aber wir sollten Sünde eher aus dem Blickwinkel von Beziehung verstehen. Eine Geschichte soll das verdeutlichen:4

Sam wuchs in einer sehr liebevollen und großzügigen Familie auf. Als er 18 Jahre alt wurde, beschloss er, in eine andere Stadt zu ziehen. Aus Gründen, die nur er selbst kennt, setzte er sich am Tag seines Umzugs mit seinen Eltern zusammen und erklärte ihnen, dass er nichts mehr mit ihnen zu tun haben wollte – keinen Kontakt, keine Besuche, überhaupt keine Beziehung mehr. Er sei sogar dabei, seinen Nachnamen zu ändern, um den umfassenden Bruch mit seiner Familie zu bekunden. Soweit es ihn betraf, existierten seine Eltern schlicht nicht mehr. Sam zog also an seinen neuen Wohnort und lebte dort als vorbildlicher Bürger. Er spendete einen ansehnlichen Teil seines Einkommens für wohltätige Zwecke. Er wurde ein großzügiger und liebevoller Ehemann und Vater. Er war ein wohlangesehener und anständiger Einwohner seiner Stadt. Aber dennoch: Bei all seinem ehrenwerten, ja liebevollen Verhalten lag seine Beziehung zu seinen Eltern immer noch in Trümmern.

Ebenso ist es mit uns. Es mag sein, dass wir mit unserer Arbeitsethik, unserer Fürsorge für unsere Familien, unseren wohltätigen Spenden, unseren moralischen Standards usw. den Eindruck machen, wohlanständig (ja, sogar gut!) zu sein. Aber wir leben, als ob es Gott nicht gäbe.

Aus biblischer Sicht ist jedoch die entscheidende Frage im Hinblick auf die Sünde, wie wir zu Gott stehen. Jesus erwartet, dass wir Gott lieben mit unserem ganzen Herzen und mit unserer ganzen Seele und mit unserer ganzen Kraft (Lk 10,27). Das legt die Messlatte beunruhigend hoch.

Und auch das andere Thema, das Jesus nennt – die Sache mit dem Nächsten – sollte uns beunruhigen. Es geht nicht nur darum, unseren Nächsten zu lieben; Jesus sagt, dass wir unseren Nächsten so lieben sollen, wie wir uns selbst lieben (3Mose 19,18; Mt 19,19).

Ein Problem für Gott

Niemand von uns tut das. Und daher lautet das biblische Urteil über die Menschheit, dass wir allesamt Sünder sind. Aber was soll Gott nun damit tun? Wäre es gerecht und fair, wenn er uns einfach so vergeben würde? Das ist eine große Frage in der Bibel und in der christlichen Theologie.

Aber – so wie bei nahezu allen Fragen, die das Verständnis des christlichen Glaubens betreffen – finden wir den Schlüssel in Jesu Tod am Kreuz. Paulus fasst das Evangelium am Anfang von 1. Korinther 15 folgendermaßen zusammen:

„Denn ich habe euch zuallererst das überliefert, was ich auch empfangen habe, nämlich dass Christus für unsere Sünden gestorben ist, nach den Schriften, …“ (1Kor 15,3)

Der Verweis auf die Schriften erinnert uns an die Bedingungen im Alten Testament. Dort im Alten Testament steht auf Sünde die Todesstrafe. Gleich zu Beginn warnt Gott Adam und Eva, dass sie sterben werden, wenn sie seinem Gebot ungehorsam sind und vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen essen.5 Tod ist Gottes Gericht über Sünde.

Allerdings lehrt uns das Alte Testament noch zwei weitere Dinge:

  1. Zum einen lehrt es uns das Prinzip der Stellvertretung. Es gibt ein Opfersystem, in dem ein Tier an die Stelle des Menschen tritt, der das Opfer bringt – wobei es für seine Sünden stirbt.
  2. Außerdem zeigt die Bibel, dass mit diesem Opfersystem in Wirklichkeit eine Person, die eines Tages kommen und die Sünden vieler tragen würde, vorweggenommen wurde. Jesaja 53 verdeutlicht das, wenn dort prophetisch die Ankunft eines Jemands, benannt als der „Knecht“, angekündigt wird, für den gilt:

„Doch er wurde um unserer Übertretungen willen durchbohrt, wegen unserer Missetaten zerschlagen; die Strafe lag auf ihm, damit wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt worden.“ (Jes 53,5)

Dieser Knecht war Jesus. Als er am Kreuz starb, tat er das als der unschuldig Leidende, der die Sünden anderer trug, damit ihnen ihre Sünden vergeben werden konnten.6

Und auf diese Weise wurde in Jesus unsere Sünde angemessen geahndet. Gott wahrt seine Gerechtigkeit und ist dennoch der, der Sünde vergibt.

Die Kraft der Vergebung Gottes

Die Kraft der Vergebung Gottes wird im Lukasevangelium wunderbar deutlich. Wir lesen dort von den beiden Männern, die mit Jesus gekreuzigt wurden – beides Kriminelle. Der eine beschimpft Jesus, fordert ihn spottend heraus, doch seine Macht zu zeigen und sich selbst zu retten. Doch der andere weist ihn zurecht und bekennt seine Sünden: „Fürchtest auch du Gott nicht, da du doch in dem gleichen Gericht bist? Und wir gerechterweise, denn wir empfangen, was unsere Taten wert sind; dieser aber hat nichts Unrechtes getan!“ (Lk 23,40–41).

Obwohl dieser Mann zugibt, dass seine Sünden bestraft werden müssen, wagt er es, (implizit) Jesus um Vergebung zu bitten: „Herr, gedenke an mich, wenn du in deiner Königsherrschaft kommst!“ (Lk 23,42). Und Jesu Antwort ist wunderbar: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein!“ (Lk 23,43).

Es hat schon viele Menschen wie Gordon Wilson gegeben, die dem Beispiel Jesu mit bemerkenswerten Schritten der Vergebung gefolgt sind. Aber Vergebung ist vor allem etwas, das wir alle selbst benötigen.

Egal, wer du bist und was du getan hast – Gott kann auch dir vergeben!

Fussnoten

1 Der „Remembrance Day“ ist ein Gedenktag im Vereinigten Königreich und dem Commonwealth, der an den Beitrag der aus dem Commonwealth stammenden Soldaten und Zivilisten erinnert, die in den beiden Weltkriegen und späteren Konflikten Dienst taten. Er wird jährlich am zweiten Sonntag im November gefeiert.

2 https://www.gettyimages.com.au/detail/video/enniskillen-ira-bomb-northern-ireland-ulster-enniskillen-news-footage/866652622

3 https://www.pbs.org/video/religion-and-ethics-newsweekly-irish-reconciliation/

4 Das ist die erweiterte Version einer Illustration, die ich erstmals von meinem Freund Nigel Beynon gehört habe.

5 Nicht der Baum der Erkenntnis – sondern der Erkenntnis (im Sinne von Erleben) des Guten und Bösen! Das bedeutet, dass dieser Bericht nicht gegen Erkenntnis (im Sinne von Wissen) polemisiert, sondern gegen das Böse.

6 Es gibt Menschen, die das als eine haarsträubende kosmische Kindesmisshandlung betrachten – als würde der liebe Jesus uns vor einem garstigen Gott retten. Aber wir können sie nicht so gegeneinander ausspielen. Jesus ist gleichenWesens mit dem Vater – der wahre Sohn Gottes. Paulus sieht sie so als Einheit, dass „Gott in Christus war und die Welt mit sich selbst versöhnte“ (2Kor 5,19).