„Christen­tum ist ein Mann­schafts­sport

Die Einzigartigkeit christlicher Gemeinschaft

Artikel von Peter Orr  und Rory Shiner
6. April 2020 — 10 Min Lesedauer

Im Anschluss an ihren ersten Artikel über Geschichte und ihren Sinn setzen Peter Orr und Rory Shiner ihre Reihe über grundlegende christliche Kernüberzeugungen fort. Im folgenden Artikel stellen sie das Konzept von „Kirche“ vor und zeigen, warum man sich in einer Gemeinde einbringen sollte.


Wie wir in unserem ersten Beitrag gezeigt haben, ringt der moderne Westen darum, Bedeutung und Sinn zu finden. Das Leben scheint oft wenig dynamisch, ziellos und enttäuschend zu sein. Mit den Worten des Philosophen Charles Taylor stellen wir uns die Frage: „Ist das alles, was es gibt?“

Wir kämpfen auch darum, Gemeinschaft zu schaffen. Das Leben fühlt sich abgeschnitten, entfremdet und einsam an. Mit den Worten des Sängers der Band „Queen“, Freddie Mercury, fragen wir uns: „Kann irgendwer jemanden finden, den ich lieben kann?“

Natürlich haben wir Tinder. Aber gerade Tinder beweist die Aussage. Wir dachten, wir würden nach Intimität suchen. Aber sechzig Jahre nach der sexuellen Revolution – und ein gutes Jahrzehnt seitdem wir uns durch Algorithmen einen Sexualpartner finden lassen – stellt sich heraus, dass wir nicht nach Intimität sondern Gemeinschaft gesucht haben.

Aber es gibt einen Haken dabei: Gemeinschaft erfordert Verpflichtung. Sie erfordert die Entscheidung, eine große Bandbreite möglicher Beziehungen aufzugeben, um sich gerade für diese Art von Beziehungen zu engagieren. Und genau das ist es, was uns schwer fällt. Wie der Affe, der die Banane im Käfig hält, weigern wir uns, genau die Sache loszulassen, die wir loslassen müssen – unsere Freiheit. So haben wir letztendlich nie das, was wir brauchen – Gemeinschaft.

Die heilige universelle (katholische) Kirche

Christen verstehen seit jeher, dass der Glaube an Jesus Zugehörigkeit zu seinem Volk, d.h. Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft beinhaltet. Mit den Worten der Glaubensbekenntnisse: Christen glauben an die heilige universelle Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen.

Was bedeutet es, an die Kirche zu „glauben“? Die Existenz von Kirchen ist eine empirische Tatsache. Daran zu glauben, dass es so etwas wie Kirchen gibt, ist nicht schwer. Aber an die Kirche zu glauben? Was heißt das? Lasst uns sehen, ob wir es aufschlüsseln können.

In Bekenntnissen bedeutet das Wort „katholisch“ etwas wie „universell“, „geteilt“, „vereinte Vielfalt“, „altgläubig“. In der heutigen Sprache verursacht das Wort manchmal Verwirrung, weil es so scheinen kann, als würde es sich alleine auf die römisch-katholische Kirche beziehen. Aber jedes andere Wort, das wir wählen könnten, kommt in seiner Tragweite nicht an das Wort „katholisch“ heran. Welches Wort bedeutet „orthodox“, „Einheit in Vielfalt“, „an verschiedenen Orten“, „Christen quer durch Raum und Zeit“ und „dreieinig“ zugleich? Wir sind der Meinung, es ist besser, das Wort zu verwenden, das all das sagt, und dann zu erklären, was das „alles“ eigentlich beinhaltet.

Was bedeutet es, zu sagen, die Kirche sei „katholisch“? Es ist leichter, dies anhand von Verneinungen zu erfassen. Eine Kirche, die nicht katholisch ist, wäre eine sektiererische Kirche: Sie wäre komplett unabhängig, würde andere Kirchen nur ungern als echt anerkennen, würde die Vorstellung hegen, dass das, was sie glauben und tun, mehr oder weniger ausschließlich nur auf sie zutrifft, und würde sich darüber freuen, dass sie (in Worten des Fleetwood Mac songs) bei einigen elementaren Lehren „ihren eigenen Weg gegangen“ ist.

Im Gegensatz dazu ist eine katholische Kirche eine Kirche, die fröhlich und freudig anerkennt, dass die besten Dinge an ihr nicht nur für sie gelten. Wie die neutestamentliche Gemeinde in Korinth sind dies Kirchen, die sich gerne daran erinnern, dass sie „mit allen, die den Namen unseres Herrn Jesus Christus anrufen an jedem Ort“ (1Kor 1,2) zusammen gehören.

Kirche und Versammlung

Wir sprechen von „Kirche“ als Gebäude oder als Veranstaltung, bei der sich Christen versammeln, aber nicht zwingend in einem Kirchengebäude. Im Neuen Testament wird das Wort „Kirche“ überwiegend im zweiten Sinn verwendet. „Kirche“ bedeutet Versammlung.

Warum Versammlung?

Also warum versammeln sich Christen? Historisch gesehen könnte man argumentieren: sie hatten keine andere Wahl. Es war die einzige Möglichkeit, um viele wichtige Funktionen zu erfüllen. Sehr wenige besaßen eine Bibel. Viele konnten nicht lesen. Die einzige Möglichkeit, Gottes Wort zu hören, bestand darin, sich zu treffen und zuzuhören, wenn es gelesen wurde. Nicht viele waren gebildet, also kamen sie zusammen, um die Lehre zu hören. Nicht viele besaßen Musikinstrumente, so dass Singen und Musizieren für Gott notwendigerweise den Einsatz der ganzen Gruppe erforderte. Es gab keine Telefone, also brauchte es echte Gespräche, um Gebetsanliegen mitzuteilen und die Bedürfnisse des anderen zu erfahren.

Das heißt zusammengefasst: Sie versammelten sich, um eine oft gesprächige und halbfertige Version dessen zu sein, was du in einem Augenblick mit deinem Smartphone bewerkstelligen könntest.

Warum aber versammeln sich Christen dann immer noch?

Wir versammeln uns als Volk. Wir treffen uns physisch, denn Gott hat uns Körper gegeben. Wir treffen uns mit bestimmten Menschen, weil Liebe die Begegnung mit bestimmten Menschen an bestimmten Orten erfordert. Wir opfern bewusst einen Teil unserer Freiheit, um Gemeinschaft zu schaffen.

Wir glauben an die Kirche. Und wir glauben, dass das, was beim Versammeln in der Kirche geschieht, beinahe unvorstellbar großartig und schön ist:

  • Wir glauben, dass Christus anwesend ist; dass sein Geist mit uns ist.
  • Wir glauben, dass Gott in seinem Wort zu uns spricht. Wir glauben, dass unsere Stimmen sich mit denen von Engeln und Erzengeln zu himmlischem Lob vereinen.
  • Wir glauben, dass wir an dem niemals endenden Lobpreis Gottes, der – genau jetzt – im Himmel dargebracht wird, teilnehmen.
  • Wir glauben, dass unsere Worte und Lieder Gott gefallen, da sie durch den Sohn und durch den Geist dargebracht werden.
  • Wir glauben, dass wir die Herzen der bösen Mächte in Angst und Schrecken versetzen – dass Satan und seine Schergen vor der Kraft unseres Lobes und unserer Verkündigung des Evangeliums sich als feige und erbärmlich offenbaren.

Das, so glauben wir, passiert, wenn wir uns als Gemeinde versammeln!

Ruhmreiche Außenseiter

Aber was wirst du sehen, wenn du zum Gottesdienst kommst? Einen Haufen zerbrochener Menschen, die mehr schlecht als recht zusammenpassen und zusammen einen Gottesdienst feiern, der nur allzu offensichtlich das Produkt ihrer beschränkten Begabungen ist.

  • Die Musik könnte nach deinem Geschmack sein (oder auch nicht).
  • Die Predigt könnte dich berühren (oder auch nicht).
  • Ein unruhiges Kleinkind wird deine Konzentrationsfähigkeit und die Nerven seiner Eltern herausfordern.
  • Vielleicht wirst du einen bedürftigen, einsamen Mann treffen, der höchstwahrscheinlich dort ist, weil die Kirche seine größte Chance auf einen freundschaftlichen Umgang in einem ansonsten an Soziakontakten armen Dasein ist.

Der Gottesdienst eignet sich nicht immer für Instagram-Posts. Du wirst in einem Gottesdienst auch nicht immer alle Eindrücke bekommen.

„Eine Ortsgemeinde ist wie eine lokale Theatertruppe von Amateuren, die das von Gott für sie geschriebene Drama mit Herz und Ausdruckskraft vorspielt.“

 

Ich (Rory) bin Pastor. Eine Gemeinde zu leiten ist quasi mein Job. Und durch die Gnade Gottes (wenn ich so sagen darf), ist unsere Gemeinde in Ordnung. Meistens ist der Gesang, die Predigt (meiner bescheidenen Meinung nach) und die Gemeinschaft angemessen, ja sogar ganz anständig. Und trotzdem muss ich mich fast jeden Sonntag durchringen, zur Kirche zu gehen. Wenn mein Kriterium für den Kirchenbesuch wäre: „Ist es das, was ich im Moment am liebsten tun würde?“, könnte ich wohl den jährlichen Rekord aufstellen, nur zwei von 52 möglichen Kirchenbesuchen zu machen. Beim Laufen ist es genauso. Ich möchte nie laufen. Ich hasse Laufen. Ich mag es lieber, einen Burger zu verspeisen. Wenn ich nach dem Motto „Das ist das, was ich jetzt am liebsten tun möchte“ laufen würde, wären die Ergebnisse düster. Aber ich laufe nur selten, weil mir gerade in dem Moment danach ist. Ich laufe, weil ich derjenige sein will, der Laufen gegangen ist. Ich möchte das Ergebnis des Laufens sein. Und, um ehrlich zu sein, macht es mir neun von zehn Mal sogar Spaß, wenn ich meinen anfänglichen Widerstand überwunden habe.

So ist es auch mit der Kirche. Meistens will ich nicht in die Kirche gehen. Aber ich möchte zur Kirche gegangen sein. Ich möchte die Person sein, zu der mich die Kirche formte; die Person sein und werden, zu der mich diese bunte Gesellschaft von Menschen formt, wenn wir Gottes Gnade weitergeben und empfangen. Sobald ich meinem Willen erlaube, meine Gefühle zu überwinden, bin ich fast immer froh, dass ich hingegangen bin. Mit ziemlicher Sicherheit gibt es in der Nähe ihres Wohnortes eine Gruppe von Christen, die sich jede Woche versammelt, um das gemeinsame Leben, von dem sie glauben, dass Gott sie dazu berufen hat, unvollkommen darzustellen: sie singen für Gott, hören sein Wort, bekennen ihre Sünden, suchen Vergebung, grüßen einander – nicht weil sie einander ähnlich sind, sondern weil sie dem gleichen Herrn folgen. Eine Ortsgemeinde ist wie eine lokale Theatertruppe von Amateuren, die das von Gott für sie geschriebene Drama mit Herz und Ausdruckskraft vorspielt.

Wenn du dort auftauchst, wirst du eine Gruppe von Menschen treffen, die schon für dich gebetet hat. Sie werden Gott schon gebeten haben, dich zu segnen, sich selbst dir zu offenbaren und dir den Weg zur Erlösung zu zeigen. Diese Gebete werden höchstwahrscheinlich eher allgemein gewesen sein, als dass sie konkret dich genannt haben. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass ein Christ, den du kennst, namentlich für dich gebetet hat, ist sehr hoch. Und ich bin sicher, dass jemand ein leises Gebet für dich gesprochen haben wird, wenn du zu einer örtlichen Gemeinde gehst, besonders nachdem man dich getroffen oder dich dort gesehen hat.

Wenn du dein Leben Jesus übergibst, wird es mit Gebet beginnen. Und wenn du zum ersten Mal betest, wird es – wenn ich so sagen darf – nicht das erste Mal sein, dass Gott von dir gehört hat. Christen werden vor dir angefangen haben, Gott zu bitten, deine Gebete zu hören und zu beantworten. Ich hoffe, du findest das auf ungewöhnliche Weise ermutigend.

Zusammenfassung

Das Christentum ist ein Mannschaftssport. Es ist ein Leben, das wir gemeinsam leben. Auf der einen Seite erhebt Kirche uns aus der Begrenzung von Zeit, Ort, Herkunft und Sprache heraus. Sie verbindet uns über Zeit und Raum hinweg mit dem Himmel, mit Gott und mit dem Volk Gottes. Das ist es was wir mit katholisch/universell meinen.

Aber interessanterweise ist Kirche auf der anderen Seite auch das, was uns in die Zeit einbettet, was uns an eine bestimmte Gruppe von Menschen an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit bindet. Gemeinden werden durch das gemeinsame Interesse gebildet, Gemeinschaft mit dem einen Herrn zu haben. Hier stellt Gott vor allem das zur Verfügung, was wir brauchen, um weiter für ihn zu leben. Und damit bietet er etwas, wozu das moderne westliche Leben auffallend unfähig zu sein scheint – unvollkommene, aber echte Gemeinschaft.