„Dein Krug bin ich“

Artikel von Holger Lahayne
19. März 2020 — 11 Min Lesedauer

„Hilf, Herr Gott hilf“

Mitte des 14. Jahrhunderts kehrte die Pest, der sogenannte Schwarze Tod, mit voller Wucht nach Europa zurück. Schon im Römischen Reich gab es hin und wieder Ausbrüche dieser vom Pestbakterium ausgelösten Krankheit. Zuletzt im östlichen Mittelmeerraum im 8. Jahrhundert. Nach einem halben Jahrtausend Pause schlug die Seuche auf dem europäischen Kontinent nochmals heftig zu. Experten vermuten, dass ein Drittel der Bevölkerung dahingerafft wurde.

Die Pest trat bis zum 18. Jahrhundert immer wieder auf. Um 1700 etwa in Ostpreußen oder 1665/66 in London. In der englischen Metropole starben damals 70.000 Menschen. Gern vergessen wir, dass der Beginn der Reformationsepoche in Deutschland ebenfalls von einem Pestausbruch begleitet war. Das Jahr des Thesenanschlags markiert auch den Beginn einer neuen Welle der „Pestilenz“. Über die Städte am Rhein kommend erreichte die Pest nach und nach die Eidgenossenschaft im Süden und im August 1519 die Stadt Zürich. Im Winter ebbte die Epidemie ab, nachdem sie mehrere tausend Tote hinterlassen hatte. Etwa ein Drittel der Stadtbevölkerung starb während der Plage. 

Ulrich Zwingli hatte erst vor sechs Monaten sein Amt als Pfarrer am Grossmünster der Stadt angetreten. Bei Ausbruch der Pest war er selbst nicht in der Stadt, da er sich bei einem Kuraufenthalt erholte. Für Zwingli stand die eigene Gesundheit gleichwohl nicht an oberster Stelle. Er kehrte nach Zürich zurück und stand den Kranken und Sterbenden als Seelsorger zur Seite (wie übrigens 1527 auch Luther bei einer Pestseuche in Wittenberg). Enge Mitarbeiter und Verwandte schickte er hingegen zu ihrem Schutz aus der Stadt.

Im September steckte sich Zwingli selbst an und rang mit dem Tod. Er überlebte. Sein Bruder starb allerdings 1520. In diesem Jahr schrieb der Reformator das bekannte „Pestlied“, in dem er die Erfahrungen der schweren Erkrankung verarbeitete. Es beginnt mit einem Schrei der Hilfe: „Hilf, Herr Gott hilf / in dieser Not! / Mir scheint, der Tod / stehe an der Tür“. Zwingli befiehlt sich dem Willen Gottes an: „Zu dir ich schrei. / Ist es dein Will’, / zieh aus den Pfeil, / der mich verwund’t“.

„Ist es dein Will’“ – Zwingli wendet das „Dein Wille geschehe“ des Vaterunsers an, ergibt sich ganz dem Willen Gottes, was auch in diesen Zeilen deutlich wird: „Willst du denn gleich / tot haben mich / inmitten meiner Tage, / so soll es willig sein. / Tu, wie du willst, / mir ist nichts zu viel. / Dein Krug bin ich, / mach ganz oder brich.“ Gott müsse nun den Kampf führen, da er zu schwach ist, „dem Fallstrick und frechen Zugriff des Teufels“ zu widerstehen. Er ist gewiss: „Jedoch wird meine Seele / dir treu bleiben, / wie immer er auch wüte.“

Der gute Gott

Der Glaube an Vorsehung und Prädestination wird häufig als besonderes Lehrelement der Reformierten angesehen. Tatsächlich ist schon im Pestlied ein starker Glaube an die Vorsehung zu erkennen. Hat im Fall Calvins die Erfahrung von Verfolgung und Flucht den Glauben an die Vorsehung als tiefen Trost angestoßen und verstärkt, so war es bei Zwingli die persönliche Konfrontation mit dem eigenen Tod.

Der Vorsehungsglaube hat heute keinen guten Ruf; er riecht nach Passivität und Fatalismus. Von einem falschen Gottesbild ist selbst unter Christen schnell die Rede. Dabei müsste man sich einfach nur die Mühe machen, Zwinglis Erfahrungen und seine späteren theologischen Schriften in Beziehung zu setzen.

1525 erschien Zwinglis Kommentar über die wahre und falsche Religion.[1] Neben der Erläuterung der 67 Schlussreden oder Thesen von 1523 ist dieses ausführliche Werk in lateinischer Sprache eines der wichtigsten aus der Feder des Reformators. Gleich nach den Ausführungen zu Begriff und Objekt der Religion schildert Zwingli seine Gotteslehre. Eine zentrale und mehrfach betonte Aussage des Zürcher Reformators ist, dass Gott der durch und durch Gute ist; Gott ist außerdem die Quelle alles Guten.

„Der alles kontrollierende Gott der Vorsehung ist der schlechthin gute Gott. Es ist nicht ein ferner Gott der Philosophen und auch keine abstrakte, unpersönliche Kraft wie das Schicksal oder Ähnliches.“

 

Zwingli verbindet wie so oft logische Argumente mit biblischer Grundlegung. Die Aussage von 1Mose 1,31: „Und Gott sah alles, was er gemacht hatte; und siehe, es war sehr gut“, kommentiert er wie folgt: „Wenn also die zahllose Reihe aller Geschöpfe und alle zusammen gut waren, so ist klar, dass ihr Urheber gut sein muss.“ Gott ist das „höchste Gut“, der Gute schlechthin. Diese Gutheit bedeutet, dass sie „von Natur gütig und freigiebig“ ist. „Jenes göttliche Gute strömt über, dass es mehr als ausreicht, die Anliegen aller Menschen zu erfüllen; denn es ist unendlich und will gern ausgeteilt werden.“ Die Menschen wurden dazu geschaffen, „dass sie seine Freigiebigkeit genießen“.

Diese Gutheit Gottes bildet für Zwingli nun eine unauflösliche Einheit mit Gottes „höchster Weisheit und Vorsehung“. Alle drei hängen direkt zusammen. Wir können erkennen, „dass das ganze Testament darauf abzielt, zu zeigen, dass alles durch die Vorsehung Gottes geschieht.“ Wir können aus Versen wie Matthäus 6,25–34 wissen, „dass die himmlische Vorsehung sich um uns kümmert“. Der alles kontrollierende Gott der Vorsehung ist der schlechthin gute Gott. Es ist nicht ein ferner Gott der Philosophen und auch keine abstrakte, unpersönliche Kraft wie das Schicksal oder Ähnliches.

Das Pestbekenntnis

Zwingli starb 1531 auf dem Schlachtfeld bei Kappel. Zu seinem Nachfolger wurde der 1504 geborene Heinrich Bullinger berufen. Wie seinem Vorgänger lag auch diesem Vorsteher der Zürcher Kirche die Sozialarbeit (wie wir es heute nennen würden) sehr am Herzen. Bullinger erinnerte immer wieder an die sozialen Pflichten der Gemeinde – seit Zwingli ein zentrales theologisches Thema. Hilfe für Arme, Kranke, Flüchtlinge waren ihm ein wichtiges Anliegen. Armenpflege war auch sichtbarer Ausdruck der im Abendmahl ausgedrückten Zusammengehörigkeit der Gemeinde. Schon 1535 verfasste Bullinger mit Unterweisung der Kranken einen Leitfaden zur Seelsorge an leidenden Menschen.[2]

Die Pest drang nach 1519 immer wieder in die Schweiz ein; 1541, 1611 und 1630  wurde das ganze Land betroffen. Genf suchte die Seuche 1568/72 heim, Basel 1563/64; der letzte Pestzug war 1665/70.

1564 kehrte die Seuche nach Zürich zurück. Im September erkrankte Bullinger selbst. Am dritten Tag sah er sich dem Tod nahe und rief die Kollegen, um sich von ihnen zu verabschieden. Doch wie Zwingli konnte er dem Pesttod entrinnen. Seine Frau und einige ihrer gemeinsamen Kinder starben indes.

Der erneute Ausbruch der Pest gab Bullinger den Anstoß, ein ausführliches Glaubensbekenntnis, eine Zusammenfassung des evangelischen Glaubens, zu formulieren. In einem Brief aus dem Jahr 1565 schreibt der Reformator: „Ich hatte diese [Erläuterung unseres Glaubens] anno 1564 geschrieben, als die Pest um sich griff, um sie nach mir [d.h. nach meinem Hinscheiden] zurückzulassen und dem Rat [der Stadt] als Testament meinen Glaubens und Bekenntnis meiner Lehre zu übergeben.“ Bullinger beendete seine Arbeit an dem Text nach seiner Genesung. 1566 wurde das Glaubensbekenntnis veröffentlicht. Das Zweite Helvetische Bekenntnis[3] erreichte eine enorme Verbreitung und ist seit 1570 Lehrgrundlage in der reformierten Kirche Polens und Litauens.

Man beachte die Umstände der Entstehung dieses Glaubensdokuments – wieder ein Massensterben und die persönliche Konfrontation mit dem Tod. In diesem Licht sind auch die Aussagen Bullingers zur Vorsehung in Kapitel VI zu sehen. Er beginnt so: „Wir glauben, dass durch die Vorsehung dieses weisen, ewigen und allmächtigen Gottes alles im Himmel und auf Erden und bei allen Geschöpfen erhalten und geleitet werde.“ Im folgenden Kapitel VII zur Schöpfung setzt er fort und fügt die Gutheit Gottes hinzu: „Dieser gute und allmächtige Gott hat durch sein Wort, das mit ihm ewig ist, alles Sichtbare und Unsichtbare erschaffen und erhält es auch durch seinen Geist, der mit ihm ewig ist.“

Ganz auf der Linie Zwinglis schreibt Bullinger im Kapitel über den Glauben, dass dieser ein Erfassen „Gottes selbst als des höchsten Gutes“ ist (XVI,1). Und schon Jahre zuvor, in einem seiner Hauptwerke, den sogenannten Dekaden[4], sagt er (Predigt 33): „Wie Gott selber die Fülle alles Guten ist, so teilt er auch den Menschen alles Gute reichlich aus.“

Weisheit, Güte und Macht

„Seit Zwingli wird in der reformierten Tradition die Vorsehung und umfassende Herrschaft Gottes, die auf seiner Allmacht ruht, eng mit der Güte des Schöpfers und Erlösers verbunden.“

 

Bullingers Freund und Kollege Johannes Calvin setzt in seiner Institutio[5] ganz ähnliche Akzente. Gleich im ersten Abschnitt des zweiten Kapitels über „Wesen und Aufgabe der Gotteserkenntnis“ (I,2,1) betont der Reformator, dass wahre Gotteserkenntnis immer eine zweifache ist: nämlich die der Allmacht des Schöpfers und die der Liebe des Erlösers. Aber nicht nur das Heil ist der Güte Gottes zu verdanken; er ist der „Brunnquell aller Güter“, da Gott „die Welt, wie er sie einst schuf, so noch stets mit unendlicher Macht trägt, mit seiner Weisheit ordnet, mit seiner Güte erhält“. Wahre Gotteserkenntnis ist die „Wahrnehmung der Macht und Güte Gottes“, „Erkenntnis seiner Wohltaten“ und seiner „väterlichen Fürsorge“. Schon im Genfer Katechismus[6] hielt Calvin fest, dass Gott „durch seine Weisheit, Güte und Macht den ganzen Lauf und die ganze Ordnung der Natur lenkt“.

Seit Zwingli wird in der reformierten Tradition die Vorsehung und umfassende Herrschaft Gottes, die auf seiner Allmacht ruht, eng mit der Güte des Schöpfers und Erlösers verbunden. So heißt es im Niederländischen Bekenntnis[7] von 1562 zu Beginn von Artikel 13 zur Vorsehung: „Wir glauben, dass der liebe Gott“ die geschaffene Welt „keineswegs der Willkür des Zufalls oder Schicksals überlassen hat“. Autor Guido de Bres spricht von Gottes „unermesslichem Trost“ und seiner „väterlichen Sorge“. Im Artikel 1 „Vom Wesen Gottes“ wird Gott durch eine negative Reihe von Eigenschaften charakterisiert. Gott ist „unbegreiflich, unsichtbar, unveränderlich, unendlich“. Es folgen die positiven Wesensarten wie „vollkommen weise, gerecht und gut“. Gott ist „die reichlichste Quelle aller Güter“.

Diese Linie führt bis zum Heidelberger Katechismus[8] von 1563. In Frage 26 beendet der Hauptautor Zacharias Ursinus die Auslegung von „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer…“ sicher nicht zufällig mit dem „getreuen“ oder guten Vater: „Auf ihn vertraue ich und zweifle nicht, dass er mich mit allem versorgt, was ich für Leib und Seele nötig habe, und auch alle Lasten, die er mir in diesem Leben auferlegt, mir zum Besten wendet. Er kann es tun als ein allmächtiger Gott und will es auch tun als ein getreuer Vater.“ Hier finden wir erneut die beiden Pole Macht und Güte Gottes als Elemente der wahren Gotteserkenntnis.

In der folgendende Frage 27 zur Vorsehung Gottes spannt Ursinus den Bogen von der Allmacht zum gütigen Vater: „Die allmächtige und gegenwärtige Kraft Gottes, durch die er Himmel und Erde mit allen Geschöpfen wie durch seine Hand noch erhält und so regiert, dass Laub und Gras, Regen und Dürre, fruchtbare und unfruchtbare Jahre, Essen und Trinken, Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut und alles andere uns nicht durch Zufall, sondern aus seiner väterlichen Hand zukommt.“

Die Reihe schließt Frage 28 ab: „Was nützt uns die Erkenntnis der Schöpfung und Vorsehung Gottes?“ Antwort: „Gott will damit, dass wir in aller Widerwärtigkeit geduldig, in Glückseligkeit dankbar und auf die Zukunft hin voller Vertrauen zu unserem treuen Gott und Vater sind, dass uns nichts von seiner Liebe scheiden wird, weil alle Geschöpfe so in seiner Hand sind, dass sie sich ohne seinen Willen weder regen noch bewegen können.“ Der Schluss macht deutlich: Gott übt die Herrschaft über seine Geschöpfe umfassend aus. Auf der Allmacht des Schöpfers ruht etwas Positives: das volle „Vertrauen zu unserem treuen Gott und Vater“.

Kein blinder Schicksalsglaube

Guide de Bres wurde in den von Spanien beherrschten Niederlanden wegen seines Glaubens hingerichtet. Calvin war ein Glaubensflüchtling, der von zahlreichen Krankheiten geplagt war. Zwingli und Bullinger erkrankten an der Pest und sahen dem nahen Tod ins Auge. In ihren Schriften ist kein Hauch von Wohlstandsevangelium oder dergleichen zu erkennen. Sie wussten und erfuhren, dass dem Christen kein auf Rosen gebettetes Leben versprochen ist. Im Gegenteil: Sie ergaben sich dem Willen und der Vorsehung Gottes. Doch dies war und ist kein blinder Schicksalsglaube oder Fatalismus. Der Gott, in dessen Hände man sich begeben kann, ist weise und gerecht, allmächtig und gut. Darauf ruht die Trostbotschaft des Heidelberger Katechismus und der ganzen reformierten Tradition. Ob in Zeiten der Pest oder des Coronavirus.

[1]Nachzulesen in: Ulrich Zwingli, Schriften, Bd.3. Zürich: TVZ, 1995, S. 31–477.

[2]Heinrich Bullinger, Schriften, Bd. 1, Zürich: TVZ, 2006, S. 103–169.

[3]Heinrich Bullinger, Das Zweite Helvetische Bekenntnis, Zürich: TVZ, 2017.

[4]Heinrich Bullinger, Schriften, Bd. 3–5, Zürich: TVZ, 2006.

[5]Johannes Calvin, Institutio Christianae Religionis, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008.

[6]Sieehe URL: https://www.evangelischer-glaube.de/app/download/10232700397/J.+Calvin%2C+Der+Genfer+Katechismus.pdf?t=1571837207 (Stand: 19.03.2020).

[7]Siehe URL: http://www.serk-heidelberg.de/unser-glaube/unser-glaubensbekenntnis/ (Stand: 19.03.2020).

[8]Siehe URL: https://www.bucer.de/fileadmin/_migrated/tx_org/mbstexte059.pdf (Stand: 19.03.2020).