Tapfere Gemeindemänner

Rezension von Waldemar Henschel
31. März 2020 — 11 Min Lesedauer

Manchmal sind Vorträge von Pastoren, die auf ihren langjährigen Dienst zurückblicken und „aus dem Nähkästchen plaudern“, heimliches Highlight christlicher Konferenzen. Sie bieten einen unverhohlenen Blick auf das Herz des Redners, schaffen durch den persönlichen Ton Nähe und dadurch das Gefühl, Seite an Seite in demselben Kampf zu stehen. Sie ermutigen, das Vorbild des Redners nachzuahmen. Jerry Wraggs Tapfere Gemeindemänner. Wie Leiter leben und lehren, so dass andere ihnen nachfolgen will dem Leser ein ebensolches Gefühl vermitteln. Wragg, diesjähriger Hauptredner der Hirtenkonferenz in Wittenberg, ist langjähriger Ältester einer Gemeinde in Florida (USA). Immer wieder lässt er persönliche Erfahrungen einfließen. Das Buch ermutigt Leiter, ihren Dienst mit voller Hingabe an das Wort Gottes auszufüllen. Es ist in drei Teile gegliedert. Zusammengefasst geht es im ersten Teil um den zentralen Fokus (Kapitel 1–2) und die grundlegenden Eigenschaften (Kapitel 3–5) eines Leiters, der Gott gefällt. Im zweiten Teil werden Gefahren beschrieben, die mit Leiterschaft einhergehen (Kapitel 6–12). Im letzten Teil wird die Heranbildung neuer Leiter in den Blick genommen (Kapitel 13–14).

Der Herr sieht das Herz an

Im ersten Teil beschreibt Wragg, wie eine gesunde „Dynamik der Leiterschaft“ entsteht. Ein guter Leiter zeichnet sich durch den Fokus auf das Wort Gottes und Charakterstärke aus. Diese beiden Merkmale, auf die Wragg in den ersten beiden Kapiteln eingeht, bilden das Fundament von Leiterschaft. Sie sind die Basis für die „besonderen Qualitäten“ (S. 146), auf die Wragg in den weiteren Kapiteln des Buches eingeht.

„Das Anliegen Wraggs, das Wort Gottes nicht durch die Kultur zu verwässern, ist zu begrüßen. Mit der scharfen Gegenüberstellung von Kultur und Wort Gottes macht er es sich aber zu einfach.“

 

Für Wragg ist der „heutige Mangel an guter Leiterschaft in der Gemeinde [...] das unmittelbare Ergebnis schwacher Überzeugungen und verwässter Lehre“ (S. 261). Er beobachtet eine „andauernde Unterernährung“ (S. 32) der Gemeinde, weil viele „Leiterschaftsmodelle von heute [...] das einfache Vertrauen in das Wirken des Heiligen Geistes“ (S. 29) verloren haben. Deshalb betont er, dass die Gemeinde Leiter braucht, „die im Blick auf das Wachstum von Gottes Volk ihre Zuversicht allein auf das Wort Gottes setzen“ (S. 33). Für Wragg steht diese Haltung im Gegensatz dazu, das Evangelium angepasst an die Kultur zu verkündigen: „Solche einflussreichen Männer zittern vor Gottes Wort, anstatt auf die Kultur einzugehen“ (S. 20). Wragg beruft sich auf die Geschichte Israels, bei der das Volk einen König forderte, der „unbedingt dem kulturellen Ideal entsprechen“ (S. 42f.) sollte. Er sieht eine Parallele zur heutigen Situation, wenn bei der Auswahl eines Leiters der Charakter eine untergeordnete Rolle spielt. Er betont mit Blick auf die alttestamentliche Geschichte, dass der Herr aber das Herz ansieht (1Sam 16,7b). Mit seiner scharfen Gegenüberstellung von Leitern, die auf die Kultur eingehen und solchen, die dem Wort Gottes treu sind, vereinfacht Wragg eine komplexe Fragestellung. Paulus z.B. lässt in seine Verkündigung in Athen Elemente der Kultur einfließen. Ist er damit dem Wort Gottes untreu geworden? Das Anliegen Wraggs, das Wort Gottes nicht durch die Kultur zu verwässern, ist zu begrüßen. Mit der scharfen Gegenüberstellung von Kultur und Wort Gottes macht er es sich aber zu einfach. Eine differenziertere Sicht hätte das Buch bereichert.

In den folgenden drei Kapiteln werden grundlegende Merkmale eines charakterstarken Leiters formuliert: Demut, Integrität und Treue. Wragg verankert Demut als Kernelement zurecht in der Botschaft des Evangeliums. Demut, erklärt er, fängt „im Feuer eines ungetrübten Blickes auf das Wesen Gottes“ (S. 53) an. Wenn Sünder dem heiligen Gott begegnen und verstehen, dass Christus an ihrer Stelle am Kreuz hing, entsteht Demut. Deshalb fordert Wragg: „Wir dürfen nicht zulassen, dass das Wunder und die Majestät des Kreuzes in unserem Verständnis verblassen“ (S. 59). Demut hat tiefe Auswirkungen auf Leiterschaft. Wer demütig ist, der hält sich selbst nicht für wichtig oder unentbehrlich. Er ist nicht genervt von schwierigen Menschen, sondern ist für den kleinsten sichtbaren Fortschritt dankbar. Er reagiert nicht zynisch und lieblos. Wragg erklärt: „Wie kann ich – ein Sünder, der aus Gnade gerettet wurde – Gottes Kinder ausnutzen und mich selbst über jene erheben, die Mitempfänger der Liebe Gottes sind?“ (S. 60).

Im ersten Teil überrascht, dass Wragg zwar auf die Bedeutung des Charakters hinweist, aber nicht auf die klassischen Bibeltexte (1Tim 3,1–7; Tit 1,5–9) eingeht. Weder in den ersten Kapiteln des Buches noch in Kapitel 11, wo er diese Texte im Zusammenhang mit der Heranbildung neuer Leiter erwähnt, geht er näher darauf ein.

Gefahren von A wie Aggressivität bis Z wie Zynismus

Im zweiten Teil zeigt Wragg verschiedene „Gefahren der Leiterschaft“ auf. Er gibt in Kapitel 6 einen Überblick über Charakterschwächen, die sich einschleichen können. Zynismus, der sich in leblosem Pflichtbewusstsein äußert. Aggressivität, die sich in Arroganz und Frustration zeigt. Hochmut, der mit Unsicherheit einhergeht, die eigene Position zu verlieren. Ab Kapitel 8 beleuchtet er das Thema Kritik, dass er „zu den gefährlichsten und potenziell schmerzlichsten Herausforderungen“ (S. 143) zählt, mit denen ein Leiter konfrontiert wird. Er verweist auf das Vorbild von Paulus, der Kritik von der Gemeinde in Korinth ertragen musste. Der 2. Korintherbrief zeigt, dass Paulus in seiner Reaktion nicht von persönlichen Verletzungen, sondern von Gottes Absicht mit der Gemeinde motiviert wurde. Wragg geht davon aus, dass das bußfertige Mitglied der Gemeinde (2Kor 2,5–7) Rädelsführer der Kritik an Paulus war. Die Gemeinde hatte ihn laut Wragg deshalb ausgeschlossen. Paulus empfiehlt der Gemeinde, dem Mann zu vergeben und ihm Trost zu gewähren (V. 7). Dies wertet Wragg als Indiz dafür, dass Paulus nicht von eigenen Befindlichkeiten motiviert war. Diese Haltung lässt sich im Brief sicher belegen, die Auslegung dieser Passage ist jedoch fragwürdig (Vgl. S. 152,166f.). Wragg ermutigt, dass Leiter Kritik genauso wie Paulus als „Werkzeug zum Wachstum und zur Veränderung“ (S. 155) betrachten.

Im Anschluss nennt Wragg verschiedene Gründe für Konflikte. Er betont, dass sie keine Überraschung darstellen, denn wo Sünder zusammenkommen, ist Streit unvermeidlich. Satan ist dabei, „einen ganzen Urwald von Parteiungen“ (S. 169) anzupflanzen. Wragg warnt, dass das „zerstörerische Feuer sündiger Konflikte in Gemeinden [...] oft auf die Brandstiftung eines Ältesten zurückgeführt werden“ (S. 194) kann. Ein guter Leiter sollte stattdessen, wenn es zum Konflikt kommt, die Gemeinde „hirtenhaft durch den Schmerz einer Gemeindespaltung navigieren“ (S. 167). Wie das aussehen kann, beschreibt Wragg in Kapitel 10. Hilfreich ist z.B. der Hinweis, dass Leiter sich inmitten eines Konflikts einen weiten Blick bewahren sollten, „um die Frucht zu erkennen, die Gott durch den Konflikt (oder trotz des Konflikts) entstehen lässt“ (S. 196).

In den abschließenden Kapiteln des zweiten Teils berichtet Wragg von einer Krise in seiner Gemeinde, ausgelöst durch die Untreue eines Mitältesten. Wragg beschreibt verschiedene Versuchungen, die mit einem Vertrauensbruch einhergehen. In diesen Kapiteln zeigen sich seine Erfahrung und sein Hirtenherz. Diese Kapitel enthalten einige Impulse für die Seelsorge. Er warnt z.B. vor Rachsucht, einer grundsätzlichen Atmosphäre des Misstrauens, Selbstgerechtigkeit und Selbstmitleid. In scharfem Kontrast zum Ältesten, der nur auf sich selbst bedacht ist, stellt Wragg den Hirten in Kapitel 12 als „geistlichen Wächter“ dar, der die Herde mutig vor allen Gefahren beschützt. Er fordert den Leser auf, sich als Teil einer „langen Abfolge von Soldaten“ (S. 225) nicht zurückzuziehen, nicht menschenfürchtig zu reagieren, sondern mutig für die Wahrheit einzustehen. Er verweist auf den Appell von Paulus an seinen Schüler (2Tim). Wünschenswert wäre, dass Wragg wie der Apostel seine Aufforderungen deutlicher im Evangelium verankert. Sonst klingen die Appelle schnell wie harte militärische Befehle.

Junge Leiter sollten in der Gemeinde ausgebildet werden

Das Buch schließt mit einem Ausblick auf die Heranbildung zukünftiger Leiter. In Kapitel 13 führt Wragg einige Merkmale potenzieller Leiter an. Er fordert, dass diese Männer z.B. zu ihren Fehlern stehen und Verantwortung dafür übernehmen. Im letzten Kapitel des Buches geht Wragg auf die Treffen von Ältesten ein. Es ist ihm ein Anliegen, dass man nicht nur über administrative, sondern theologische und damit verbundene praktische Fragen des Gemeindelebens spricht. Interessant ist sein Vorschlag, von angehenden Leitern zu verlangen, „ihre Theologie praktisch anzuwenden, indem sie ihre eigene biblische Dienstphilosophie ausformulieren und niederschreiben“ (S. 260). Er ermutigt Gemeinden, die Pastorenausbildung nicht an theologische Hochschulen auszulagern: „Ich glaube, dass die Gemeinde Männer in der Theologie und im Hirtendienst unmittelbar im Rahmen der Ortsgemeinde ausbilden kann und sollte“ (S. 271). Sein Vorschlag ist wichtig und zu begrüßen, wenngleich eine theologische Ausbildung und die Einbindung in die Gemeindepraxis nicht per se Gegensätze darstellen. Etwas unklar bleibt, warum Wragg im letzten Kapitel auf das Thema „Urteilsvermögen in Bezug auf Grauzonen“ (S. 262ff.) eingeht. Anhand von Römer 14 unterscheidet er zwischen Leitern mit größerer und weniger Freiheit. Er ermutigt, die eigene Motivation zu prüfen und ggf. auf die eigene Freiheit zu verzichten. Vielleicht greift er die Thematik an dieser Stelle auf, weil es im Zusammenspiel von alten und jungen Leitern zu Konflikten im „Graubereich“ kommen kann. Dieser Abschnitt würde sich jedoch besser in den vorherigen Kapiteln zum Umgang mit Konflikten einfügen.

Wichtiger Aufruf

Tapfere Gemeindemänner von Jerry Wragg ist ein notwendiger Aufruf, das Wort Gottes ins Zentrum von Leiterschaft zu stellen.“

 

Tapfere Gemeindemänner von Jerry Wragg ist ein notwendiger Aufruf, das Wort Gottes ins Zentrum von Leiterschaft zu stellen. Das gilt für Leiter, die im Dienst stehen wie für die Ausbildung neuer Leiter. Wragg fordert den Leser heraus, sein ganzes Vertrauen allein auf Gott zu setzen. Deshalb schließt er jedes Kapitel mit einem Gebet. Wohltuend selbstverständlich geht Wragg zudem im gesamten Buch von einer pluralen Ältestenschaft aus. Beides unterstreicht seine Überzeugung, dass ein guter Leiter sich nicht auf seine eigenen Führungsqualitäten verlässt. Er ist stattdessen demütig und unterordnet sich Gottes Wort.

Schwächen

Ein kleiner Kritikpunkt sind Schwächen in der Übersetzung bzw. im Ausdruck. Was will der Autor sagen, wenn es z.B. heißt, dass Talente einen „logistischen Nutzen“ (S. 36) haben oder dass die „neue Generation von Dienstarchitekten“ sich um „nonkonformistische Ideologien“ (S. 88) dreht? Die Formulierungen, dass unser Herr „von Herrlichkeit zu Hörigkeit“ (S. 64) herabstieg oder dass der Prophet Jeremia Gottes „Mundstück“ (S. 67) ist, sind irreführend. Stellenweise ist die Übersetzung etwas salopp und wirkt befremdend, z.B. wenn der Leiter „seine Pappenheimer“ (S. 87) kennt oder die selbsternannten evangelikalen Leiter etwas „verzapfen“ (S. 94).

Wragg führt immer wieder pauschale Kritik an der jungen Generation von Leitern an. Er stellt z.B. fest: „Leider haben wir es mit einer Generation von neuen Leitern zu tun, die glauben, dass Einfluss von menschlichen Innovationen und Kunstgriffen abhängt. Sie sind zu dem Schluss gelangt, dass Gottes Wort irgendwie einige der wichtigsten Schlüssel für die dynamische Leiterschaft ausgelassen hat“ (S. 27). Er wirft ihnen vor: „Viele der jungen evangelikalen Leiter von heute sind nicht das Produkt der Tugenden, die zur Heiligung beitragen, sondern der Besessenheit unserer Kultur von schamloser Sinnlichkeit“ (S. 40). Seine Kritik ist von der Gemeindewachstumsbewegung und der Emerging Church her zu verstehen und sicher in zahlreichen Fällen berechtigt. Doch wenn er pauschal über die junge Generation von Leitern urteilt und polemisch feststellt „Willkommen in der hirnrissigen Welt des postevangelikalen Gemeindelebens!“ (S. 39), bekommt seine Kritik einen Beigeschmack. Paulus fordert von einem Leiter, dass er trotz klarer Überzeugung „freundlich gegen jedermann“ (2Tim 2,24–26) sein soll. Wragg geht in seiner Kritik an jungen Evangelikalen so weit, dass er urteilt, dass sich die heutige Zeit „als die am meisten umkämpfte Gemeindeepoche bezüglich des Dienstes am Evangelium erweisen wird“ (S. 94). Ein Blick in die Kirchengeschichte lässt den Leser an dieser Einschätzung zweifeln. Die heutige Situation stellt Leiter sicher vor große Herausforderungen, aber sie bietet im Vergleich zu anderen Epochen gleichzeitig viele Chancen für die Verkündigung des Evangeliums. Wragg widerspricht mit seiner pessimistischen Sichtweise seiner eigenen Anforderung, dass Leiter hoffnungsvoll und optimistisch sein sollen (Vgl. S. 249). Das Evangelium bildet eine gute Grundlage dafür. Wir dürfen Gottes Souveränität vertrauen.

Hoffnung für Leiter

Insgesamt vermittelt das Buch von Wragg aber durch den klaren Fokus auf das Wort Gottes Hoffnung für jeden, der als Leiter tätig ist. Es enthält wertvolle Lektionen für aktuelle und zukünftige Älteste. Es zeichnet sich durch die langjährige Erfahrung des Autors aus, die sich in anschaulichen Beispielen und zahlreichen praktischen Hinweisen zeigt. Es ermutigt, das Vertrauen selbst in Krisen und Konflikten auf Gott und sein Wort zu setzen.

Buch

Jerry Wragg. Tapfere Gemeindemänner. Wie Leiter leben und lehren, so dass andere ihnen nachfolgen. EBTC, 2019, 280 S. 14,90 €.