Hätte Jesus sündigen können?

Die Frage nach der impeccabilitas Christi

Artikel von Kevin DeYoung
4. März 2020 — 5 Min Lesedauer

Bei der Lehre von der impeccabilitas geht es darum, dass Christus nicht nur sündlos war, sondern auch außerstande war zu sündigen (non posse peccare). Als menschgewordener Sohn Gottes wurde Christus mit echten Versuchungen konfrontiert, aber diese Versuchungen entsprangen keinen sündigen Begierden in ihm. Christus war nicht nur in der Lage, die Versuchung zu überwinden; er konnte gar nicht von ihr überwunden werden.

Durch die Kirchengeschichte hindurch wurde die impeccabilitas Christi weithin bestätigt und von den meisten Theologen aus dem reformatorischen Lager verteidigt. Erst in den letzten 150 Jahren kam der Gedanke auf, Christus sei doch zum Sündigen fähig gewesen. Man argumentierte, echte "Versuchbarkeit" sei nötig gewesen, damit Christus authentische Versuchungen erfahren konnte und damit er mit seinem Volk mitempfinden konnte. Erstaunlicherweise widersprach sogar der respektable Charles Hodge (1797–1878) der Lehre von der impeccabilitas. Das mag einer der Gründe dafür gewesen sein, weshalb sein Zeitgenosse W. G. T. Shedd (1820–1894) in seiner Dogmatic Theology eine ausgesprochen robuste Verteidigung dieser Lehre präsentierte.

Shedd führte zur Verteidigung der impeccabilitas Christi drei Hauptargumente an.

1. Die impeccabilitas Christi kann aus der Schrift hergeleitet werden

Wenn Jesus Christus gestern und heute und in Ewigkeit derselbe ist (Hebr 13,8), dann muss er auch unveränderlich in seiner Heiligkeit sein. Eine sich ändernde Heiligkeit stünde im Widerspruch zur Allmacht Christi und wäre unvereinbar mit der Tatsache, dass Christus der Anfänger und Vollender unseres Glaubens ist (Hebr 12,2). Christus unterscheidet sich darin vom ersten Adam: Er ist die Quelle aller Heiligkeit und aus ihm kann nur Leben und Licht hervorgehen. Hätte Christus sündigen können, dann hätte es in seiner Heiligkeit per definitionem die Option gegeben, dass sie sich verändert – in seinem Gehorsam die Option, zu scheitern – und das, selbst wenn Christus sich letztendlich als treu erweisen sollte. Ein in dieser Weise versuchlicher Christus ist aber ein Retter, dem man erst im Nachhinein vertrauen kann.

2. Die impeccabilitas Christi ist mit der besonderen Beschaffenheit seiner Person verknüpft

Es besteht kein Zweifel, dass Christus durch den Geist mit außerordentlicher Gnade befähigt wurde. Aber Christus wurde dabei nicht nur gestärkt, um der Versuchung zu widerstehen, sondern die Gegenwart des göttlichen Logos sorgte für die unumstößliche Sicherheit, dass Christus widerstehen würde. Wir sollten nicht denken, dass die beiden Naturen Christi unabhängig voneinander wirksam waren, als wären sie rivalisierende Parteien oder zwei Quellen, aus denen jeweils Erkenntnis und Handeln entspringen, die aber voreinander verborgen sind. Ebenso wenig dürfen wir die beiden Willen Christi als Gegenspieler betrachten. Der endliche Wille gehorchte stets und vollkommen dem unendlichen, so dass Christus es nie erlebte, dass das Begehren des Fleisches gegen den Geist gerichtet ist und das Begehren des Geistes gegen das Fleisch (Gal 5,17).

Aber was machen wir damit, dass Christus Schmerzen, Hunger, Sorgen, Schwachheit und den Tod erlebte? Wie ist das bei einem Gott-Menschen möglich? Wenn wir zu dem Schluss kommen, dass Christus nicht zur Sünde versucht werden konnte, müssen wir dann auch folgern, dass Christus nicht leiden konnte? Natürlich nicht. Shedd unterscheidet hier zwischen „all den unschuldigen Mängeln und Begrenzungen der Endlichkeit“ und „den schuldhaften Mängeln und Begrenzungen“ des sündigen Menschen. Der fleischgewordene Sohn Gottes war den Schwachheiten ausgesetzt, die ein menschlicher Körper mit sich bringt, aber ohne die moralischen Defizite – oder die Möglichkeit moralischer Defizite –, die von der menschlichen Natur herrühren.

Im Zentrum dieses zweiten Punkts steht die Überzeugung des Bekenntnisses von Chalcedon, dass Christus, was immer er tat, er es als ungeteilte gottmenschliche Person tat. Daher, so Shedd, muss die Fähigkeit Christi zur Sünde in Entsprechung zu „seiner mächtigsten Natur“ ermessen werden. So wie ein Eisendraht, für sich alleine genommen, gebogen werden kann, schweißt man ihn aber an eine Eisenstange, dann ist er ein für alle Mal unbeweglich geworden – so bewirkt auch die Vereinigung der menschlichen und göttlichen Natur im Gott-Menschen Jesus Christus die Unfähigkeit zur Sünde. Mit anderen Worten: Zwar besaß Christus die Natur eines zur Sünde verführbaren Menschen, er war aber dennoch eine nicht zur Sünde verführbare, gott-menschliche Person.

3. Impeccabilitas und Versuchung sind kein Widerspruch.

Um mit den Menschen in ihren Versuchungen mitfühlen zu können (Hebr 2,14–18) ist einer der Gründe, weshalb der Logos die menschliche Natur annahm. Wenn wir also die impeccabilitas Christi so stark betonen, dass dadurch die Realität der Versuchung verdrängt wird, dann stehen wir nicht mehr auf dem Boden der Schrift.

Und doch dürfen wir unsere Versuchungen nicht völlig mit Christi Versuchungen gleichsetzen. Das gleiche griechische Substantiv, das in Jakobus 1,2 mit „Versuchungen“ (peirasmois) übersetzt wird, erscheint als Verb „wird versucht“ (peirazetai) in Jakobus 1,14. Manche Versuchungen treten von außen an uns heran, als Prüfungen und Leid – diese hatte Christus ständig zu ertragen. Aber dann gibt es auch noch Versuchungen, die sich als sündige Begierden in unserem Inneren erheben – diese erlebte Christus nie.

Wenn Hebräer 4,15 aussagt, dass Christus in jeder Hinsicht versucht wurde wie wir, doch ohne Sünde, dann sollten wir die Präposition „ohne“ (choris) so verstehen, dass sie sich sowohl auf das Resultat der Versuchungen (nicht wie bei uns: Christus sündigte nicht) erstreckt, als auch auf die Art der Versuchungen (nicht wie bei uns: Christi Versuchungen waren nicht sündhaft). Mit anderen Worten: Wir werden durch die Welt, das Fleisch und den Teufel versucht, aber Christus kannte die Versuchung durch das Fleisch nicht. Oder, wie John Owen es ausdrückte: Christus war mit dem leidhaften Teil der Versuchung konfrontiert, wir zusätzlich mit dem sündigen Teil.

Durch Christi Unfähigkeit zu sündigen wurden seine Versuchungen nicht weniger authentisch. Eine Armee, die nicht besiegt werden kann, kann immer noch angegriffen werden. Eher ist es so, dass Christi Versuchungen intensiver waren als unsere, da er ihnen nie nachgab. Unsere Versuchungen nehmen zu und nehmen ab, weil wir ihnen manchmal widerstehen und ihnen manchmal erliegen. Aber Christus gab nie nach, und entsprechend nahm die Erfahrung der Versuchung sein ganzes Leben lang nur zu. Deshalb kann Christus mit unserer menschlichen Erfahrung der Versuchung mitfühlen, auch wenn es ihm als Gott-Mensch nicht möglich war, diesen Versuchungen nachzugeben.