Ist Gott des Völkermordes schuldig?

Artikel von Michael Kruger
3. Februar 2020 — 6 Min Lesedauer

Armenien. Kambodscha. Ruanda. Bosnien. Darfur. Alles bekannte, moderne Beispiele für Völkermord, bei denen ganze Volksgruppen ausgelöscht (oder fast ausgelöscht) wurden. Das sind schreckliche Tragödien, die unsere Trauer und Anteilnahme verdienen.

Und doch fragen sich kritische Menschen: Ist der Gott der Bibel denn wirklich anders? Als die Israeliten in das Land Kanaan einzogen, war es da nicht Gott, der ihnen befahl, alle Einwohner des Landes auszulöschen (Dtn 20,17)? Ist Gott nicht des Völkermordes schuldig?

Das lässt mich an einen bekannten Spruch auf einem Autoaufkleber denken: „Der einzige Unterschied zwischen Gott und Adolf Hitler besteht darin, dass Gott kompetenter ist, wenn es um Völkermord geht.“

Zugegeben, das ist ein schwieriges und komplexes Thema. Wir fühlen uns verständlicherweise verpflichtet, Gott hier „aus der Patsche zu helfen“ und ihn irgendwie von der Schuld am Tod so vieler Menschen frei zu sprechen. Dafür bieten sich diverse Möglichkeiten an. Vielleicht haben wir den Abschnitt falsch verstanden und fehlinterpretiert. Vielleicht ist er nur symbolisch zu verstehen. Vielleicht haben schon die Israeliten Gottes Gebot missverstanden.

Aber ich glaube nicht, dass wir Gott aus der Patsche helfen müssen. Denn ich glaube nicht, dass er aus der Patsche will. So schmerzhaft dieses Thema auch sein mag, es zeigt, was wir und unsere Kultur mehr denn je hören müssen: Gott ist heilig, Menschen sind sündig, die Welt ist gefallen und sein Urteil ist gerecht.

Um die Vernichtung der Kanaaniter richtig einordnen zu können, müssen wir uns einige Prinzipien wieder ins Gedächtnis rufen.

1. Wir bekommen nicht das, was wir verdient haben

Zunächst verdient jeder Mensch auf dieser Erde Gottes Gericht – nicht nur die Kanaaniter. Auch jetzt, in diesem Moment, sind alle Menschen überall – von der freundlichen alten Dame nebenan bis hin zum verhärteten Verbrecher in der Todeszelle – zutiefst sündig. Und sie sind so auf die Welt gekommen. Von Geburt an sind alle Menschen schuldig, nicht nur aufgrund ihrer eigenen Sünden, sondern auch aufgrund der Sünde Adams, die an sie weitergegeben wurde (Röm 5,12). Und die Strafe für Sünde ist klar: „Der Lohn der Sünde ist der Tod“ (Röm 6,23).

Was bedeutet das? Gott könnte jederzeit jedem Menschen das Leben nehmen, in Vollstreckung des Urteilsspruchs über seine Sünden. Und das wäre absolut gerechtfertigt. Gott ist nicht verpflichtet, irgend jemanden zu erretten.

Damit erscheint plötzlich die Eroberung Kanaans in einem ganz anderen Licht. Anstatt überrascht zu sein, dass Gott die Menschen am Ende für ihre Sünden bestrafen wird (auch in so großer Zahl), sollten wir vielleicht eher schockiert sein, dass er so lange damit wartet. Jeder von uns, der lebt und atmet, tut das allein aufgrund von Gottes unglaublicher Geduld und Gnade.

„Anstatt überrascht zu sein, dass Gott die Menschen am Ende für ihre Sünden bestrafen wird (auch in so großer Zahl), sollten wir vielleicht eher schockiert sein, dass er so lange damit wartet.“

 

2. Unsere Erwartungen liegen weit daneben

Zudem entspricht der Zeitpunkt von Gottes Gericht nicht immer den menschlichen Erwartungen. Es wäre für uns plausibel, wenn Gott zuerst die sündigsten Menschen richten und dann die Liste langsam weiter abarbeiten würde. Aber Gott arbeitet nicht immer so, wie wir es erwarten. Tatsächlich argumentierte Jesus auf genau diese Weise, als er gefragt wurde, warum der Turm von Siloah eingestürzt ist und so viele Menschen in den Tod gerissen hat. Jesus antwortete darauf:

Meint ihr, dass diese schuldiger gewesen sind als alle anderen Leute, die in Jerusalem wohnen? Nein, sage ich euch; sondern wenn ihr nicht Buße tut, so werdet ihr alle auch so umkommen! (Lk 13,4–5)

Autsch. Mit anderen Worten: Menschen müssen nicht die schlimmsten aller Sünder sein, um von Gott gerichtet zu werden. Und er ist auch nicht verpflichtet, alle Menschen zur gleichen Zeit zu richten.

Auch wenn die Kanaaniter nicht die einzigen sündigen Menschen auf der Erde waren und vielleicht nicht einmal die schlimmsten, so waren ihre Sünden doch ungeheuerlich. Gott vertrieb sie vor allem deshalb aus dem Land, weil ihre Praktiken in seinen Augen „verabscheuungswürdig“ waren – abartiger Götzendienst, Zauberei, sexuelle Perversionen, sogar das Opfern ihrer eigenen Kinder als Götzenopfer (Dtn 18,9–14).

Trotz dieser Praktiken war Gott Generation für Generation mit den Bewohnern Kanaans unglaublich geduldig gewesen, schon seit der Zeit Abrahams (Gen 15,13–16). Aber jetzt war Gottes Geduld abgelaufen.

3. Gott richtet durch unterschiedliche Mittel

Außerdem verwendet Gott eine Vielzahl von Instrumenten, um sein Gericht durchzuführen. Sicher, er hätte auf wundersame Art und Weise in einem einzigen Moment allen Kanaanitern gleichzeitig das Leben nehmen können. Aber die Vorgeschichte zeigt, dass Gott verschiedene Mittel gebraucht, um sein Gericht herbeizuführen.

Bis zu diesem Punkt in der biblischen Geschichte hatte Gott bereits Naturkatastrophen, Krankheiten und Pest, Dürre und wirtschaftlichen Zusammenbruch als Werkzeuge seines Gerichts verwendet. Darüber hinaus ließ Gott an zahlreichen Punkten in der Geschichte eine menschliche Armee aufstehen, um seine Ziele zu erreichen. Und in der Niederschlagung der Kanaaniter verwendete er nun die Nation Israel für die Durchführung seines Gerichts.

Hier kommen wir zu einem entscheidenden Unterschied zwischen der Eroberung Kanaans und heutigem Völkermord. Beides bedeutet einen großen Verlust an Leben. Beides wurde durch menschliche Armeen ausgeführt. Die eine Armee war dabei jedoch ein Werkzeug des gerechten Gerichtsurteils Gottes, während es sich bei der anderen um Menschen handelt, die andere Menschen aus eigennützigen Motiven ermorden. An der Oberfläche mag es Ähnlichkeiten geben, aber es ist definitiv nicht dasselbe.

Ein Beispiel soll das verdeutlichen: Stellen wir uns vor, ein Mensch spritzt einem anderen ein tödliches Gift und tötet ihn damit. Ist das Mord? Es kommt drauf an. Wenn es von einem Bandenmitglied verabreicht wurde, das ein konkurrierendes Bandenmitglied ausschalten will, wäre die Antwort „Ja“. Aber wenn der Ausführende ein Beamter eines US-Bundesgefängnisses ist, der vom Staat dazu bevollmächtigt wurde, solche tödlichen Injektionen zu verabreichen, dann wäre die Antwort „Nein“.

Oberflächlich gesehen scheinen beide Taten gleich zu sein. Aber es hängt letztendlich davon ab, ob eine ordnungsgemäße Autorisierung dazu vorliegt, dem anderen das Leben zu nehmen. Die Frage ist also nicht, ob jemandem das Leben genommen wird, sondern wie und warum.

4. Sein Gerichtsurteil ist gerecht

Welche Schlussfolgerung können wir nun daraus ziehen? Wenn jeder Mensch es verdient, verurteilt zu werden (und wir verdienen es), und wenn Gott das Recht hat, einem Menschen das Leben zu nehmen, sobald er entscheidet, dass es an der Zeit ist, sein Gerichtsurteil auszuführen (und er hat das Recht), und wenn er verschiedene Werkzeuge für dieses Gericht verwendet (einschließlich menschlicher Armeen), dann kann die Eroberung Kanaans nicht unmoralisch genannt werden.

Wenn wir gegen diese Eroberung Einspruch erheben, müssten wir gegen alle Gerichtstaten Gottes Einspruch erheben. Protestieren wir dann auch gegen die Flut Noahs und gegen die Zerstörung von Sodom und Gomorra sowie gegen die Plagen in Ägypten und so weiter bis hin zum Kreuz selbst?

„Gottes Gerichtsurteil ist gerecht, auch wenn wir es nicht immer vollständig verstehen.“

 

Am Ende bleibt die Eroberung Kanaans eine schwierige und komplexe Angelegenheit. Und doch, wenn die Eroberung im Kontext einer christlichen Weltanschauung und nicht von außen betrachtet wird, verblassen die Einwände. Gottes Gerichtsurteil ist gerecht, auch wenn wir es nicht immer vollständig verstehen (Jes 55,8–9). Und wenn wir das ausblenden wollen, wird das, was uns bleibt, etwas anderes sein als der Gott des Christentums.