Vier Prinzipien, wie christliche Freiheit ausgelebt werden will
Es ist schon Jahre her, aber ich erinnere mich immer noch an die Diskussion. Der Gottesdienst am Sonntagmorgen war schon einige Zeit zu Ende und ich wollte das Gemeindegebäude verlassen, da traf ich zu meiner Überraschung auf eine kleine Gruppe von Leuten, die immer noch heftig diskutierten. Einer von ihnen drehte sich zu mir um und sagte: „Darf ein Christ Blutpudding essen?“
Für diejenigen, die nicht in die Geheimnisse der schottischen Küche eingeweiht sind: Blutpudding ist nicht das Gleiche wie Haggis (eine weitere schottische Spezialität)! Sondern er ist eine Wurst, die aus Blut und Nierenfett gemacht wird, manchmal zusätzlich mit Mehl.
Auf den ersten Blick scheint das eine triviale Frage zu sein. Warum also die heftige Debatte? Natürlich wegen der alttestamentlichen Regeln über das Essen von Blut (3Mo 17,10ff).
So weit ich mir bewusst bin, kennt kein theologisches Wörterbuch einen Eintrag unter B für „Die Blutpudding-Kontroverse“. Doch diese ungewöhnliche Diskussion betrifft einige grundlegende hermeneutische und theologische Fragen:
- Wie steht das Alte Testament in Beziehung zum Neuen?
- Wie steht das Gesetz Moses in Beziehung zum Evangelium von Jesus Christus?
- Wie sollte ein Christ seine Freiheit in Christus praktizieren?
Schon beim Konzil von Jerusalem, das in Apostelgeschichte 15 beschrieben wird, ging es um eine Antwort auf solche praktischen Fragen, die die frühen Christen beschäftigten. Sie rangen damit, wie sie ihre Freiheit von der Herrschaft des mosaischen Gesetzes genießen konnten, ohne dadurch ein Stein des Anstoßes für jüdische Menschen zu werden.
Es ging um Fragen, über die sich besonders der Apostel Paulus viele Gedanken machte. Schließlich war er einer der Abgesandten, die vom Jerusalemer Konzil dazu bestimmt worden waren, den Brief mit den Ergebnissen des Konzils in den Gemeinden zu verbreiten und ihnen die Beschlüsse der Apostel und Ältesten zu erklären (Apg 15,22ff; 16,4). Als in der Gemeinde in Rom ähnliche Themen aktuell wurden, gab er ihnen eine Reihe von Prinzipien mit auf den Weg, die uns Christen des 21. Jahrhunderts ebenso betreffen. Seine Lehre in Römer 14,1–15,13 enthält gesunde (und sehr notwendige) Richtlinien für das Ausleben der christlichen Freiheit. Vier wichtige Punkte sind:
Frei oder gefangen?
1. Prinzip: Christliche Freiheit ist nichts, was wir zur Schau stellen sollten. „Du hast Glauben? Habe ihn für dich selbst vor Gott!“ (Röm 14,22).
Wir sind in Christus befreit von den mosaischen Essensvorschriften; Christus hat alle Speisen für rein erklärt (Mk 7,18–19). Wir dürfen tatsächlich Blutpudding essen!
„Aber du musst deine Freiheit nicht unbedingt ausleben, um sie zu genießen.“
Aber du musst deine Freiheit nicht unbedingt ausleben, um sie zu genießen. Paulus stellt an anderer Stelle sehr herausfordernde Fragen an diejenigen, die darauf bestehen, ihre Freiheit auf jeden Fall auszuleben, ohne Rücksicht auf die Umstände: Erbaut es andere wirklich? Ist es wirklich befreiend für dich – oder hat es in Wirklichkeit angefangen, dich zu beherrschen (Röm 14,19; 1Kor 6,12)?
Wenn ein Christ seine Freiheit unbedingt ausleben muss, dann zeigt sich daran die verborgene Wahrheit, dass er insgeheim von jener Sache beherrscht wird, die er so dringend tun möchte. Du hast laut Paulus das Ziel des Evangeliums und die Freiheit des Geistes verpasst, wenn das Reich Gottes für dich in Essen, Trinken und ähnlichen Dingen besteht (Röm 14,17).
Jeder seinem Herrn
2. Prinzip: Christliche Freiheit beinhaltet nicht, dass du Mitchristen erst dann willkommen heißt, wenn du ihre Ansichten über X oder Y richtiggestellt hast (oder das zu tun gedenkst).
Gott hat sie in Christus willkommen geheißen, so wie sie sind; und das sollten wir auch (Röm 14,1.3). Ja, der Herr wird sie nicht so lassen, wie sie sind. Aber er macht ihr gegenwärtiges Verhalten nicht zur Grundlage für seine Annahme. Genauso wenig sollten wir das tun.
Wir tragen in vieler Hinsicht Verantwortung für unsere Mitchristen, aber ihr Richter zu sein gehört nicht dazu. Das ist Christus allein (Röm 14,4.10–13). Es ist eine traurige Sache (die viel zu oft passiert), wenn der Name eines anderen Christen in einem Gespräch fällt – und sofort jemand Kritik an ihm äußert. Das ist nicht so sehr das Kennzeichen der Unterscheidungsgabe, sondern ein Hinweis auf einen richtenden Geist.
Aber was wollen wir tun, wenn das Maß, mit dem wir andere richten, auch das Maß ist, mit dem wir gerichtet werden (Röm 14,10–12; Mt 7,2)?
Die Liebe im Fokus
3. Prinzip: Christliche Freiheit sollte nie so gebraucht werden, dass man zum Stolperstein für einen anderen Christen wird (Röm 14,13).
Was Paulus hier sagt, ist kein spontaner Gedanke als Reaktion auf eine Situation, sondern ein festes Prinzip, das er durchdacht und dem er sich selbst verpflichtet hat (siehe 1Kor 8,13). Wenn man eine solche Verpflichtung eingeht, wird sie irgendwann so sehr Teil unseres Denkens, dass sie instinktiv unser Verhalten lenkt. Uns ist in Christus Freiheit geschenkt worden, damit wir anderen dienen können, nicht um unseren Vorlieben zu frönen.
Nicht „Recht“, sondern Privileg
4. Prinzip: Für die christliche Freiheit ist es nötig, ein Prinzip zu verinnerlichen, das echte biblische Ausgewogenheit hervorbringen wird: Wir sollen „nicht Gefallen an uns selbst ... haben ... denn auch Christus hatte nicht an sich selbst Gefallen“ (Röm 15,1–3).
Eigentlich ist dieses Prinzip sehr einfach. Es reduziert das Thema auf die grundlegende Frage nach unserer Liebe zu dem Herrn Jesus Christus und nach unserem Verlangen, ihn nachzuahmen – auf der Basis, dass sein Geist in uns wohnt und uns ihm ähnlicher macht.
Wahre christliche Freiheit hat – anders als die verschiedenen Freiheits
„Wahre christliche Freiheit hat nichts damit zu tun, dass wir unsere ‘Rechte’ einfordern.“
- und Befreiungsbewegungen der säkularen Welt – nichts damit zu tun, dass wir unsere „Rechte“ einfordern. Vielleicht haben die amerikanischen Gründungsväter (so weise sie auch waren) unbewusst einer Verzerrung des Christentums Vorschub geleistet, indem sie unser „Recht“ auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück festhielten? Der Christ erkennt, dass er oder sie von Natur aus keine „Rechte“ vor Gott hat. In unserer Sündhaftigkeit haben wir alle unsere „Rechte“ verwirkt.
Nur wenn wir erkennen, dass wir unsere „Rechte“ nicht verdienen, können wir sie angemessen als Privilegien ausüben. Unsere Sensibilität gegenüber anderen in der Gemeinde, besonders den Schwächeren, hängt von diesem Bewusstsein unserer eigenen Unwürdigkeit ab. Wenn wir meinen, dass wir Freiheiten haben, die um jeden Preis ausgelebt werden müssen, dann können wir in der Gemeinde zu einer tödlichen Gefahr werden: Wir sind in der Lage, jemanden zugrunde zu richten, für den Christus gestorben ist (Röm 14,15.20).
Das bedeutet aber nicht, dass ich der Sklave des Gewissens eines anderen Menschen sein muss. Johannes Calvin hat es gut auf den Punkt gebracht, dass wir zwar die Ausübung unserer Freiheit um der schwachen Gläubigen willen einschränken sollen; das gilt aber nicht, wenn wir mit Pharisäern konfrontiert sind, die verlangen, dass wir uns unbiblischen Regeln unterwerfen. Wo es um das Evangelium geht, müssen wir auf unserer Freiheit bestehen; wo es um die Stabilität eines schwachen Christen geht, müssen wir uns zurückhalten.
Das alles wird uns begleiten, so lange wir in dieser „Zwischenzeit“ leben. Wir sind in Christus schon frei, aber wir leben noch nicht in einer Welt, die mit unserer Freiheit umgehen kann. Eines Tages aber werden wir „die herrliche Freiheit der Kinder Gottes“ genießen (Röm 8,21). Dann können wir Blutpudding essen, wann und wo wir wollen! Aber noch ist es nicht so weit.
Für jetzt gilt, was Martin Luther schrieb: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“.
So wie es für den Meister galt, so gilt es auch für den Knecht.