Sola Scriptura: Die Trennlinie zwischen Orthodoxen und Evangelikalen

Artikel von Trevin Wax
5. Januar 2020 — 4 Min Lesedauer

Die Ausgangsposition für diesen Artikel waren zwei Interviews mit Theron und John, die ich vor einiger Zeit durchführte. Theron hat den Evangelikalismus verlassen, um sich der Orthodoxen Kirche anzuschließen, bei John war es genau umgekehrt. In diesen beiden Interviews wurden einige interessante Parallelen und Kontraste sichtbar, die ich hier aufzeigen möchte:

1. Der Einfluss der Mehrheitsreligion

Therons Bekehrung fand mitten im „Bible Belt“ statt, einer Gegend der Vereinigten Staaten, in der sich eine Mehrheit der Einwohner (zumindest lose) zu irgendeiner Form evangelikal-religiösen Glaubens bekennt und sich selbst als „born again“ (wiedergeboren) betrachten würde. Johns Bekehrung fand in Rumänien statt, wo mehr als 90% der Bevölkerung (meistens qua Geburt) der Orthodoxen Kirche angehören.

Bekehrungen von einer Denomination zu einer anderen scheinen oftmals in Gegenden stattzufinden, in denen eine bestimmte religiöse Zugehörigkeit dominiert. Keiner würde annehmen, dass all die Leute, die sich im tiefen Süden der USA als „Evangelikale“ verstehen, wirklich auch wahre Gläubige sind; genauso wenig würden wir behaupten, dass alle, die in die Orthodoxe Kirche in Rumänien hineingeboren wurden, treue Gläubige nach den Maßstäben ihrer Kirche sind. In einer Gesellschaft, in der eine religiöse Form dominiert, fungieren Minderheitendenominationen als eine Herausforderung des Status quo.

2. Die Suche nach der neutestamentlichen Gemeinde

Sowohl Theron als auch John geben an, dass sie sich von ihren jeweiligen neuen Denominationen deshalb angezogen fühlten, weil diese näher an dem zu sein schienen, was nach ihrem Verständnis die neutestamentliche Gemeinde ausmachte. John sieht in der Orthodoxen Kirche mit all ihren Traditionen, Ritualen und Ikonen eine Perversion der wahren Kirche. Die einfachen Gottesdienste und schlichten Gebäude der Baptisten scheinen der frühen Kirche eher zu entsprechen. Auf der anderen Seite kam Theron durch die Lektüre von Texten der Kirchenväter zu der Überzeugung, dass sich der Evangelikalismus mit seinem Mangel an kirchlicher Autorität weit von der frühen Kirche entfernt hat. Anstatt das Baptistenleben als makelloses Bild neutestamentlichen Christentums zu sehen, schlug er den Weg nach Konstantinopel ein.

3. Sola Scriptura

In letzter Konsequenz besteht der Hauptunterschied zwischen Orthodoxen und Evangelikalen in der Lehre des sola scriptura. John wurde Baptist, nachdem er die Bibel gelesen hatte und dadurch von der Autorität der Schrift überzeugt wurde – die sogar über der Kirche steht, deren Teil er gewesen war. Theron verließ den Evangelikalismus, nachdem er seinen Glauben an die Bibel als letzte Autorität aufgegeben hatte. „Als ich erst einmal so weit gekommen war, ging alles ganz schnell. Das Kartenhaus stürzte ein. Das war der Punkt, an dem ich eine andere Autorität finden musste.“ Therons Zeugnis sollte eine Warnung für Baptisten sein, die mit der Lehre des sola scriptura spielen. Ohne die Bibel als letzte Autorität hat Theron Recht. Man muss eine andere Autorität finden. Leider finden die meisten Leute, die sola scriptura aufgeben, ihre Autorität nicht in der Römisch-katholischen oder der Orthodoxen Kirche. Sondern sie legen sich selbst als letzte Autorität fest und schlagen den Weg des protestantischen Liberalismus ein. Wenn sola scriptura fällt, gelangt man in den meisten Fällen im Schnelldurchgang in den Liberalismus.

4. Was die Orthodoxe Kirche von den Evangelikalen lernen kann

Eines der größten Probleme der Orthodoxen Kirche – gerade in Ländern, in denen sie Staatskirche ist – ist religiöse Gleichgültigkeit. Die Evangelikalen in diesen Ländern sind dagegen lebendig und leidenschaftlich in ihrem Glauben. Baptisten wie John versuchen, ihre Freunde zu bekehren, oftmals flehentlich und unter Tränen. Die Orthodoxe Kirche täte gut daran, unter ihren Mitgliedern einen neuen Eifer zu entfachen, die eigene Herde zu bekehren – denn viele von ihnen betreten niemals eine Kirche.

Die Liturgie eines orthodoxen Gottesdienstes betont die Transzendenz Gottes oftmals so stark, dass er fern und unnahbar erscheint. Eine Erneuerung der Liturgie und die Betonung des Aspekts einer persönlichen „Beziehung“, wie sie von Evangelikalen gepredigt wird, würde den Gemeindegliedern zu einer biblisch ausgewogeneren Sicht auf den Gott verhelfen, den wir anbeten.

5. Was Evangelikale von den Orthodoxen lernen können

Evangelikale sollten die Stabilität der Orthodoxen Kirche wertschätzen, selbst wenn wir nicht mit ihrer Gemeindestruktur und der zentralen Rolle der Tradition übereinstimmen. Zu oft lassen wir uns von einer Modeerscheinung nach der anderen vereinnahmen, gehen immer wieder neu dem Versprechen auf den Leim, endlich den ultimativen Kniff gefunden zu haben. Diese Modeerscheinungen lenken nicht nur ab, sie schaden auch unserem Zeugnis Außenstehenden gegenüber.

Wie der Orthodoxe von evangelikalen Gottesdiensten lernen sollte, die Immanenz Gottes zu berücksichtigen, so sollten wir ebenso lernen, in unseren Gottesdiensten die Transzendenz Gottes zu bedenken. Zu oft wird Gott als bester Freund präsentiert, als Life-Coach und Kumpel, den man in schwierigen Zeiten bei sich hat. Wir müssen Gott auch in seiner Majestät und Heiligkeit erkennen, wie dies im orthodoxen Gottesdienst vermittelt wird. Wünschenswert ist also eine gesunde biblische Balance zwischen diesen beiden Perspektiven.