Ein gemeinsamer Nenner in Entkehrungs­geschichten

Artikel von Caleb Wait
5. November 2019 — 6 Min Lesedauer

Ein gemeinsamer Nenner in Entkehrungs­geschichten

Als Christen der westlichen Welt wissen wir, dass wir in einem säkularen Zeitalter leben. Dieses einfach nur anzuerkennen, hilft uns allerdings nicht weiter, wenn Freunde oder Familienmitglieder der Gemeinde oder dem Glauben den Rücken kehren.

In ihrem kürzlich erschienenen Artikel „Sixteen and Evangelical“ fasst Laura Turner mein Leben als Sechszehnjähriger ziemlich gut zusammen. Sie beschreibt ihren engeren, von evangelikaler Jugendkultur geprägten Freundeskreis, dessen „jugendlicher Eifer“ geradezu kompromisslos schien. Bis dieser, wie sollte es anders sein, mit zunehmendem Alter nicht mehr mit der Realität vereinbar war.  

Warum sind uns solche Geschichten so vertraut? Warum verwandelt sich der Jugendeifer so vieler Kinder, die in der Gemeinde aufwachsen, mit der Zeit in den stumpfen Zynismus von Entkirchlichten? Die Gründe dieser „Entkehrungspfade“ wurden bereits vielfach erörtert und diagnostiziert. In diesem Artikel möchte ich nur einen gemeinsamen Nenner hervorheben, den ich sowohl bei den Freuden, die in der Gemeinde geblieben sind, als auch bei denen, die gegangen sind, beobachtet habe.

Das Stigma der Lehre

Der gemeinsame Nenner betrifft die Kenntnis und Beziehung, die man zu den Lehren der Gemeinde hat. Fast alle meiner Freunde, die sich ganz selbstverständlich für Lehre interessierten, sind bis zum heutigen Tag treue Mitglieder in ihren Gemeinden. Diejenigen, die sich nicht für Lehre interessierten, haben sich „weiterentwickelt“, so als sei das Christentum lediglich ein Zwischenstopp auf einer größeren „spirituellen Reise“.

Das bei den Entkehrten so populäre Narrativ der „spirituellen Reise“ ist ein Indikator dafür, was in ihrer (und oft auch unser) Gemeindeerfahrung Priorität hatte. Formale Lehre wurde der authentischen geistlichen Erfahrung untergeordnet. Lehre war unpraktisch, das gemeinschaftliche Leben dagegen praktisch. Theologie war etwas für die Intellektuellen in der Gemeinde, das durchschnittliche Gemeindemitglied hingegen musste nur geliebt werden. Lehre war für die Jugendlichen weniger wichtig als das Bedürfnis, eine purity conference zu besuchen. Kurz: Die Gemeinde war zum größten Teil ein pragmatischer Ort, der das Leben bereichern und die Einzelnen auf ihren individuellen „spirituellen Reisen“ unterstützten sollte.

Die Geringschätzung von Lehre und die Aufwertung persönlicher Spiritualität ist für diejenigen, die im Begriff sind, die Gemeinde zu verlassen, oft der erste Schritt auf diesem Weg. Sie beginnen die Gemeinde mit ihren Lehrsätzen als Produkt einer fernen Zeit und Kultur zu begreifen, die für die eigenen geistlichen Erfahrungen irrelevant ist. Im besten Fall können solche Lehren manchen dabei helfen, ihren Glauben zu bekunden (meistens Leuten der Vergangenheit); im schlimmsten Fall handelt es sich bei ihnen um menschengemachte Regeln und Werkzeuge der Manipulation und Unterdrückung.

Ein Paradebeispiel für eine solche Mentalität ist der liberale protestantische Theologe des 19. Jahrhunderts, Adolf von Harnack:

"Nicht um eine „Lehre“ handelt es sich ja, die in einförmiger Wiederholung überliefert oder willkürlich entstellt worden ist, sondern um ein Leben, das, immer aufs neue entzündet, nun mit eigner Flamme brennt. Wir dürfen auch hinzufügen, daß Christus selbst und die Apostel davon überzeugt waren, daß die Religion, die hier gepflanzt war, in Zukunft noch Größeres erleben und Tieferes schauen werde als in der Zeit ihrer Stiftung."

Für Harnack – und auch für andere, die mit diesem Ansatz sympathisieren – kann Lehre als „Schale“ der Religion verstanden werden – die man einfach wegwerfen kann, wenn sie ausgedient hat. So gesehen sollte es in der Religion dann auch nicht um das Bekenntnis gewisser Lehrsätze und Schriftinterpretationen gehen, da das Herausarbeiten und Diskutieren solcher Fragen notwendigerweise trennend wirkt. Stattdessen sollten wir einfach den „Kern“ der Religion finden, ihre Essenz, den Geist hinter allem.

Lehre sollte deinen Weg definieren

Aspekte dieses Ansatzes sind durchaus verlockend, schließlich kann das Argumentieren lehrmäßiger Details doch sehr mühsam sein. Und kann man es dem amerikanischen Evangelikalismus wirklich übelnehmen, wenn dieser sich von manchem kirchengeschichtlichen Ballast und der Art und Weise, wie manche Lehren angewandt wurden, distanzieren möchte? Der Ruf, dass auf Lehre fokussierte Gemeinden kalt und abweisend sind, ist in manchen Fällen berechtigt und viele dieser Gemeinden waren in der Geschichte an gesellschaftlichen Übeln wie der Sklaverei beteiligt. Aber sollten wir wirklich das Kind mit dem Bade ausschütten?

Als Christ zu leben bedeutet mehr als nur korrekte Dinge über Christus zu wissen, aber nicht weniger. Die Bibel macht klar, dass es im Christentum nicht einfach darum geht, die richtigen Dinge zu glauben; es geht auch darum, der richtigen Person zu vertrauen und ihr zu folgen (Röm 10,5–13). Aber um ihm zu folgen, müssen wir wissen, in wessen Bild wir geformt werden (Röm 8,29). Unsere „spirituelle Reise“ bleibt ein zielloses Umherwandern, es sei denn, wir haben eine tiefe und bleibende Erkenntnis davon, wem wir entgegenziehen – und warum.

Ohne Lehrsätze, die Leitschienen der Katechese und der Verantwortlichkeit gegenüber einer Ortsgemeinde, driftet die persönliche „spirituelle Reise“ zu schnell in eine subjektive Was-immer-mir-passt-Geschichte ab, wo es dann nicht mehr um Wahrheit, sondern um Vorlieben (welche Teile mir zusagen) und Pragmatismus (wie es für mich funktioniert) geht. Nur der Christ, dessen Glaube auf einem stabilen Lehrgerüst und gemeindebasierter Katechese aufbaut – und nicht auf dem unbeständigen Sand des Subjektivismus und Pragmatismus – wird in der Lage sein, den schwierigen Fragen und zersetzenden Winden des Säkularismus, die unser Zeitalter mehr und mehr kennzeichnen, zu widerstehen.

Orthodoxie wiederentdecken

Der Ausdruck „spirituelle Reise“ setzt eine bestimmte Art von Individualität voraus: Wir sind nicht Teil einer transzendenten, sondern unserer eigenen Geschichte (in der wir die Hauptrolle einnehmen). Im Gegensatz dazu hat sich Gottes Volk durch die ganze Bibel hindurch niemals als nur aus Individuen bestehend verstanden, die Teil einer Glaubensgemeinschaft sind. Ihre „spirituelle Reise“ war der Exodus – ein Massenauszug – und ihre individuellen Geschichten wurden auch im Kontext dieser Gemeinschaft gedeutet, die Gott erlöst.

Wenn die Gemeinde nicht nur ihre Mitglieder behalten, sondern sie auch in allen den Dingen unterrichten möchte, die Jesus geboten hat (Mt 28,20), müssen wir unsere Mitglieder aus ihren individuellen „spirituellen Reisen“ herausführen und in die aufregende Geschichte der Orthodoxie einladen, in der Gott ein ganzes Volk neuschafft und heiligt. Im Lehren, in der Anbetung und im Jüngermachen müssen wir zeigen, dass diese größere Geschichte, im Gegensatz zu unseren individuellen Nebenhandlungen, viel schöner und überzeugender ist. Jake Meador trifft es gut, wenn er sagt: „Jede Reaktion auf unsere gegenwärtige Lage, die sich stärker auf die individuelle Geschichte des verlorenen Glaubens fokussiert und nicht darauf, dass wir ganz neu über Liturgie, Katechese und Buße nachdenken müssen, wird den Ansprüchen des Tages nicht genügen.“

Genau hinzuschauen und sich auf die Entkehrungsgeschichten Einzelner zu fokussieren – einfach nur „Was ist mit ihnen passiert?“ zu fragen – bedeutet, ihre Geschichten zu isolieren und von der Gemeinschaft zu trennen, die sie verlassen. Unsere Strategie darf nicht sein, unsere Lehre zu verdünnen oder sie auf das herunterzubrechen, was kulturell akzeptabel ist; auch sollten wir nicht herunterspielen, dass wir Teil einer Geschichte sind. Vielmehr müssen wir die Schönheit der Orthodoxie und Katechese neu erfassen – nicht als Konzepte, die man glauben muss, sondern als Wahrheiten, die zu leben sind, von einem Jahrhundert ins nächste, von dem Volk, mit dem Gott seine Geschichte schreibt.