Das Evangelium als Basis unserer Anbetung

Artikel von Dan Beilman
28. März 2012 — 11 Min Lesedauer

Als ich 1997 mein Musikstudium abgeschlossen hatte, fing ich an, den „Lobpreis“ in einer kleinen Gemeinde in einer amerikanischen Kleinstadt zu leiten. Mir war bewusst, dass viele Gemeinden auf Grund ihres erstklassigen „Lobpreises“ groß und erfolgreich geworden waren. Dies waren Gemeinden, deren Gottesdienste perfekt inszeniert waren, meistens mit hochkarätigen Theatereinlagen. Und so fühlte ich mich als junger Lobpreisleiter nicht ganz meinen neuen Aufgaben gewachsen, denn ich dachte mir: „Müsste ich nicht eigentlich auch noch eine Ausbildung in Dramaturgie, Theater und Rhetorik machen, um langfristig solch einer Aufgabe gewachsen zu sein?“ Und so kam es, dass ich mir total entmutigt ein Wochenende frei nahm und 1500 Kilometer in einen anderen Teil der USA flog, um dort an einem Wochenende vier Gottesdienste zu besuchen.

Bei einem dieser Gottesdienstbesuche geschah etwas absolut Unerwartetes. Ich fing plötzlich an zu weinen. Das geschah nicht während irgendeiner „Power Ballade“, die in einem gewaltigen Crescendo der Streicherinstrumente mündete (denn die Musik war eher einfach gehalten), und es geschah auch nicht während einer emotional geladenen und sehr nahegehenden Predigtveranschaulichung. Nein, es geschah, als ich es am wenigsten erwartet hätte, nämlich während des gemeinsamen Bekennens des Apostolikums (dem Apostolischen Glaubensbekenntnis).

„Und hier stand ich jetzt und bezeugte die schönste Geschichte, die jemals erzählt wurde und immer wieder erzählt wird.“
 

Wenn es auch unerwartet kam, so wusste ich doch, warum es geschah. Der Gottesdienst war eher „traditionell“ gehalten, eine gute Mixtur aus anglikanischer und presbyterianischer Liturgie, die die Geschichte des Evangeliums wiedergab, wie sie seit hunderten von Jahren verkündigt wurde. Und hier stand ich jetzt und bezeugte die schönste Geschichte, die jemals erzählt wurde und immer wieder erzählt wird. Uns wurde bei diesem Gottesdienst die einfache Geschichte vor Augen geführt, wie Jesus die Seinen errettet und die Welt erneuert hat. Und das Erstaunliche ist: Ich bin zu einem Teil dieser Geschichte geworden. Und hier stand ich nun weinend und fühlte mich nicht mehr so allein. Mir wurde in diesem Moment bewusst: Genau das ist doch Anbetung. Das Erzählen dieser wunderbaren Geschichte. Und nicht nur irgendeiner Geschichte. Sie ist das große Epos des Evangeliums von Jesus Christus. Und sie braucht weder eine aufwendige Ausschmückung noch eine aufwendige Inszenierung. Und ich brauche weder ein Schauspieltalent noch eine dramaturgische Ausbildung, um Anbetung anzuleiten. Diese wunderbare Geschichte muss ganz einfach nur treu erzählt werden. Das ist wahre Anbetung.

Durch die ganze Bibel hindurch erscheint diese Geschichte der Schöpfung und Erlösung im Zusammenhang mit gemeinschaftlicher Anbetung. Als der Herr z. B. Anweisungen für das Passahfest gab, das Israel für tausende von Jahren feiern würde, sagte er:

„Darum so halte diese Ordnung für dich und deine Nachkommen ewiglich. Und wenn ihr in das Land kommt, das euch der HERR geben wird, wie er gesagt hat, so haltet diesen Brauch. Und wenn eure Kinder zu euch sagen werden: Was habt ihr da für einen Brauch?, sollt ihr sagen: Es ist das Passaopfer des HERRN, der an den Israeliten vorüberging in Ägypten, als er die Ägypter schlug und unsere Häuser errettete.“ (2Mose 12,24– 27; Luther 1984)

Als Mose die 10 Gebote im 5. Buch Mose aufschrieb, hielt er die folgenden Anweisungen über den Sabbat fest:

„Denn du sollst daran denken, dass auch du Knecht in Ägyptenland warst und der HERR, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm. Darum hat dir der HERR, dein Gott, geboten, dass du den Sabbattag halten sollst.“ (5Mose 5,15)

Auch Psalm 107 erzählt die Geschichte der Erlösung. Jede der Strophen dieses Psalms endet mit der Aufforderung, sie „sollen dem HERRN danken für seine Güte und für seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut“ (Verse 8.15.21.31).

In der Apostelgeschichte sehen wir, wie die Urgemeinde ihr gemeinsames Gebet als eine Art Geschichte verstand:

„Herr, du hast Himmel und Erde und das Meer und alles, was darin ist, gemacht … wahrhaftig, sie haben sich versammelt in dieser Stadt gegen deinen heiligen Knecht Jesus, den du gesalbt hast, Herodes und Pontius Pilatus mit den Heiden und den Stämmen Israels, zu tun, was deine Hand und dein Ratschluss zuvor bestimmt hatten.“ (Apg 4,24–28)

Der Anfang dieses Gebetes der Urgemeinde erinnert uns an das Gebet vor dem „Becher des Dankes“, das beim Passahmahl gesprochen wird. Es ist ein Gebet, das die Geschichte der Schöpfung und der Erlösung zelebriert. Es ist auch der Vorläufer des „Großen Dankgebetes“, das in unterschiedlichen Liturgien bei der Abendmahlsfeier in Gemeinden heutzutage eingesetzt wird.

Psalm 105, Nehemia 9 und die Predigten in der Apostelgeschichte sind nur einige weitere Beispiele dafür, wie Anbetung als das Erzählen einer Geschichte verstanden werden soll. Und diese Geschichte ist nichts anderes als das Evangelium.

„Gott wird als die Hauptperson, Jesus Christus als der Held und die Herrlichkeit Gottes als das Hauptthema in den Vordergrund gerückt.“
 

Wenn Anbetung als solch eine Vergegenwärtigung des Evangeliums verstanden wird, dann stehen auch plötzlich nicht mehr die einzelnen Elemente und stilistischen Vorzüge im Vordergrund. Nein, dann geht es primär darum, dass diese Geschichte die Form und den Ablauf des Gottesdienstes prägt. In unserem Gemeindegründungsprojekt in Wien („New City Wien“) bestimmt diese Geschichte nur in zweiter Linie die einzelnen Elemente und den Stil unserer Lobpreisgottesdienste. In erster Linie bestimmt sie die Form des Gottesdienstes: Schöpfung – Fall – Erlösung – Vollendung. Wenn wir uns als Gemeinde versammeln, dann feiern wir Gott, sein Wesen und das Werk seiner Schöpfung; wir bekennen unsere Sünde und/oder bedauern den zerbrochenen Zustand unserer Welt; und wir hören und freuen uns über Gottes Werk der Erlösung und Wiederherstellung.

Für uns gibt es bei „New City Wien“ einige logische Schlussfolgerungen daraus, dass Anbetung die Vergegenwärtigung und das Erzählen der Geschichte des Evangeliums ist. Hier sind nur einige wenige:

  • Das Zentrum der Anbetung ist Gott und es ist Christus. Denn durch die Vergegenwärtigung der Geschichte des Evangeliums wird alle menschliche Aktivität in den Hintergrund gestellt. Gott wird als die Hauptperson, Jesus Christus als der Held und die Herrlichkeit Gottes als das Hauptthema in den Vordergrund gerückt.
  • Gleichzeitig wird beim Erzählen dieser großen Geschichte die persönliche Geschichte unseres eigenen Lebens umgeschrieben. In seinem Buch A Better Way schildert Michael Horton, wie wir Woche für Woche ein alberndes Drehbuch über unser eigenes Lebens schreiben. In diesem Drehbuch erheben wir uns zu den Hauptakteuren. Aber wenn wir sonntags den Gottesdienst besuchen, wird dieses Drehbuch zerfetzt. Aber noch mehr: Statt dass wir in den Hintergrund gedrängt werden, erhalten wir Rollen, die menschlicher und nobler sind, als wir es je gedacht hätten. Wir sind Objekte der Zuneigung des Helden, der uns durch Feuer und Tod nachgejagt ist, um uns zu erretten.
  • Wenn Anbetung das Erzählen der Geschichte des Evangeliums ist, dann macht diese Tatsache unsere Anbetung zu etwas höchst Dramaturgischen. Calvin nannte einst den Gottesdienst „das großartige Theater“, in dem Gott herabkommt, um vor den Augen der Welt zu agieren.
  • Des Weiteren wird uns bewusst, dass wir alle in eine Geschichte hineinversetzt wurden, die sehr viel größer ist als wir selbst. Denn wenn wir uns diese große Geschichte vergegenwärtigen, wird uns die Einheit der Christen aller Zeit bewusst, die uns vorangegangen sind und selbst diese Geschichte gelebt und erlebt haben. Einigen hat es sogar ihr Leben gekostet. Aber jetzt feuern sie uns von der himmlischen Zuschauertribüne aus an.
  • Die Predigt wird mit den anderen liturgischen Elementen verbunden. Der gesamte Gottesdienst wird als die Verkündigung des Evangeliums verstanden, nicht nur die Predigt. Paulus fordert die Gemeinde in Kolossä auf: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen“ (Kol 3,16).
  • Sie bestimmt unsere Identität vor einer beobachtenden Welt. Soziologen sprechen von Metaerzählungen, wenn eine Kultur eine einzige, große Geschichte als Erklärung für die Welt und ihre Ganzheit verwendet und wenn sie die Machtstrukturen dieser Kultur rechtfertigt, was unweigerlich zur Unterdrückung von Außenstehenden und Minderheiten führt. Tatsächlich formt die Metaerzählung vom Evangelium unser Verständnis von der Welt, aber statt Macht zu rechtfertigen, fordert diese Geschichte, dass wir sie aufgeben und stattdessen schwach, hungrig und arm werden. Sie führt uns zur Befreiung und nicht zu Tyrannei und Unterdrückung. Wie gewinnbringend ist das!
  • Aber die Betonung auf dieses ganze einfache, wöchentliche Erzählen des Evangeliums in unseren Gottesdiensten nimmt auch die Aufmerksamkeit weg von alt vs. neu, modern vs. konservativ (traditionell) und von unterschiedlichen christlichen liturgischen Traditionen. Den Inhalt der Geschichte von „Schöpfung-Fall-Erlösung“ können wir in jeder Art von Gottesdienst finden, sei er streng liturgisch oder erwecklich, sei er klassisch oder rockig.

In ganz unterschiedlichen Hinsichten zeigt sich dieser Gedanke von „Anbetung als Geschichte“ bei uns bei „New City Wien“:

  • Wir bauen Elemente aus allen Epochen der Kirchengeschichte in unseren Gottesdienst ein. Uns ist bewusst, dass wir „in himmlische Regionen versetzt“ worden sind (Eph 2,6) und „eine große Wolke von Zeugen“ um uns haben (Hebr 12,1), die dieselbe Geschichte erzählen (erzählt haben), an der auch wir nun Anteil haben. Deshalb singen und beten wir die Psalmen und benutzen Gebete, Bekenntnisse und Katechismen aus den letzten 2000 Jahren der Kirchengeschichte. Wir singen viele alte Liedtexte (z. B. Luthers „Aus Tiefer Not“, Speratus’ „Es ist das Heil uns kommen her“, oder Nicolais „Wie schön leuchtet der Morgenstern“), jedoch zu neuen Melodien.
  • Wir bekennen wöchentlich als Gemeinde unsere Sünde und Schuld. Ich kann gar nicht genug betonen, was für ein positives Erlebnis das für uns als Gemeinde ist. Es deckt die Gleichgültigkeit auf, die sich bei uns durch nicht bekannte Sünde aufgebaut hat, und macht unser Herz weich und empfänglich für das Evangelium, so dass wir aufschreien: „Ich komme zu dir, Gott, mit leeren Händen, durstig, hungrig, ohne irgendetwas, was es wert wäre dir zu bringen; mein einziger Wert ist das, was du mir durch Jesus Christus geschenkt hast.“ Somit hören wir Woche für Woche das Evangelium zweimal pro Sonntag, zum einen wenn wir den Zuspruch der Vergebung hören und zum anderen in der Predigt. (Wenn wir das Abendmahl feiern, wäre das das dritte Mal.)
  • Die Gemeindeleitung verbringt viel Zeit damit, den gesamten Gottesdienst gründlich durchzudenken und den Übergang zwischen den einzelnen Elementen zu planen. So wird der Gottesdienst auch für Fernstehende (Ungläubige) verständlich. Wir beabsichtigen, dass durch das Drama dieser Geschichte nicht nur unser Denken, sondern auch unsere Emotionen (wir sind keine dualistischen Geschöpfe) angesprochen werden.
  • So versuchen wir auch die Anbetung thematisch zu gestalten. Das Evangelium kann auf jeden Bereich unseres Lebens angewandt werden. Wenn z. B. die Predigt die Genügsamkeit Christi verkündigt, dann werden wir im Laufe des Gottesdienstes Jesus in seiner Rolle in der Schöpfung und seiner Position innerhalb der Gottheit preisen; wir werden bekennen, wie wir durch unsere eigenen Werke versucht haben, uns in Gottes Augen zu rechtfertigen; wir werden von der Genügsamkeit von Christi Werk für unsere Vergebung und die Gemeinschaft mit dem Vater hören; und wir werden uns darüber freuen, dass Jesus uns und alles um uns herum erneuert.
  • All das führt zu einem Rhythmus in unseren Gottesdiensten, den die Teilnehmer regelmäßig erwarten und in den sie leicht einsteigen können. Genauso wie auch im ganz alltäglichen Leben brauchen wir manchmal klare Strukturen und Wegweiser. Und so setzt auch dieser Rhythmus der Geschichte unser Denken und unsere Gefühle in Kenntnis, wenn wir nicht wissen, was wir denken und fühlen sollen.

Es ist spannend, Woche für Woche zu sehen, wie unsere Gemeinde die Geschichte erzählt, zu sehen wie Leben verändert werden – nicht nur durch das Hören des Evangeliums, sondern auch dadurch, dass es dargestellt wird. Ich bin sehr dankbar, dass ich Teil dieser Geschichte sein darf, denn wenn jemand in Wien diese wunderbare Geschichte des Evangeliums immer wieder hören muss, dann bin ich es.