Wie Liebe und Einheit unter Christen wachsen können
J.C. Ryle als Vorbild
Wahrheit und Liebe gehören in der Jesus-Nachfolge zusammen. Die meisten Christen, die ich kenne, würden das bejahen. Doch wie liebevoll vertreten wir die Wahrheit im Alltag tatsächlich? Und – um die Frage noch etwas herausfordernder zu machen – wie viel Liebe bringen wir denen entgegen, mit denen wir theologisch nicht übereinstimmen?
Der anglikanische Theologe John Charles Ryle hat 1872 einen bemerkenswerten Vortrag zu dieser Frage gehalten. Ryle gehörte zum evangelikalen Flügel der anglikanischen Kirche und war in seiner Theologie stark von den Puritanern geprägt. Dennoch verstand er Jesu Gebet um Einheit seiner Jünger (Joh 17) als persönlichen Auftrag, keine Mauern hochzuziehen, sondern Brücken zwischen den verschiedenen theologischen Lagern seiner Zeit zu bauen. Auf der Islington Konferenz, einem Jahrestreffen evangelikaler Pastoren, gab er sechs Ratschläge, was jeder einzelne für ein liebevolleres Miteinander unter Christen mit verschiedenen theologischen Hintergründen tun kann. Seine Worte sind bis heute eine gute Orientierungshilfe, um auf dem schmalen Grat von Liebe und Wahrheit zu bleiben.
Was rät Ryle also?
Erstens: Wir müssen es uns zur Gewohnheit machen, Gottes Gnade und die Liebe Christi auch dort am Wirken zu sehen, wo Menschen theologisch irritierende oder nach unserer Überzeugung sogar falsche Positionen beziehen. Ryle meinte: Rettende Gnade ist gut vereinbar mit vielen falschen Vorstellungen von Gott. Er zitiert den Erweckungsprediger John Berridge, der einmal sagte: „Hier auf der Erde reinigt Gott unsere Herzen – und im Himmel wird er auch unseren Verstand reinigen.“ Es sei ein Geheimnis, dass manche Menschen vom Kopf her sehr rechtgläubig und im Herz dennoch unbekehrt sein könnten, während andere in einzelnen theologischen Überzeugungen weit weg von der biblischen Wahrheit sein und dennoch Kinder Gottes sein könnten. Deshalb warnte Ryle davor, anderen vorschnell die Gotteskindschaft abzusprechen. Denn sollten wir uns irren, würden wir uns damit gegen Gott selbst stellen.
Zweitens: Wir müssen es uns angewöhnen, liebevoll und wertschätzend über diejenigen zu sprechen, die andere theologische Positionen vertreten als wir. Ryle war überzeugt: Mit der Art, wie wir reden, bauen wir entweder Brücken zu Andersdenkenden – oder wir reißen sie ein. Mit den Worten des walisischen Pfarrers und Bibelkommentators Matthew Henry riet er: „Sei nicht überkritisch. Mach die Unterschiede nicht größer als sie sind. Beurteile alles in Liebe.
„Lobe, was gut ist, und mache das Beste aus dem, was du ablehnst.“
Lasst uns niemand gegenüber angriffig und gegenüber jedem entgegenkommend sein.“ Mit diesem Ratschlag wandte er sich ausdrücklich nicht gegen eine fundierte Kritik an unbiblischen Positionen. Echte Liebe gebiete es, auch Fehlentwicklungen zu benennen und manchmal sogar vor Personen zu warnen. Und doch gebe es auch eine falsche Art zu kritisieren: Zum Beispiel, wenn eine ganze Gruppe aufgrund des Zeugnisses Einzelner in Sippenhaft genommen werde. Ryle wurde in diesem Punkt sehr konkret und warnte beispielsweise, einzelne Aussagen liberaler Theologen nicht auf die gesamte Broad Church (der liberale Flügel der anglikanischen Kirche) zu beziehen.
Drittens: Wir müssen lernen, die Position der anderen wirklich zu verstehen. Ryle stellte fest: Die meisten verstehen nur die theologischen Positionen ihrer eigenen Denkrichtung. Das, was sie über andere Gruppen wissen, kommt oft aus zweiter Hand und ist nur selten mehr als eine schlechte Karikatur dessen, was diese wirklich glauben. Als persönlich Betroffener nahm er wahr, dass viele ein Zerrbild von den Evangelikalen hatten: „Oft denke ich, diese Leute verstehen nicht mehr von uns als ein Eingeborener in Timbuktu von Schlittschuhlaufen und Eis-Crème – oder ein Eskimo von Trauben, Pfirsichen und Nektarinen.“ Selbstkritisch drehte er den Spieß jedoch um: Was wussten die Evangelikalen seiner Zeit denn über die anderen theologischen Strömungen innerhalb ihrer Kirche? Verstanden sie deren Positionen wirklich? Er riet dringend dazu, im Umgang mit Andersdenkenden nicht nur auf Sekundärliteratur und das Zeugnis anderer zu vertrauen, sondern sich persönlich mit deren Positionen auseinanderzusetzen. Ohne ein solches Verständnis sei Kritik unredlich und ein fruchtbarer Dialog schier unmöglich.
Viertens: Wir brauchen Treffen auf neutralem Boden, um Vorurteile abzubauen. Den persönlichen Austausch hielt Ryle für einen wichtigen Schlüssel, um die Liebe und Einheit innerhalb seiner Kirche zu fördern. Aus diesem Grund schätzte er auch die regelmäßigen Kirchenkongresse der anglikanischen Kirche. Kirchenpolitisch ließ sich bei diesen Treffen wenig bewegen, aber sie waren eine gute Gelegenheit, um – anachronistisch gesprochen – die eigene Filterblase zu verlassen und einmal auf neutralem Boden Beziehungen zu theologisch Andersdenkenden aufzubauen und zu pflegen. Ryle sprach aus eigener Erfahrung, wenn er sagte, dass es Wunder wirke, Zeit mit Leuten zu verbringen, die in so manchem Punkt theologisch anders denken als man selbst. Nach so einer gemeinsamen Zeit sei es deutlich einfacher zu sagen: „Ich mag den Mann, auch wenn ich nicht mit ihm übereinstimme.“
„Die meisten verstehen nur die theologischen Positionen ihrer eigenen Denkrichtung. Das, was sie über andere Gruppen wissen, kommt oft aus zweiter Hand und ist nur selten mehr als eine schlechte Karikatur dessen, was diese wirklich glauben.“
Fünftens: Wir können uns durch Kooperationen einander annähern. Ryle sprach sich dafür aus, immer wieder die Zusammenarbeit mit anderen Gemeinden zu suchen. Soziale Projekte und Hilfseinsätze würden oft von einer solchen Bündelung der Kräfte profitieren. Auch im Einsatz für politische Veränderungen im Land dürften Christen getrost ihre Scheuklappen ablegen. Ryle zögerte nicht, auch die Grenzen der Kooperation zu benennen: Den Kanzeltausch zwischen Predigern unterschiedlicher theologischer Ausrichtungen hielt er für genauso problematisch wie die Zusammenarbeit verschiedener Denominationen auf dem Missionsfeld. In beiden Fällen sei die Lehre zu zentral, als dass eine fruchtbare Kooperation möglich wäre. Doch wo praktische Nächstenliebe im Zentrum stehe, sei Zusammenarbeit nicht nur unproblematisch, sondern eine gute Möglichkeit, um in der Liebe und Einheit zu wachsen.
Sechstens: Wir können private Zusammenkünfte zwischen Geistlichen unterschiedlicher theologischer Denkrichtungen initiieren, um gemeinsam theologisch zu arbeiten. Ryle regte kleine Treffen von etwa 12 Personen an, zu denen die Teilnehmer nicht mehr als ihre Bibel, Stifte, Papier und ihr Book of Common Prayer (er war eben Anglikaner!) mitbrachten. Dann sollten sie in einen Austausch darüber eintreten, worin sie sich einig und worüber sie unterschiedlicher Meinung seien. Er war überzeugt, dass solche Runden ein erstaunliches Maß an Übereinstimmung zu Tage bringen würden und erheblich zu einer größeren Liebe und Einheit der Christen beitragen würden. Es ist nicht belegt, dass Ryle jemals an solch einer Zusammenkunft teilgenommen hat. Doch bereits das Gedankenexperiment kann erhellend sein: Wäre ich bereit, mich in einer solchen Weise auf Menschen einzulassen, deren theologischen Überzeugungen ich kritisch gegenüberstehe?
Keine Einheit auf Kosten der Wahrheit
Es ist wichtig zu betonen, dass es Ryle nicht um die Einheit auf Kosten der Wahrheit ging. Vielmehr hat er erkannt, dass zu einem Leben nach der biblischen Wahrheit auch das Zugehen auf den (manchmal irrenden) Bruder gehört. Er forderte seine Zuhörer auf, den Kampf um Liebe und Einheit nicht aufzugeben. Angesichts der tiefen Gräben zwischen Geistlichen verschiedener theologischer Denkschulen sei die Versuchung groß, das Ziel der Einheit abzuschreiben, weil es zu schwer zu erreichen sei. Ryle hielt dem entgegen, dass eine in sich gespaltene Kirche ein schwaches Zeugnis für die Welt sei und letztlich auch am Willen Jesu vorbeilebe, der inständig um die Einheit seiner Jünger gebetet hat.