Christliche Freiheit
Als die Kirche in Rom im Mittelalter immer korrupter wurde, wurden bestimmte Lehren, die von der Kirche geäußert wurden, zunehmend suspekt. Eine davon war das Beharren der Kirche auf der dualen Autorität der Kirche und des Wortes. Und natürlich dachte die Kirche in Rom dann, wenn die Kirche und das Wort in Konflikt standen, dass ihr eigenes Denken den Vorrang hätte. Als der selbstbezeichnete, einzig autoritative Ausleger des Wortes hatte Rom das letzte Sagen in allen Dingen, die mit der Bibel zu tun haben.
Diese beanspruchte Autorität war einer der Hauptangriffspunkte der Reformatoren und ihre Kritik wurde in der Phrase sola scriptura – die Schrift allein – zusammengefasst. Mittels dieser Lehre argumentierten die Reformatoren, dass Rom fehlbar war, während das Wort Gottes unfehlbar ist. Wenn also die beiden in Konflikt stehen, dann ist der einzelne Christ durch das Wort Gottes gebunden, gegen Rom zu stehen. Das Gewissen des Gläubigen ist allein durch das Wort Gottes gebunden und durch nichts anderes.
Das kam deutlich zum Vorschein in der Antwort Martin Luthers, als er 1521 vor dem Reichstag zu Worms stand und sagte:
Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist.
Ein Folge der Lehre von sola scriptura ist die Lehre der christlichen Freiheit; eine Lehre, die vor der widerrechtlichen Aneignung oder dem Machtmissbrauch durch Menschen und Institutionen über das Gewissen des Volkes Gottes schützt. Diese Lehre sagt aus, dass der Christ Freiheit zu entscheiden hat, wenn die Schrift (oder eine Wahrheit, die sich daraus rechtmäßig ableiten lässt) nicht ein spezifisches ethisches Thema berührt – sein Gewissen kann durch niemanden gebunden werden. Auf diese Weise ist der Christ geschützt vor der Tyrannei menschlicher Autoritäten oder Meinungen.
Theologen beschreiben Gebiete der Freiheit als adiaphora-Fragen, die nicht zu den grundlegenden Elementen des Glaubens gehören. Das Wort kommt vom griechischen a-, als Negation, und diaphora heißt „unterscheidbar“. Wenn man beides zusammenfügt, ergibt adiaphora „unentscheidbar“. Da es kein moralisches Mandat durch die Schrift gibt, ist der Christ frei, sich entsprechend seiner Vorlieben zu entscheiden.
Die Lehre der christlichen Freiheit war in der Reformationszeit kein kleines Thema; manche würden sogar sagen, dass es eines der Hauptthemen war. Aber warum war es für die Reformatoren so wichtig? Johannes Calvin ist hier hilfreich:
Aber die Sache [der christlichen Freiheit] hat mehr Belang, als man gemeinhin glaubt. Denn sobald sich unser Gewissen einmal in diese Fessel verstrickt hat, kommt es in ein langes und auswegloses Labyrinth hinein, aus dem sich nachher so leicht kein Ausgang mehr finden lässt. Wenn einer schon einmal zu zweifeln angefangen hat, ob er zu Tüchern, Hemden, Schnupftüchern und Tischtüchern Leinen brauchen darf, so wird er nachher schon nicht mehr sicher sein, ob ihm Hanf verstattet ist, und schließlich wird ihn selbst noch bei Werg der Zweifel überfallen! … Wer sich in solche Zweifel verwickelt hat, der mag sich wenden, wohin er will: er sieht überall einen unmittelbaren Anstoß für sein Gewissen! (Institutio, 3.19.7)
Wenn ein Christ eine biblisch neutrale Handlung zu etwas allgemein Falschem macht – nicht nur für sich selbst, sondern für andere – betritt er eine schiefe Ebene, die keine biblischen Grenzen mehr kennt. Das ist eine Form von Gesetzlichkeit; sie macht aus der Freiheit ein Gesetz und die Folge ist, dass die Gewissen der Gläubigen gefangen genommen und die gottgegebenen Kategorien von Gesetz und Freiheit verwirrt werden.
Was christliche Freiheit nicht ist
Weil sich so viele menschengemachte Regeln in der Kirche ausgebreitet haben, hat unsere Gemeinde im Mitgliedschaftskurs eine Einheit hinzugefügt, die den Titel trägt: „Was wir als Gemeinde nicht sind“. Wir haben jetzt eine Liste von mehr als 25 Punkten, die Menschen abhalten sollen, die mit einer Agenda kommen und die Gewissen der Gläubigen binden wollen.
Aber wie es so oft der Fall ist, können wir den einen Straßengraben vermeiden, nur um in einem anderen zu landen. Die Lehre der christlichen Freiheit kann von sorglosen Christen missbraucht werden, die sie nicht verstehen oder falsch anwenden. Paulus kommt hier zu Hilfe. Bedenke seine Worte in Galater 5,13: „Denn ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder; nur macht die Freiheit nicht zu einem Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander durch die Liebe“. Petrus stimmt dem zu: „Lebt als Freie, und nicht als solche, die die Freiheit als Deckmantel für die Bosheit benutzen, sondern als Knechte Gottes“ (1Petr 2,16). Bereiche, in denen die christliche Freiheit gilt, sind keine Ausrede für Sünde.
Noch mehr zu dem Thema wird in Römer 14 gesagt. Heutzutage wird oft über den Gebrauch von Alkohol diskutiert; die frühe Kirche diskutierte über Speisen, die Götzen geopfert wurden: Sollten sie solche Speisen verzehren oder nicht? Paulus gab zwei Prinzipien, die wir beachten sollten, und wir finden beide in Römer 14,3: „Wer [Götzenopferfleisch] isst, verachte den nicht, der nicht isst; und wer nicht isst, richte den nicht, der isst; denn Gott hat ihn angenommen“.
Erstens, stärkere Brüder schauen oft auf schwächere Brüder herab und Paulus ermahnt sie dazu, sich vor Überheblichkeit zu schützen. Aber zweitens ist es wichtig zu sehen, dass derjenige, der sich enthält, auch eine Verpflichtung hat: Er soll den nicht richten, der isst. Das heißt, er hat nicht das Recht, über seinen Bruder ein Urteil zu fällen – eine Handlung Sünde zu nennen, die Gott nicht Sünde genannt hat. Der Rat von Paulus am Ende ist dieser: „So lasst uns nun nach dem streben, was zum Frieden und zur gegenseitigen Erbauung dient“ (Röm 14,19). Es geht darum, einander zu dienen, nicht darum, mit der eigenen Freiheit anzugeben oder denjenigen zu verachten, der sie gebraucht.
Christen, die ein Herz haben, das in Liebe zu Gott entbrannt ist, gibt es in allen Formen und Praktiken in Bezug auf den Gebrauch christlicher Freiheit. Und Gott ruft uns zu ehrlicher Selbstevaluation in seiner Gegenwart auf, bevor wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Brüder und Schwestern richten (Mt 7,1; Röm 14,22–23).