Induktives Bibelstudium

Rezension von Ron Kubsch
5. Juni 2019 — 5 Min Lesedauer

Das Induktive Bibelstudium ist eine praxisorientierte Methode, um die Bedeutung von Bibeltexten zu erschließen. Das Prinzip ist sehr einfach. Der Bibelleser kommt in drei Schritten zum Ziel: Er (1) beobachtet, (2) interpretiert und (3) wendet an.

Beobachten, interpretieren und anwenden

Beim Beobachten wird der Bibeltext gründlich gelesen. Dabei werden wichtige Informationen aus dem Text „eingesammelt“. Der Leser schaut genau hin, markiert Schlüsselwörter, Gegensätze, Vergleiche, Themen und so fort. Beim Interpretieren setzt der Leser die gerade gesammelten Informationen in ein Verhältnis zum innerbiblischen Kontext. Er versucht also, zu verstehen, was die Hörer des Textes in ihrer damaligen Zeit verstanden haben. Bei der Anwendung geht es schließlich darum, den Ertrag der Interpretation mit dem eigenen Leben in Verbindung zu bringen. Also: Was bedeutet der Text für mich oder für uns? Was sind die Konsequenzen?

Neue Entwicklungen in der Hermeneutik eingearbeitet

In den letzten Jahrzehnten wurden viele Anleitungen zum Induktiven Bibelstudium veröffentlicht. Zugleich wurde aber auch erkennbar, dass diese insgesamt eingängige Methode mit jüngeren Entwicklungen in der Bibelhermeneutik nicht Schritt halten kann. Die neue Publikation Induktives Bibelstudium von Richard Alan Fuhr und Andreas J. Köstenberger versucht nun, innovative Entwicklungen der Hermeneutik mit dem praxisbezogenen Bibelstudium zusammenzufassen. Wissenschaftliche Grundlage für dieses Projekt ist die voluminöse Hermeneutik von Köstenberger und Patterson (Invitation to Biblical Interpretation: Exploring the Hermeneutical Triad of History, Literature, and Theology. Grand Rapids, MI: Kregel Academic & Professional, 2011). Die dort herausgearbeitete Triade von Geschichte, Literatur und Theologie wird in diesem Buch mit der traditionellen Methode des induktiven Textstudiums zusammengeführt. Ausgehend von der Prämisse, dass die Bibel ein historischer, literarischer und theologischer Text ist und aus dem Blickwinkel dieser drei Dimensionen gelesen werden sollte, bietet die induktive Methode hier den Rahmen für ein schrittweises Studium, das alle Facetten der sogenannten hermeneutischen Triade berücksichtigt.

Durch die grundlegenden Schritte der Beobachtung, Auslegung und Anwendung liefert das Werk konkrete Handlungsanweisungen für den Umgang mit Bibeltexten. Es ist in vier Abschnitte unterteilt. Der erste Teil stellt die induktive Methode vor und führt in aktuelle Herausforderungen ein. Der zweite Teil stellt fünf Schritte der Beobachtung vor. Diese Schritte versetzen den Leser in die Lage, die Bibel mit großer Sorgfalt beobachtend anhand gezielter Fragen zu erforschen. Hier werden unterschiedliche Übersetzungen verglichen oder auch besondere Merkmale der verschiedenen Textgattungen erörtert. Sogar eine Einführung in die Strukturanalyse ist enthalten. Der dritte Teil macht den Leser mit dem zweiten Schritt der induktiven Methode vertraut: der Auslegung. Behandelt werden Einleitungsfragen und das Ernstnehmen der historischen, literarischen und theologischen Zusammenhänge. Auch das Studium von Wortbedeutungen und literarischen Einheiten wird hier vorgestellt und bewertet. In dem vierten und letzten Teil setzen sich die beiden Autoren mit verschiedenen Schritten und Problemstellungen auseinander, die die Anwendung eines aus der Antike stammenden Textes für die Gegenwart betreffen. Es wird also untersucht, wie die Erträge der Auslegung in unser Leben heute übertragen werden können.

Viele Beispiele enthalten

Erfreulicherweise werden Themen wie Übersetzungstheorie, Bildersprache oder wissenschaftliche Hilfsmittel erörtert. Als besonders hilfreich erachte ich es, dass sehr viele konkrete Bibeltexte behandelt werden. Immer wieder wird an biblischen Texten durchexerziert, was bestimmte Einsichten oder methodische Schritte für die Auslegungspraxis bedeuten. Um zwei Beispiele zu nennen: Die Autoren diskutieren ausführlich, ob in Psalm 8,6 der hebräische Begriff elohim besser mit „Gott“ oder „Engel“ übersetzt werden sollte. Grammatikalisch sind beide Varianten möglich. Lexikalisch ist der Begriff „Gott“ dem Wort „Engel“ vorzuziehen. „Engel“ passt allerdings besser in den Zusammenhang. Freilich ließe sich elohim auch einfach mit „himmlische Wesen“ übersetzen, so wie es die Englisch Standard Version (ESV) oder die New International Version 1984 (NIV) getan hat (vgl. S. 45–48). Ebenfalls exemplarisch wird erörtert, ob 1. Korinther 7,1 die Meinung des Paulus wiedergibt oder aber der Apostel dort die Position der Korinther zitiert, um diese anschließend zu widerlegen. Die Züricher 2007 sagt etwa: „Nun zu der Ansicht, die ihr in eurem Brief vertretet, dass es für einen Mann gut sei, keine Frau zu berühren“, und markiert damit die Aussage als Zitat. Anders hingegen die Elberfelder: „Wovon ihr aber geschrieben habt, darauf antworte ich: Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren.“ Demnach ist es die Meinung des Paulus, dass ein Mann möglichst ledig bleiben soll. Da der griechische Text keine Satzzeichen kennt, muss der Übersetzer bzw. Leser entscheiden, wie diese Stelle zu deuten ist (S. 49–51).

Oft fehlt bei der Betrachtung von Beispieltexten eine explizite Stellungnahme der Autoren. Manche Leser wird das enttäuschen. Ich selbst finde das didaktisch klug, da auf diese Weise signalisiert wird, dass der Leser in der Verantwortung steht, zwischen verschiedenen exegetischen Alternativen zu wählen. Da das Buch für Laien geschrieben wurde und keine Kenntnisse der Altsprachen voraussetzt, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass beim Studium der Schrift auf verschiedene Übersetzungen zurückzugreifen ist. Wer nur mit einer Übersetzung arbeitet, kann die Varianten nicht entdecken.

Deutschsprachige Ausgabe vorbildlich kontextualisiert

Die deutsche Ausgabe des Buches erschien nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Originals. Der Übersetzer und die Herausgeber haben folglich sehr hart und schnell gearbeitet. Es wurden nicht nur die drei Register übersetzt (Bibelstellen, Autoren und Stichwörter), sondern auch deutsche Bibelübersetzungen vollumfänglich eingearbeitet. Diese Fleißarbeit steigert den Wert des Buches für deutschsprachige Leser enorm. Vermutlich ist es diesem zeitlichen Druck zu verdanken, dass hin und wieder Sätze verschachtelt daherkommen oder Begriffe unglücklich übersetzt worden sind. So wurde beispielsweise das engl. gap mit „Lücke“ übertragen, was dann zu der Redewendung „kulturelle Lücke“ oder „sprachliche Lücke“ geführt hat (vgl. S. 11–16). Hier hätte meiner Meinung nach „Graben“ besser gepasst, da sich Formulierungen wie „Kultureller Graben“ oder „Sprachlicher Graben“ in der deutschsprachigen Literatur etablieren konnten.

Aber das sind Geringfügigkeiten, die den Nutzen des Buches insgesamt nicht schmälern. Wir dürfen dem herausgebenden Verein „Precept Ministries International“ e. V. für die zügige Übertragung des Buches sehr dankbar sein. Deutschsprachige Leser erhalten eine wertvolle Anleitung zum induktiven Schriftstudium, verfasst von Autoren, die sich zur Inspiration der Bibel bekennen und zugleich von der Notwendigkeit methodischer Sorgfalt bei ihrer Auslegung überzeugt sind.

Buch

Richard Alan Fuhr u. Andreas J. Köstenberger. Induktives Bibelstudium: Beobachtung, Auslegung und Anwendung aus dem Blickwinkel der Geschichte, Literatur und Theologie. Precept Ministries International, 2018, 352 S. 24,95 €.