Christologie, die Lehre über Christus
Ein geschichtlicher und theologischer Überblick
Es gibt keine wichtigere Frage als die, die Jesus seinen Jüngern stellte: „Ihr aber, für wen haltet ihr mich?“ (Mt 16,15) Keine Frage wurde heißer diskutiert, vollständig oder teilweise falsch verstanden, zum eigenen Schaden ignoriert und zum großen persönlichen Gewinn richtig beantwortet. Die richtige Antwort auf diese Frage ist, in gewisser Hinsicht, einfach genug, dass ein Kind gerettet werden kann, aber auch komplex genug, um Theologen bis in alle Ewigkeit zu beschäftigen. Wenn das ewige Leben darin besteht, Jesus Christus zu erkennen (Joh 17,3), dann können wir es uns nicht leisten, unwissend zu sein über den, der „hervorragend unter Zehntausenden“ ist (Hld 5,10).
Was die Apostel und Propheten über Jesus sagen
Petrus bekannte Jesus als den „Christus, den Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,16). Johannes nannte Jesus „das Wort“, welches Fleisch wurde (Joh 1,14). Paulus beschrieb Jesus nicht nur als „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, den Erstgeborenen, der über aller Schöpfung ist“ (Kol 1,15), sondern auch als „den Menschen Christus Jesus“ (1Tim 2,5). Auf gleiche Weise identifiziert der Hebräerbrief Jesus sowohl als „die Ausstrahlung seiner Herrlichkeit“ (Hebr 1,3) als auch als denjenigen, der des Fleisches und Blutes teilhaftig wurde (Hebr 2,14). Nachdem er Christus berührt hatte, behauptete Thomas auf denkwürdige Weise, dass Jesus sein „Herr“ und sein „Gott“ war (Joh 20,28). Im Alten Testament hatte Jesaja eine Vision von Christus, in der er ihn „den König, den Herrn der Heerscharen“ nannte (Joh 12,41; siehe Jes 6,5), aber er nannte diesen König auch den Knecht des Herrn, der „keine Gestalt und keine Pracht“ hatte (Jes 53,2).
Was Jesus über sich selbst sagt
Auch aus den Worten von Jesus können wir viel über ihn lernen. Im Johannesevangelium, wo die bekannten „Ich bin“-Worte stehen, nennt er sich selbst das „Brot des Lebens“ (Joh 6,48), „das Licht der Welt“ (Joh 8,12), „die Tür“ (Joh 10,9), „den guten Hirten“ (Joh 10,11), „die Auferstehung und das Leben“ (Joh 11,25), „den, Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6) und „den wahren Weinstock“ (Joh 15,1).
An anderen Stellen wird Jesus Lehrer genannt (Mk 1,27), Prophet (Mt 21,11), Sohn Davids (Mt 9,27), Knecht (Mt 12,18), Menschensohn (Mt 12,8), Herr (Mt 14,30), Lamm Gottes (Joh 1,36), Sohn des lebendigen Gottes (Joh 6,69), der Anfang (Kol 1,18), Hohepriester (Hebr 5,1-10), der Lebende (Offb 1,18), Erlöser (Röm 11,26) und leuchtender Morgenstern (Offb 22,16).
Zu dieser eindrücklichen Ansammlung biblischer Namen und Beschreibungen könnten noch viele weitere hinzugefügt werden; weit mehr, als wir uns vorstellen können.
Irrlehren in den ersten fünf Jahrhunderten
Aber diese vielfältigen Aussagen über die Person Christi sind nicht immer leicht zu verstehen. Die frühe Kirche rang beim Konzil von Chalcedon (451 n. Chr.) lang und hart um eine prägnante und genaue Beschreibung der Person Christi.
Jedes Jahrhundert seit der Zeit Christi und der Apostel hatte eine oder mehrere falsche Sichtweisen. Im späten ersten Jahrhundert hinterließ der Irrtum des Doketismus seinen Stempel. Serapion, Bischof von Antiochia (190-203 n. Chr.), vertrat die Ansicht, dass das Fleisch Jesu „geistlich“ war. Jesus hatte keine wahre menschliche Natur, sondern schien nur (griechisch dokeō) menschlich zu sein. Diese falsche Ansicht wurde sogar schon vertreten, während die Apostel noch am Leben waren (2Joh 7).
Im zweiten Jahrhundert lehnten die Ebioniten („die Armen“) die jungfräuliche Empfängnis Jesu ab. Sie hielten ihn für den Messias, glaubten aber nicht, dass er göttlich war.
Das frühe dritte Jahrhundert sah das Aufkommen von Paulus von Samosata, der Bischof der Kirche von Antiochia war (ca. 260 n. Chr.). Er hatte eine Sicht von Christus, die mehrere Irrlehre umfasste. Für ihn war Jesus ein gewöhnlicher Mensch, der vom Logos (dem Wort) bewohnt und auf diese Weise zum Sohn Gottes wurde. Der Logos, der Jesus bewohnte, war nicht eine göttliche Person gesondert vom Vater und vom Geist, sondern eine göttliche Eigenschaft des Vaters, die in Jesus wohnte.
Einer der zwei Hauptgegner der wahren Merkmale von Christus im vierten Jahrhundert war Apollinaris von Laodizäa (ca. 315-392 n. Chr.). Apollinaris reagierte zum Teil auf andere häretische Strömungen. In seiner Reaktion auf Ansichten wie die von Paulus von Samosata argumentierte Apollinaris, dass der Logos nur einen menschlichen Leib angenommen habe, aber keinen menschlichen Geist. Seine Gegner antworteten richtigerweise, dass diese Theorie bedeuten würde, dass die Menschwerdung einfach darin bestünde, dass Göttlichkeit in einem geist- und seelenlosen Leib wohne. Viele Christen fallen heute in einen ähnlichen Irrtum, wenn sie denken, dass der Geist und die Seele von Christus in seiner göttlichen Natur bestehen. Aber das ist falsch. Der andere Häretiker dieser Zeit war Arius von Alexandria (ca. 250-336 n. Chr.). Er leugnete, dass der Logos gleich ist mit dem Vater, und ging davon aus, dass es eine Zeit gab, in der es den Sohn Gottes nicht gegeben habe.
Im fünften Jahrhundert kam eine präzisere Christologie auf, aber nur nach viel politischem und theologischem Kampf. Sogar schon vor Chalcedon gab es Konzile, die den biblischen Befund in Bezug auf die Person Christi verstehen wollten. Aber im Laufe dieses Jahrhunderts – dem wichtigsten Jahrhundert in der frühen Kirche für die Entwicklung der Christologie – waren die Theologen von Antiochia, wo Nestorius ausgebildet wurde, erpicht darauf, der vollen Menschheit von Jesus gerecht zu werden. Kyrill von Alexandria (ca. 376-444 n. Chr.), der wahrscheinlich der wichtigste Theologe war, der in der frühen Kirche über die Person Christi schrieb, schätzte dieses Anliegen, auch wenn er manchmal Dinge sagte, die diesem Glauben zu widersprechen schienen. Kyrill und die Theologen Antiochias hatten sogar für eine gewisse Zeit Einvernehmen. Aber dieses Einvernehmen war nicht vollständig. Und die radikaleren Nachfolger Kyrills, wie Eutyches, neigten dazu, die menschliche Natur Christi zu „vergöttlichen“.
All dies weist auf die Tatsache hin, dass die Theologen bis zu diesem Zeitpunkt einen gemeinsamen Glauben über die zwei Naturen Christi hatten. Aber ihre Meinungsverschiedenheiten konzentrierten sich auf die Qualität oder die Integrität der zwei Naturen, wie sie sich in der Person Christi zueinander verhalten. Manche betonten die göttliche Natur so sehr, dass sehr wenig, wenn überhaupt etwas, von der menschlichen Natur Christi übrigblieb; andere taten das Gegenteil. Chalcedon scheint diese Probleme, die die Kirche in den ersten fünf Jahrhunderten plagten, mit Erfolg gelöst zu haben.
Das Konzil von Chalcedon (451 n. Chr.)
Als sich die christologische Krise des fünften Jahrhunderts mehr und mehr verschärfte, beriefen die Kaiserin Pulcheria und der Kaiser Marcia ein Konzil in Chalcedon ein. Das Konzil wurde streng überwacht. Nicht nur wurden manche Bischöfe zugelassen und andere nicht, sondern auch gewisse Dokumente und andere nicht. Beim Konzil von Ephesus (431 n. Chr.) wurde ein Werk von Leo, dem Bischof von Rom, nicht zugelassen. Aber bei Chalcedon durfte dieses Werk mit der Betonung von Kyrill von Alexandria verbunden werden, um eine Konsensaussage zu erreichen. Kyrill, der Jahre vor Chalcedon starb, betont stark die Einheit der zwei Naturen in eine „Einsheit“ (griechisch henōsis). Die Betonung der zwei Naturen – ein Produkt der westlichen dualen Christologie (die typisch war für Augustinus und andere) – spiegelte eine Betonung von Leo wider, die auch Einzug in das Glaubensbekenntnis fand. Der zentrale Abschnitt von Chalcedon besagt:
Wir folgen also den heiligen Vätern und lehren alle einmütig, einen und denselben Sohn zu bekennen, unseren Herrn Jesus Christus. Derselbe ist vollkommen in der Gottheit und derselbe vollkommen in der Menschheit, derselbe wirklich Gott und wirklich Mensch aus einer vernünftigen Seele und einem Körper. Er ist dem Vater wesensgleich nach der Gottheit und derselbe uns wesensgleich nach der Menschheit, in jeder Hinsicht uns ähnlich, ausgenommen die Sünde. Vor aller Zeit wurde er aus dem Vater der Gottheit nach gezeugt, in den letzten Tagen aber wurde derselbe um unsert- und unseres Heiles willen aus der Jungfrau und Gottesgebärerin Maria der Menschheit nach geboren.
Wir bekennen einen und denselben Christus, den Sohn, den Herrn, den Einziggeborenen, der in zwei Naturen, unvermischt, ungewandelt, ungetrennt, ungesondert geoffenbart ist. Keineswegs wird der Unterschied der Naturen durch die Einigung aufgehoben, vielmehr wird die Eigenart jeder Natur [gerade] bewahrt, und beide vereinigen sich zu einer Person und einer Hypostase.
Wir bekennen nicht einen in zwei Personen gespaltenen oder getrennten, sondern einen und denselben einziggeborenen Sohn, den göttlichen Logos (= Wort), den Herrn Jesus Christus, wie vorzeiten die Propheten über ihn und [dann] Jesus Christus selbst uns unterwiesen haben und wie es das Glaubensbekenntnis der Väter uns überliefert hat.
Die Erklärung über die Person Christi ist bis heute ein wunderschöner Ausdruck der Rechtgläubigkeit, dem man folgen muss, wenn man rechtgläubig und treu gegenüber dem gesamtbiblischen Zeugnis bleiben möchte. Sie hat sich über die Zeit bewährt. Zugegebenermaßen lässt sie sich unterschiedlich interpretieren. Katholiken, Lutheraner und reformierte Theologen haben zum Beispiel Christologien entwickelt, die sich nicht miteinander harmonisieren lassen. Wenn die Beziehung zwischen den zwei Naturen vor Chalcedon die Quelle von vielen Konflikten war, kann man nicht abstreiten, dass manche Konflikte bis heute andauern, selbst wenn sie nicht in der politischen Aufgeheiztheit der frühen Kirche stattfinden.
Im Folgenden werden wir auf Grundlage des Glaubensbekenntnisses von Chalcedon versuchen, eine umfassende Antwort auf die Frage von Christus zu geben: „Für wen halten die Leute mich?“
Vollkommen Gott
Die Beweise dafür, dass Jesus von Nazareth vollkommen göttlich ist – homoousios (gleichen Wesens) wie Gott – sind so überwältigend, dass es schwierig ist, die Menschen nachzuvollziehen, die mit dieser Wahrheit ringen. Wenn Jesus nicht vollkommen Gott ist, dann haben sich die Schreiber des Neuen Testaments aufs äußerste angestrengt, um die Kirche zu verwirren und zu belügen (siehe zum Beispiel Phil 2,5-11; Kol 1; Hebr 1).
Der Prolog zum Johannesevangelium gibt ausreichend explizite Beweise, dass die Kirche den Fall, dass Jesus „wahrer Gott“ ist, abschließen kann. Bedenke die Eingangsworte: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott“. Später im Prolog macht Johannes den erstaunlichen Punkt – wahrscheinlich den unglaublichsten Vers für jeden Juden aus dem ersten Jahrhundert – dass „das Wort Fleisch wurde“. Das Wort „war“ in Vers 1 sollte dem Wort „wurde“ in Vers 14 gegenübergestellt werden. Das Wort (Logos) „wurde“ nicht im Sinne, dass es anfing, zu existieren. Stattdessen „war“ das Wort einfach. Andere Stellen im Johannesevangelium bekräftigen und untermauern diese Wahrheit (Joh 3,13; 6,62; 8,57–58; 17,5; 20,28). Ferner, als Jesaja „den König, den Herrn der Herrscharen“ sah (Jes 6,5), zitiert Johannes eine lange Passage aus Jesaja 6 und sagt dann, dass Jesaja „dies sprach, als er [Jesu] Herrlichkeit sah und von ihm redete“ (Joh 12,41). In Jesaja wird uns gesagt, dass Gott seine Herrlichkeit keinem anderen als sich selbst gibt, aber in Johannes 17,5 bittet Jesus den Vater, ihn zu verherrlichen „mit der Herrlichkeit, die [er] bei [seinem Vater] hatte, ehe die Welt war“ (Joh 17,5). Wenn Jesus nicht Gott wäre, dann wäre er nicht nur fehlgeleitet, sondern seine Bitte wäre ein Gräuel.
Im Buch der Offenbarung gibt es außerdem viele Stellen, die die Göttlichkeit Christi beweisen. Wenn er Jesus in der Offenbarung beschreibt, zieht Johannes klare Verbindungen zwischen Jesus und Jahwe (dem Herrn):
Ich, der HERR, der ich der Erste bin und auch bei den Letzten noch derselbe! (Jes 41,4) Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebende. (Offb 1,17)
Ich bin der Erste, und ich bin der Letzte, und außer mir gibt es keinen Gott. (Jes 44,6) Und dem Engel der Gemeinde von Smyrna schreibe: Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und lebendig geworden ist. (Offb 2,8)
Ich bin es, ich bin der Erste, und ich bin auch der Letzte! (Jes 48,12) Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte. (Offb 22,13)
Diese erstaunlichen Parallelen lassen wenig Zweifel daran, wer Jesus glaubte zu sein: kein anderer als Jahwe selbst.
Vollkommen Mensch
Jesus ist nicht nur göttlich, sondern auch wahrhaft menschlich. Wie Chalcedon es ausdrückt: „…wirklich Mensch aus einer vernünftigen Seele und einem Körper… uns wesensgleich nach der Menschheit, in jeder Hinsicht uns ähnlich, ausgenommen die Sünde“. Deshalb wird er „der Mensch Christus Jesus“ genannt (1Tim 2,5), der „Fleisch und Blut“ teilhaftig wurde, um den Teufel durch den Tod außer Wirksamkeit zu setzen (Hebr 2,14). Er ist uns „in jeder Hinsicht“ ähnlich (Hebr 2,17), selbst bis zu dem Punkt, dass er in allem versucht worden ist in ähnlicher Weise wie wir, doch ohne Sünde (Hebr 4,15).
Die Beweise für die wirkliche Menschheit Christi sind so umfassend wie die Beweise für seine wirkliche Gottheit. Als wirklicher Mensch erfuhr Jesus physische Reaktionen wie Hunger (Mt 4,2), Durst (Joh 19,28) und Ermüdung (Joh 4,6). Er weinte (Joh 11,35), wehklagte (Lk 19,41), seufzte (Mk 7,34) und ächzte (Mk 8,12). Wie B. B. Warfield sagte: „Nichts fehlt, dass den Eindruck verstärken soll, dass wir in Jesus ein menschliches Wesen vor uns haben, wie wir selbst“.
Aber er war ohne Sünde, all seine Gefühle und Leidenschaften waren in vollkommener Proportion und Balance. Er war auf angemessene Weise wütend, wenn er wütend war, er war vollkommen freudig, wenn er freudig war. Ja, er erfuhr „nicht bloße Freude, sondern Entzücken, nicht bloße Genervtheit, sondern leidenschaftliche Wut, nicht bloßes Mitleid, sondern tiefstes Mitgefühl und Liebe, nicht nur oberflächliches Leid, sondern außerordentlichen Kummer bis zum Tode, und doch wurde er davon nie überwunden“ (Warfield). All seine Gefühle waren in vollkommener Unterordnung unter den Willen seines Vaters.
Geboren von der Jungfrau Maria (Theotokos)
Aber wie verstehen wir die Tatsache, dass Jesus völlig Gott und völlig Mensch war? Durch ein Wort: Inkarnation (Lukas 1,26–38). Gottes größtes Wunder ist die Menschwerdung des Sohnes Gottes. Der Himmel küsste die Erde. Von nun an ist der Schöpfer auf ewig mit seiner Schöpfung identifiziert. In der Einheit der zwei Naturen in der Person Christi sehen wir Ewigkeit und Zeitgebundenheit, ewige Glückseligkeit und zeitliche Trauer, Allmacht und Schwachheit, Allwissenheit und Unwissenheit, Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit, Unendlichkeit und Endlichkeit. Oder, wie Stephen Charnock es ausdrückte: „Dass Gott auf dem Thron ein Mensch in der Wiege sein sollte; der donnernde Schöpfer ein weinendes Kind und ein leidender Mann, sind solche Ausdrücke der allmächtigen Kraft sowie der herabkommenden Liebe, dass sie die Menschen auf Erden und die Engel im Himmel ins Staunen versetzen“.
Aber was ist mit der Sprache, dass Maria die theotokos (Gottesgebärerin) ist? Die Wahrheit dieser Aussage sollte nicht abgelehnt werden, weil sie durch Katholiken missverstanden und dazu gebraucht wurde, Maria als „die Mutter Gottes“ zu verehren. Der Titel Gottesgebärerin sagt etwas über Jesus aus, nicht über Maria.
Als der Sohn Fleisch wurde (Joh 1,14), nahm er eine menschliche Natur an, nicht eine menschliche Person. Die menschliche Natur besteht in der Person des Sohnes Gottes: „… nicht einen in zwei Personen gespaltenen oder getrennten, sondern einen und denselben einziggeborenen Sohn, den göttlichen Logos (= Wort), den Herrn Jesus Christus“. Theologen haben die Inkarnation des Sohnes Gottes die „hypostatische Union“ genannt. Die Einheit der beiden Naturen in der einen Person bedeutet, dass, wenn wir von Jesus sprechen, wir nicht sagen, dass seine menschliche Natur dies tat oder seine göttliche Natur jenes. Stattdessen sagen wir, dass Jesus dies tat oder jenes, entsprechend entweder seiner menschlichen oder göttlichen Natur. Paulus macht diesen Punkt zu Beginn des Römerbriefs deutlich: „… von seinem Sohn, der hervorgegangen ist aus dem Samen Davids nach dem Fleisch“ (Röm 1,3). Derjenige, den Maria gebar, war nicht nur ein Mensch, noch hatte er nur eine menschliche Natur.
Derjenige, den Maria gebar, war eine göttliche Person, die sowohl eine menschliche als auch eine göttliche Natur besaß. Diese Person ist der Sohn Gottes, was bedeutet, dass Maria „die Gottesgebärerin“ genannt werden kann, solange wir uns klar darüber sind, was das bedeutet. Der Titel theotokos bekräftigt, dass Jesus vollkommen göttlich blieb, selbst als er eine menschliche Natur annahm. Er will dagegen nicht aussagen, dass Maria würdig der Verehrung wäre als „Himmelskönigin“ oder als „Co-Mediatrix“ mit Christus, wie es die katholische Lehre besagt.
Die Eigenart beider Naturen wird bewahrt
Die meisten christlichen Theologen bekräftigen die Unterscheidung zwischen den zwei Naturen Christi. Aber wie diese zwei Naturen miteinander in Beziehung stehen, ist eine Quelle großer Meinungsunterschiede zwischen den verschiedenen theologischen Traditionen. An diesem Punkt erlaubt das Glaubensbekenntnis von Chalcedon verschiedene Interpretationen.
Reformierte Theologen vertreten das theologische Maxim, dass das Endliche (Menschheit) nicht das Unendliche (Göttlichkeit) fassen kann. Dieses Maxim gilt für die zwei Naturen Christi, selbst jetzt im Himmel. Aus diesem Grund hat Christus Begrenzungen nach seiner menschlichen Natur. Er entwickelte sich vom Säuglingsalter ins Mannesalter und erlebte Wachstum an Erkenntnis, die jedem Abschnitt seines Lebens entsprach (Lk 2,52). Er musste von seinem Vater gelehrt werden (Jes 50,4–6). Nach seiner Menschheit musste er damit zufrieden sein, dass ihm nicht alles offenbart wurde während seiner Zeit auf der Erde: „Um jenen Tag aber und die Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, sondern allein mein Vater“ (Mt 24,36). Er „lernte Gehorsam“ durch das, was er litt (Hebr 5,8).
Da die Beziehung zwischen den zwei Naturen Christi seit Chalcedon heiß diskutiert wurde, gibt das Westminster Bekenntnis (8.7) eine Erklärung der Beziehung zwischen den Eigenschaften der jeweiligen Natur: „Christus handelt im Werk der Mittlerschaft nach beiden Naturen, durch jede Natur dementsprechend, was zu ihrem besonderen Wesen gehört; doch wegen der Einheit der Person wird in der Schrift manchmal das, was zur einen Natur gehört, der Person zugeschrieben, die nach der anderen Natur gekennzeichnet ist“. Eine Warnung ist hier jedoch vonnöten. Obwohl die Eigenschaften der beiden Naturen der einen Person zugeschrieben werden, sollten die Eigenschaften der einen Natur nicht der anderen Natur zugeschrieben werden. Zum Beispiel starb Jesus nicht nach seiner göttlichen Natur, weil man der göttlichen Natur den Tod – etwas, das nur die menschliche Natur erleiden kann – nicht zuschreiben kann. Jesus starb nach seiner menschlichen Natur, nicht nach seiner göttlichen Natur.
Um eine Vorstellung zu bekommen, was das Glaubensbekenntnis hier aussagen will, müssen wir über Apostelgeschichte 20,28 nachdenken: „So habt nun acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in welcher der Heilige Geist euch zu Aufsehern gesetzt hat, um die Gemeinde Gottes zu hüten, die er durch sein eigenes Blut erworben hat!“ In diesem Vers wird die eine Person Christi mit seiner göttlichen Natur bezeichnet. Mit anderen Worten, er wird als „Gott“ bezeichnet, obwohl er sowohl Gott als auch Mensch ist, sowohl göttlich als auch menschlich. Jedoch hat Gott, der ein Geist ist, kein Blut. Blut gehört nur zur menschlichen Natur, nicht zur göttlichen Natur. Was das Glaubensbekenntnis aussagt, ist, dass – weil die zwei Naturen in einer Person verbunden sind – das Blut (was nur zur menschlichen Natur gehört) der einen Person Christi zugeschrieben wird (die in diesem Vers „Gott“ genannt wird, obwohl Gott nur zur göttlichen Natur gehört). Weil Christus zwei Naturen hat, die verbunden sind, können wir von dem „Blut Gottes“ sprechen, da „das, was zur einen Natur gehört, der Person zugeschrieben [wird], die nach der anderen Natur gekennzeichnet ist“. Die Eigenschaften der beiden Naturen können der einen Person Christi zugeschrieben werden, selbst wenn Jesus mit einem Namen oder auf eine Weise genannt wird, die nur für eine der Naturen zutrifft.
Besondere Fragen
Thema Unterordnung: Jesus ordnete sich freiwillig dem Willen des Vaters unter. In der Bewegung von oben nach unten nach oben in Philipper 2,6–11, war er „in der Gestalt Gottes, hielt es aber nicht wie einen Raub fest, Gott gleich zu sein“ (erhöht), sondern demütigte sich freiwillig, indem er Knechtsgestalt annahm und dem Vater bis zum Punkt des Todes an einem Kreuz gehorchte (niedrig), was zu seiner Erhöhung führte, wobei er den Namen bekommen hat, der über alle Namen ist (erhöht). Alle Aussagen im Neuen Testament über Christi „Unterordnung“ (Joh 14,28) müssen im Licht des Einvernehmens der Personen der Dreieinigkeit gesehen werden, dass der Sohn eine menschliche Natur annehmen und sich dem Willen des Vaters unterordnen würde.
Thema Sündlosigkeit: Hätte Jesus, als er versucht wurde, möglicherweise sündigen können? Theologen haben über diese Frage unterschiedliche Meinungen, aber die Antwort muss „nein“ sein. Es gibt zwei Gründe, warum Jesus nicht hätte sündigen können. Erstens, wenn Christus hätte sündigen können, dann ergibt sich ein Problem in der Beziehung zwischen seinem menschlichen und seinem göttlichen Willen. Die Glaubensdefinition des sechsten ökumenischen Konzils in Konstantinopel (680-681 n.Chr.) besagt: „Und diese zwei natürlichen Willen stehen sich nicht entgegen, wie die gottlosen Häretiker behaupten, sondern sein menschlicher Wille folgt, und dass nicht widerstrebend oder widerwillig, sondern als Untergebener seines göttlichen und allmächtigen Willens“. Der menschliche Wille kann nicht gegen den göttlichen Willen in Christus gehen, sondern sich ihm nur unterordnen. Zweitens, aufgrund der Einheit der Person konnte Christus nicht sündigen, ohne Gott mit zu betreffen. Die menschliche Natur hätte vielleicht sündigen können; aber da er der Gottmensch ist, ist er deshalb eine Person, die nicht sündigen kann.
Thema Heiliger Geist: Wenn Christus vollkommen göttlich war, warum lesen wir dann von so vielen Hinweisen auf das Werk des Heiligen Geistes in seinem irdischen Leben? Von der Zeit seiner Menschwerdung (Lk 1,31.35) über seine Taufe (Mk 1,10), seine Versuchung (Mk 1,12; Lk 4,14), sein Predigen (Lk 4,18), sein Wunderwirken (Mt 12,28), seinen Tod (Hebr 9,14), seine Auferstehung (Röm 1,4; 8,11) bis zu seiner Himmelfahrt und Inthronisierung (Ps 45,1–7; Apg 2,33) sehen wir, wie der Heilige Geist der ständige und untrennbare Begleiter Christi war.
Christus erachtete seine Gottgleichheit nicht als etwas, das er zu seinem eigenen Vorteil missbrauchte (Phil 2,6). Stattdessen gehorchte er in völliger Abhängigkeit vom Heiligen Geist vollkommen dem Willen seines Vaters, ohne seine göttliche Natur fälschlich einzusetzen. Wie John Owen argumentierte: „Was immer der Sohn Gottes in oder durch seine menschliche Natur tat, das tat er durch den Heiligen Geist“. Der Heilige Geist bringt in Christus die Frucht des Geistes hervor (Gal 5,22). Deshalb können Gläubige nicht nur mit einem gewaltigen Retter rechnen, der die Mächte der Finsternis besiegt hat, sondern auch mit einem barmherzigen, geduldigen und liebenden Retter, weil er mit den Gnadengaben des Heiligen Geistes erfüllt ist. Wegen dieser Wahrheit mutmaßte der Puritaner Thomas Goodwin, dass die Sünden des Volkes Gottes Christus mehr zum Mitleid als zur Wut bewegen. Goodwin fügt hinzu: „Wenn es unendliche Welten an liebenden Geschöpfen gäbe, hätten sie nicht so viele Liebe in sich, wie im Herzen des Mannes Christus Jesus war“.
Fazit
Weil die Sünde durch einen Menschen in die Welt kam, muss ein Mensch Gott Genugtuung leisten. Aber ein sündiger Mensch kann nicht für seine eigene Sünde Genugtuung leisten. Ein lediglich sündloser Mensch könnte möglicherweise für einen anderen sündigen Menschen Genugtuung leisten. Genugtuung für viele Menschen („wie der Sand am Meer“) kann jedoch nur durch den Gottmenschen Jesus Christus geschehen, wegen des unendlichen Wertes seiner Person. Er ist der von Gott eingesetzte Messias, der allein Sündern Rettung bringen kann durch seinen Tod und seine Auferstehung. Petrus erkannte diese große Wahrheit zu einem eigenen großen Gewinn. Durch Glauben bekannte Petrus Jesus als den Christus, den Sohn Gottes (Mt 16,16). Nun erblickt Petrus die Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi. Diejenigen, die in diesem Leben durch Glauben die Herrlichkeit Gottes im Angesicht Jesu Christi erblicken (2Kor 3,18), können mit Gewissheit erwarten, im zukünftigen Leben diese Herrlichkeit zu sehen (2Kor 5,7). Das ist unsere Hoffnung; das ist unsere Freude. Deshalb ist die einzige Hoffnung der Kirche heute nicht ein bloßer Mensch, sondern der Gottmensch, der dich fragt: „Was sagst du, der ich bin?“