„Dein Vater, der ins Verborgene sieht“

Artikel von Derek Thomas
24. Februar 2019 — 4 Min Lesedauer

Für Jesus ist das, was wir im Verborgenen tun, das, was am meisten zählt. Jesus will nicht sagen, dass das Äußerliche unwichtig wäre – weit gefehlt. „Was hilft es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, und hat doch keine Werke? Kann ihn denn dieser Glaube retten?“ (Jak 2,14)

Die Antwort ist ausdrücklich Nein. Dennoch ist es auch möglich, äußerliche Werke ohne innere Wirklichkeit zu haben. In diesem Fall ist Religion etwas, das man vorspielt. Jesus gebraucht den Begriff im Verborgenen sechsmal in der Bergpredigt, wobei er sich auf drei unterschiedliche Praktiken bezieht:

  • Gib dein Almosen „im Verborgenen…, und dein Vater, der ins Verborgene sieht, er wird es dir öffentlich vergelten“ (Mt 6,4).
  • Bete „im Verborgenen…, und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir öffentlich vergelten“ (Mt 6,6).
  • Faste „im Verborgenen…, und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir öffentlich vergelten“ (Mt 6,18).

Die Bergpredigt befasst sich mit dem Thema der Authentizität. Wie echt ist unsere Beziehung zum Herrn Jesus? Es ist absolut möglich, eine äußerliche Schau von Frömmigkeit zu zeigen – „fromm zu reden“ – ohne die innere Wirklichkeit der Gottseligkeit zu besitzen. Das gilt für jeden bekennenden Christen, aber besonders für diejenigen, die im christlichen Dienst arbeiten. Authentisches Christentum verlangt ein äußeres und wahrnehmbares „Werk im Glauben“ (1Thess 1,3; 2Thess 1,1). Aber es verlangt auch echte, gottselige Gefühle und eine innere Zucht des Herzens.

Es gibt eine Art und Weise, christlichen Dienst zu tun, die sich mehr auf Selbstbezug statt auf Selbstaufopferung konzentriert, mehr auf Selbstgenuss statt auf Selbstdisziplin und mehr auf Selbstentfaltung statt auf Selbstverleugnung. Es gibt auch eine Art des Geldgebens, die auf Anerkennung Wert legt – Wandtafeln, die von den kommenden Generationen gelesen werden sollen oder Pressemitteilungen, in denen auf „großzügige Spenden“ verwiesen wird; Gebete in der altertümlichen Sprache Paul Gerhards, die eine tiefe Frömmigkeit vermuten lassen sollen; Fasten, das sich durch Kleidung äußert, die offenlegt, wie viel man abgenommen hat.

Aber all diese äußerlichen Zurschaustellungen der Frömmigkeit können nichts weiter als Heuchelei sein. Das griechische Wort, das mit „Heuchler“ übersetzt wird (Mt 6,2.5), bezieht sich auf Masken, die von antiken Schauspielern getragen wurden als Symbole des Schauspiels und der Verstellung. Wenn man unter Fanfaren Geld spendet, mit Stolz betet oder sichtbar fastet, ist dieser Dienst unauthentisch. Er ist ein Schwindel.

Unauthentischer Dienst war ein Vorwurf, der dem Apostel Paulus gemacht wurde. Die Korinther behaupteten, dass es eine Diskrepanz gäbe zwischen der Art und Weise, wie er Briefe schrieb, und wie er persönlich war: „Denn die Briefe, sagt einer, sind gewichtig und stark, aber die leibliche Gegenwart ist schwach und die Rede verachtenswert“ (2Kor 10,10). Das ist ein ernster Vorwurf und in seinem zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth verbringt Paulus fast die ganze Zeit damit, sich zu verteidigen. Die Kritik kam aus Eifersucht und besaß deshalb keine Legitimität. Aber Tatsache ist, dass dieser Vorwurf wahr sein kann – nicht bei Paulus, aber bei uns. Leiterschaft muss echt, authentisch und transparent sein.

Ja, es klingt ein bisschen klischeehaft, wenn man das Wort authentisch auf den christlichen Dienst anwendet (genauso wie die Wörter zeitgenössisch, intentional, relevant und gemeinschaftlich). Wenn wir wirklich die Beschreibung authentisch hinzufügen müssen, strengen wir uns wahrscheinlich zu sehr an und sind deshalb eigentlich gar nicht authentisch. Dennoch lauert die Heuchelei überall, besonders auch im christlichen Dienst, und wir ignorieren sie zu unserem eigenen Schaden.

Gottseligkeit muss sich im Herzen finden, wenn sie echt ist. Demjenigen, der öffentlich mehr betet als im Stillen, oder nur zu besonderen Anlässen etwas spendet, wenn ihm wahrscheinlich dafür gedankt wird, oder der geistliche Disziplinen praktiziert und jeden wissen lässt, wie aufwendig seine geistlichen Routinen sind, geht es mehr um den äußerlichen Schein als um eine Herzensbeziehung mit Jesus.

Jonathan Edwards beobachtete das Muster des Heuchlers in Bezug auf Gebet:

Vielleicht kommen sie am Sonntag zum Gottesdienst und gelegentlich an anderen Tagen. Aber sie haben aufgehört, sich täglich zurückzuziehen, um Gott allein anzubeten und sein Angesicht im Verborgenen zu suchen. Sie tun ein bisschen, um ihr Gewissen zu beruhigen und ihre alte Hoffnung aufrechtzuerhalten; weil es schockierend für sie wäre, wenn jemand ihnen absprechen würde, ein wahrer Christ zu sein. Doch haben sie die Praxis des verborgenen Gebets zum großen Teil aufgegeben.

In manchen christlichen Zirkeln werden wieder gern „geschriebene Gebete“ im Gottesdienst verwendet. Das spiegelt zum Teil das Verlangen wider, den Gottesdienst reichhaltiger zu gestalten. Liturgische, geschriebene und vorbereitete Gebete sind sicherlich besser als viele inhaltsleere, spontane Gebete. Aber geschriebene Gebete können auch eine Leerheit des Herzens überdecken.

Thomas Cranmer schien die Gefahr verstanden zu haben, eine Maske der Heuchelei zu tragen, weil er folgenden Abschnitt in das Gebetsbuch der anglikanischen Kirche direkt vor der Abendmahlsfeier einfügte:

Allmächtiger Gott, für den alle Herzen offen, alle Verlangen bekannt und keine Geheimnisse verborgen sind; reinige die Gedanken unserer Herzen durch die Eingebung deines Heiligen Geistes, auf dass wir dich vollkommen lieben und deinen heiligen Namen auf würdige Weise erhöhen mögen; durch Christus unseren Herrn.

Das ist ein Gebet für alle Tage unseres Lebens.