Die großen Austausche des Römerbriefes

Artikel von Sinclair B. Ferguson
17. September 2020 — 7 Min Lesedauer

Wenn das Wunder des Evangeliums in dein Leben bricht, fühlst du dich, als ob du der allererste Mensch bist, der die Kraft und Herrlichkeit dieses Evangeliums entdeckt. Wo war Christus all die Jahre versteckt? Er scheint so frisch, so neu, so voller Gnade zu sein. Dann kommt eine zweite Entdeckung – du warst es, der blind war, aber jetzt hast du genau das Gleiche erfahren wie zahllose Menschen vor dir. Du schaust auf andere. Und tatsächlich, du bist nicht der Erste! Und glücklicherweise wirst du auch nicht der Letzte sein.

Wenn meine eigene Erfahrung in irgendeiner Weise ein Maßstab ist, dann kann die Entdeckung des Römerbriefs eine ähnliche Erfahrung sein. Ich kann mich immer noch erinnern, wie mir als christlicher Jugendlicher langsam dieser Gedanke kam: Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich für mich, aber sie scheint auch eine Form und Struktur zu haben, ein Zentrum und eine Peripherie. Wenn dem so ist, dann sind manche biblischen Bücher grundlegend; diese sollten zuerst gemeistert werden.

Dann kam die Erkenntnis, dass (neben Systematischen Theologien) biblische Kommentare den Grundstock meiner Büchersammlung ausmachen müssen. Da ich zu dieser Zeit in Schottland lebte, wo es keine Studiengebühren gab und mir ein Studentenzuschuss zustand, konnte ich die wunderbaren Studien des Römerbriefs von Robert Haldane und John Murray erwerben. (Nur später bemerkte ich, dass ich vielleicht unbewusst voreingenommen war, da beide Schotten waren!)

Während ich den Römerbrief studierte und mit einigen seiner großen Wahrheiten und so mancher schwierigen Stelle rang (worauf sich gewiss 2Petrus 3,14–16 bezieht!), wurde mir klar, dass unzählige Füße vor mir diesen Weg beschritten hatten. Ich hatte gerade erst begonnen, mit ihnen die sinneserneuernde, lebensverändernde Kraft von dem zu entdecken, was Paulus „das Evangelium Gottes“ (Röm 1,115,16), „das Evangelium von Christus“ (Röm 1,1615,19) und „mein Evangelium“ (Röm 2,1616,25) nennt. Es wurde mir bald klar, warum Martin Luther den Römerbrief das „deutlichste Evangelium von allen“ nannte. Das Evangelium des Römerbriefs kann in einem Wort zusammengefasst werden: Austausch. Als Paulus die Lehre von Römer 1,18–5,11 zusammenfasst, schließt er damit, dass Christen sich „Gottes rühmen durch unseren Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben“ (Röm 5,11). Die grundlegende Bedeutung des griechischen Wortes katallage, das mit „Versöhnung“ übersetzt wird, ist ein Wechsel (Austausch), der stattfindet. Das Evangelium des Paulus ist eine Serie von Austauschen.

Austausch Nummer 1 wird in Römer 1,18–32 beschrieben: Obwohl sie den deutlich geoffenbarten Schöpfergott kennen, der seine Herrlichkeit in dem Universum zur Schau stellt, das er geschaffen hat, haben die Menschen „die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes vertauscht mit einem Bild, […] die Wahrheit Gottes mit der Lüge vertauscht und dem Geschöpf Ehre und Gottesdienst erwiesen anstatt dem Schöpfer, […] den natürlichen Verkehr vertauscht mit dem widernatürlichen“ (Röm 1,23–26) – alles Variationen der gleichen Wurzel.

„Die grundlegende Bedeutung des griechischen Wortes katallage, das mit ‚Versöhnung‘ übersetzt wird, ist ein Wechsel (Austausch), der stattfindet. Das Evangelium des Paulus ist eine Serie von Austauschen.“
 

Austausch Nummer 2 ist die direkte, von Gott verordnete Folge davon: Gott tauschte das Privileg der Gemeinschaft und Erkenntnis des Menschen mit ihm aus gegen seinen gerechten Zorn über den Menschen (Röm 1,18ff). Statt Gott zu erkennen, zu vertrauen und liebend zu verherrlichen, zog die Menschheit durch ihre Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit (die Reihenfolge ist von Bedeutung) Gottes Gericht auf sich.

So wurde Gemeinschaft mit Gott gegen Verurteilung durch Gott ausgetauscht. Keines von beiden ist rein eschatologisch, fern ab in der Zukunft; es durchdringt das Hier und Jetzt. Männer und Frauen geben Gott auf und protzen vor ihm mit ihrer angeblichen Autonomie. Sie denken: „Wir verachten seine Gesetze und brechen sie nach Belieben, ohne dass uns ein angedrohter Donnerschlag des Gerichts trifft“. In Wirklichkeit sind sie durch Gottes Gericht schon verblendet und verhärtet. Sie können nicht erkennen, dass die Verhärtung des Gewissens und die Zerstörung des Körpers als Folge ihrer Rebellion bereits das Gericht Gottes sind. Seine Urteile sind gerecht – wenn wir Gottlosigkeit vorziehen, dann kommt die Strafe durch die gleichen Mittel unseres Verbrechens gegen ihn. Am Ende haben wir das Licht seiner Gegenwart für augenblickliche innere Finsternis und zukünftige äußere Finsternis eingetauscht.

Austausch Nummer 3 ist der gnädige, unverdiente Austausch, den Gott in Christus gemacht hat: Ohne seine Gerechtigkeit, die in seinem Zorn geoffenbart wird, zu kompromittieren, rechtfertigt Gott Sünder in Gerechtigkeit durch die Erlösung, die durch das Sühneopfer von Christus für unsere Sünden vollbracht wurde. Dies erklärt Paulus in den tiefen und inhaltlich dichten Worten von Römer 3,21–26.

Erst später im Brief gibt er uns eine andere, auf manche Weise grundlegendere Sichtweise darauf: Der Sohn Gottes nahm unsere Natur an und kam „in der gleichen Gestalt wie das Fleisch der Sünde“ (Röm 8,3), um den Platz mit Adam zu tauschen, sodass sein Gehorsam und seine Gerechtigkeit um unseretwillen für Adams und unseren Ungehorsam und Sünde eingetauscht werden mögen (Röm 5,12–21).

Austausch Nummer 4 ist der, der Sündern im Evangelium dargeboten wird: Gerechtigkeit und Rechtfertigung statt Ungerechtigkeit und Verdammnis. Diese christusförmige Gerechtigkeit wurde durch sein ganzes Leben des Gehorsams und sein Tragen des Zornes bei seinem Tod am Kreuz gebildet, wo er zu einem Sündopfer wurde. (Er kam, sagt Paulus in Röm 8,3, „um der Sünde willen“.)

Neben seiner Betonung der Tatsache, dass dieser göttliche Austausch mit der absoluten Gerechtigkeit Gottes vereinbar ist (Röm 3,21.22.25.26), legt Paulus Wert darauf, dass dieser Heilsweg mit der Lehre des Alten Testaments vereinbar ist („die von dem Gesetz und den Propheten bezeugt wird“, V. 21; vergleiche 1,1-4). Er besteht auch darauf, dass wir nichts zu unserer Errettung beitragen. Es ist alles aus Gnade. Das Genie der göttlichen Strategie ist einfach atemberaubend.

Hier tritt Austausch Nummer 5 hervor: In seiner Institutio schreibt Johannes Calvin beim Übergang von Buch 2 (über das Werk Christi) zu Buch 3 (über die Anwendung der Erlösung):

Jetzt müssen wir zusehen, wie denn jene Güter, die der Vater seinem eingeborenen Sohne anvertraut hat, zu uns kommen; denn er hat sie ihm ja nicht zum eigenen Gebrauch gegeben, sondern er soll damit die Bedürftigen und Armen reich machen. Da muss man zunächst festhalten: Solange Christus außer uns bleibt und wir von ihm getrennt sind, ist alles, was er zum Heil der Menschheit gelitten und getan hat, für uns ohne Nutzen und gar ohne jeden Belang! Soll er uns also zuteilwerden lassen, was er vom Vater empfangen hat, so muss er unser Eigentum werden und in uns Wohnung nehmen. Deshalb heißt er unser „Haupt“ (Eph 4,35) und „der Erstgeborene unter vielen Brüdern“ (Röm 8,29), deshalb heißt es auf der anderen Seite von uns, dass wir in ihn eingefügt werden (Röm 11,17) und ihn „anziehen“ (Gal 3,27); denn ich wiederhole, dass alles, was er besitzt, uns solange nichts angeht, als wir nicht mit ihm in eines zusammenwachsen. Es ist freilich wahr, dass wir dies durch den Glauben erreichen.

Als Antwort auf den großen Austausch, der für uns in Christus vollbracht wurde, gibt es einen Austausch, der in uns durch den Geist vollbracht wird: Unglaube macht Platz dem Glauben, Rebellion wird gegen Vertrauen ausgetauscht. Rechtfertigung – dass wir für gerecht erklärt und in eine gerechte Beziehung mit Gott gebracht werden – wird uns nicht durch Werke – ob zeremonielle oder andere – zuteil, sondern durch die Ausübung des Glaubens an Christus.