Erfahrung ist nicht alles

Artikel von R.C. Sproul
29. November 2018 — 5 Min Lesedauer

Wir leben in einer Zeit, in der persönliche Erfahrung über alles andere erhoben worden ist als höchstes Kriterium für richtig und falsch. Denk einfach an all die Menschen, die versuchen sich zu rechtfertigen auf Grundlage dessen, was sie fühlen. Scheidung wird routinemäßig entschuldigt auf der Grundlage, dass das verheiratete Paar nicht länger fühlt, dass sie verliebt sind. Uns wird gesagt, dass Homosexualität als ein moralisches Gut angenommen werden sollte, weil einige Homosexuelle berichten, dass sie eine Anziehung zum gleichen Geschlecht von frühem Alter an empfunden haben. Selbst viele bekennende Christen treffen ihre Entscheidungen bezüglich richtig und falsch aufgrund dessen, was sie fühlen.

Es ist schwer, eine Diskussion mit jemandem zu haben, der seine Erfahrung zum höchsten Richter über die Wirklichkeit macht. Viele Menschen machen sich die alte Redewendung zu eigen, dass „ein Mensch mit einer Erfahrung niemals in der Gewalt eines Menschen mit einem Argument ist“. Letztendlich müssen wir diese Aussage ablehnen, aber nicht, weil Erfahrung kein wertvoller Ratgeber ist. Sie kann uns helfen, Theorie mit Praxis zu verknüpfen und abstrakte Konzepte mit konkreten Situationen. Sie hilft uns dabei, die Nuancen des Lebens in dieser komplexen Welt zu sichten. Es gibt sogar manche Erfahrungen, die zu beweisen scheinen, dass Erfahrung über Argumente triumphiert. Ich denke zum Beispiel an Roger Bannister. Vor 1954 argumentierten viele, dass kein Mensch eine Meile unter vier Minuten rennen könnte. Bannister brach diesen Rekord und bewies durch Erfahrung, dass dieses Argument falsch war.

Das Problem ist nicht, dass Erfahrung ein Argument ausstechen kann; wir wissen aus der Geschichte der Wissenschaft, dass Erfahrung durch empirische Untersuchung oft die vorherrschenden Argumente umstürzen konnte. Das Problem ist die Vorstellung, dass der Mensch mit einer Erfahrung niemals in der Gewalt eines Menschen mit einem Argument ist. In vielen Fällen triumphieren gesunde Argumente über die Erfahrung. Das trifft besonders zu, wenn die Debatte persönliche Erfahrung im Gegensatz zu einem richtigen Verständnis des Wortes Gottes betrifft.

Ich kann mich an eine Begebenheit erinnern, als mich eine Frau ansprach und sagte: „Dr. Sproul, ich bin seit dreißig Jahren mit einem freundlichen Mann verheiratet, der gut für mich sorgt, aber kein Christ ist. Irgendwann konnte ich es nicht länger ertragen, nicht die wichtigste Sache in meinem Leben mit ihm zu teilen – meinen Glauben. Also habe ich ihn verlassen. Aber er ruft mich täglich an und bittet mich, zurückzukommen. Was denken sie, was Gott möchte, dass ich tue?“

„Das ist einfach“, sagte ich. „Der Mangel an christlichem Glauben bei ihrem Ehemann ist laut 1. Korinther 7 kein Grund für eine Scheidung. Folglich ist es Gottes Wille, dass sie zu ihm zurückkehren“.

Die Frau mochte meine Antwort nicht und sagte, dass es keine gute Antwort wäre, weil ich nicht wüsste, wie es sei, mit ihrem Ehemann zusammenzuleben. Ich erwiderte: „Werte Frau, sie haben mich nicht gefragt, was ich tun würde, wenn ich in ihren Schuhen stecken würde. Vielleicht hätte ich mich schon viel früher von ihm getrennt, aber das spielt keine Rolle. Sie haben mich über den Willen Gottes befragt, und dieser ist in dieser Situation klar. Ihre Erfahrung ist kein Freifahrtsschein, Gott nicht zu gehorchen“. Ich bin dankbar, berichten zu können, dass, als die Frau erkannte, dass sie Gott darum bat, nur für sie eine Ausnahme zu machen, sie Buße tat und zu ihrem Ehemann zurückkehrte.

Das Argument dieser Frau wird jeden Tag von vielen Christen wiederholt, die das Wort Gottes ihrer eigenen Erfahrung unterordnen. Viel zu oft legen wir die Heilige Schrift beiseite, wenn unsere Erfahrung mit dem Wort Gottes in Konflikt gerät. Wir suchen Zuflucht in der öffentlichen Meinung oder den jüngsten psychologischen Studien. Wir erlauben der allgemeinen Erfahrung der Menschen um uns herum, normativ zu werden, und verleugnen die Weisheit und Autorität Gottes zugunsten der kollektiven Erfahrung gefallener Menschen.

Ehrlich gesagt, wir wissen alle, dass Erfahrung oft ein guter Lehrer ist. Aber Erfahrung ist niemals der beste Lehrer. Gott ist natürlich der beste Lehrer. Wieso? Weil er uns aus der Perspektive der Ewigkeit und aus den Reichtümern seiner Allgegenwart belehrt.

Manchmal versuchen wir, unser Vertrauen auf Erfahrung mit christlich klingender Sprache zu überdecken. Ich kann dir nicht sagen, wie oft mir Christen gesagt haben, dass der Heilige Geist sie dazu geführt hat, Dinge zu tun, die die Heilige Schrift klar verbietet oder dass Gott ihnen Frieden über ihre Entscheidung gab, auf eine Weise zu handeln, die ganz klar dem Gesetz Gottes widerspricht. Aber das ist eine gotteslästerliche Lüge gegen den Geist, als ob er jemals Sünde befürworten würde. Es ist schon schlimm genug, wenn wir dem Teufel die Schuld für unsere eigenen Entscheidungen geben, aber wir begeben uns in ernsthafte Gefahr, wenn wir uns auf den Geist berufen, um unsere Übertretungen zu rechtfertigen.

Eines der mächtigsten Manipulationsmittel, die wir jemals erfunden haben, ist zu behaupten, dass wir die Bestätigung des Geistes für unsere Taten haben. Wie kann es jemand wagen, uns zu widersprechen, wenn wir göttliche Autorität dafür beanspruchen, was wir tun wollen? Das Ergebnis ist, dass jede Frage über unser Verhalten mundtot gemacht wird. Aber die Schrift sagt uns, dass der Heilige Geist uns zur Heiligkeit führt, nicht zur Sünde, und wenn der Geist die Heilige Schrift eingab, dann kann jedwede Erfahrung, die wir haben, die unterstellt, dass wir gegen die biblische Lehre handeln können, nicht von ihm sein.

Solange wir diesseits des Himmels leben, müssen wir mit der Gefallenheit unserer Leiber und Seelen umgehen. Wenn wir unsere Erfahrung zum bestimmenden Element machen für das, was richtig und falsch ist, bedeutet das, Adam und Evas Sünde zu wiederholen. Wieso haben sie dem Herrn nicht gehorcht? Weil sie auf ihre Erfahrung vertrauten, die ihnen sagte, „dass von dem Baum gut zu essen wäre, und dass er eine Lust für die Augen und ein begehrenswerter Baum wäre, weil er weise macht“ (1Mo 3,6). Sie ignorierten die Verheißungen und Warnungen, die Gott ihnen bezüglich der Frucht des verbotenen Baums offenbart hatte. Erfahrung kann und sollte uns lehren, aber sie kann niemals der höchste Richter über richtig und falsch sein. Diese Rolle gehört allein unserem Schöpfer und sein Wort gibt uns die Normen, mit denen wir leben müssen.