Drei gemeinsame Überzeugungen einiger progressiver Christen und Atheisten

Artikel von Alisa Childers 
28. November 2018 — 12 Min Lesedauer

„Hör zu. Ich muss dir was erklären … Ich bin post-christlich … Ich glaube nicht mehr daran. Ich glaube an nichts davon.“

Dies sind die Worte, an die sich der ehemalige christliche Pfarrer Bart Campolo erinnert, als er mit seinem berühmten evangelistischen Vater Tony Campolo sprach, nachdem er den Glauben seiner Jugend verlassen hatte. Er erklärte seine Reise zum säkularen Humanismus, die ein 30-jähriger Prozess über alle Stationen von Häresie war. Mit anderen Worten: Seine Theologie „entwickelte” sich von konservativ zu liberal und dann wurde sie völlig säkular.

Er sagte voraus, dass in zehn Jahren etwa 30 bis 40 Prozent der sogenannten progressiven Christen auch Atheisten sein werden. Das progressive Christentum lässt sich nur schwer definieren, da es kein Glaubensbekenntnis oder eine Liste von Überzeugungen gibt, die progressive Christen offiziell vereint. Doch progressive Christen neigen dazu, das historisch-biblische Verständnis von Ehe und Sexualität abzulehnen, und leugnen im Allgemeinen Glaubenslehren, wie das Sühneopfer und die Autorität der Bibel, oder definieren sie neu. 

Daher ist Campolo der Ansicht, dass die Progressiven das Christentum größtenteils bereits aufgegeben haben und lediglich Begriffe neu definieren, um einen gewissen Anschein ihres Glaubens zu bewahren. Er glaubt, dass die Generation nach ihnen die Oberflächlichkeit dieser neuen Theologie erkennen wird – und da sie nichts in ihr Christsein investiert haben, werden sie im Grunde sagen: „Sagen wir es einfach so, wie es ist“, und schließlich den Glauben ganz und gar verlassen.

Geschichten der Entkehrung

Diese Entwicklung, die Campolo beschreibt, ist nicht schwer zu finden. Das christliche Musikerpaar Gungor machte vor kurzem Schlagzeilen, als Lisa in einem Buzzfeed-Video mit dem Titel  „I Stopped Believing in God after Pastoring a MegaChurch” (dt. „Ich habe aufgehört, an Gott zu glauben, nachdem ich Pastor einer Mega-Gemeinde war“) die ein Jahr dauernde Konversion ihres Mannes zum Atheismus beschrieb. Das Video betont die spirituelle Entwicklung des Paares vom Glauben über „Häresie“ zum Unglauben … und zurück zum Glauben. Obwohl Lisas eigener Atheismus nur einen Tag andauerte, so hat der Glaube, den sie und Michael letztlich angenommen haben, sehr wenig mit dem historischen Christentum zu tun. Nachdem er erklärt hat, dass er sich nicht länger „geistlich heimatlos“ fühlt, hat Michael sich selbst als einen „apophatischen, mystischen Hinduisten, Pantheisten, Christen, Buddhisten und Skeptiker mit einem Hang zum nihilistischen progressiven Existentialismus“ bezeichnet.

Die Gungors sind nicht die Einzigen. Mike McHargue, besser bekannt als „Science Mike“ (dt. „Mike der Wissenschaft“), erzählt eine ähnliche Geschichte der Dekonstruktion mit vorübergehendem Atheismus und der Rückkehr zum Glauben, der dem Christentum, das er früher lebte, fremd ist. Er erzählte dem Relevant Magazin, dass er, nachdem er angefangen hat über seine Geschichte zu schreiben und zu sprechen, tausende E-Mails von Menschen bekommen hat, die diese Erfahrung teilen. Sogar der bekannte skeptische Neutestamentler Bart Ehrmann ging auf seinem Weg vom evangelikalen Christen zum Atheismus durch eine Phase des progressiven Christseins. Nun glaubt er, dass „es möglich ist, beides zu sein, ein Agnostiker und Atheist. So verstehe ich mich selbst.“

Musikgruppen wie Caedmon’s Call komponierten Filmmusik für viele evangelikale Jugendliche. Aus diesem Grund ist es tragisch zu hören, dass das frühere Mitglied, Derek Webb, vor kurzem erklärt hat, er habe seinen Glauben aufgegeben, weil er die christliche Geschichte für „nicht wahr“ hält. Er beschreibt sein letztes Album, Fingers Crossed, als ein „Märchen über zwei Scheidungen“ und bezieht sich dabei auf seine Scheidung von seiner Frau und von Gott. Auf dem Album ist ein Lied mit dem Titel „Goodbye for Now”(dt. „Auf Wiedersehen für jetzt“), in dem er klagt: 

So either you aren’t real
or I am just not chosen
maybe I’ll never know
Either way my heart is broken.
So goodbye for now.

(dt. „Also entweder bist du nicht real
oder ich bin einfach nicht erwählt.
Vielleicht werde ich es nie wissen
So oder so, mein Herz ist gebrochen.
Also auf Wiedersehen für jetzt.“)

Diese „Geschichten der Entkehrung“ (vgl. „Jen Hatmaker and the Power of De-Conversion Stories”) sind schon fast zu einem Übergangsritual in der progressiven Kirche geworden, sodass Podcasts, Internetseiten und Konferenzen sich ganz dem Prozess der Dekonstruktion widmen. Webbs Album haben einige sogar als „eine Ode an die Dekonstruktion“ beschrieben, die einen Podcast mit dem Namen The Airing of Grief inspiriert hat, bei dem Hörer die Geschichten ihrer Entkehrung erzählen können.

„Beide Glaubens-überzeugungen teilen einige wesentliche Überzeugungen miteinander.
 

Die Zukunft wird zeigen, ob Campolos Theorie stimmt, dass ein progressives Christentum zum Atheismus führt. Korrelation ist nicht gleich Kausalität, doch es ist bemerkenswert, dass beide Glaubensüberzeugungen einige wesentliche Überzeugungen miteinander teilen.

Hier sind drei atheistische Vorstellungen, die einige progressive Christen sich zu eigen gemacht haben, die sie vielleicht zum Atheismus bringen.

1. Die Bibel ist nicht vertrauenswürdig.

„[Die Bibel ist] ein zutiefst menschliches Buch.“ (Rob Bell)

„Wenn wir uns auf die Bibel als ein Buch fixieren, das historisch ‚korrekt‘ ist, werden die Evangelien zu einem lähmenden Problem.“ (Peter Enns)

„Alles in der Bibel, das übernatürlich oder im Widerspruch zu den gewöhnlichen Abläufen der natürlichen Welt steht, ist nicht real, sondern mythologisch.“ (James Burklo)

„Warum sollte ich einen Text als ,unfehlbar‘ und ,irrtumslos‘ beschreiben, der eine flache und unbewegliche Erde annimmt, Sklaverei als selbstverständlich ansieht und patriarchale Werte wie Polygamie voraussetzt?“ (Rachel Held Evans)

Sind das die Grübeleien verhärteter Skeptiker? Oder die Erklärungen von Atheisten, die fest entschlossen sind, das Christentum zu zerstören? Nein. Das sind tatsächlich die Worte progressiver christlicher Autoren über ihr eigenes heiliges Buch.

Niemand würde zweimal darüber nachdenken, wenn er einen Atheisten die übernatürlichen Geschichten der Bibel verspotten hört. Doch viele sind überrascht darüber, dass progressive Christen diese Skepsis teilen. Die progressiven christlichen Autoren David Felten und Jeff Procter-Murphy halten es für eine Tatsache, dass die Jungfrauengeburt, Jesu Heilungswunder und die Auferstehung nur metaphorisch zu verstehen seien. Die progressive Autorin Rachel Held Evans empfiehlt Christen, sich weniger um die historische Richtigkeit dieser Wundergeschichten zu sorgen, sondern sich mehr auf die theologischen Punkte zu konzentrieren, die sie lehren.

2. Es gibt keine Antwort auf das Problem des Bösen.

Für Atheisten ist einer der langlebigsten Gründe gegen den Glauben an Gott die Realität des Bösen und Leidens. Im Laufe der Jahrhunderte haben sich sogar viele Christen mit diesem uralten Dilemma herumgeschlagen: Wenn Gott gut ist, warum gibt es das Böse? Wenn er allmächtig ist, warum tut er nichts dagegen? Leider ist die Versuchung groß, den eigenen Glauben neu zu definieren – oder ihn ganz hinter sich zu lassen, wenn man zu keiner Antwort kommt und keinen Frieden findet.

In einem Interview in einer bekannten irischen Fernsehsendung wurde der Atheist Stephen Fry gefragt, was er zu Gott sagen würde, wenn er sterben und feststellen würde, dass es ihn tatsächlich gibt. Er antwortete: „Knochenkrebs bei Kindern? Was soll das denn? Wie kannst du es wagen? Wie kannst du nur zulassen, eine Welt zu schaffen, in der es so viel Elend gibt, das wir nicht verursacht haben? Das ist nicht richtig.“ Fry schloss mit den Worten, wenn Gott existiere, sei er „absolut wahnsinnig“.

„Statt einfach nur zu sagen ‚glaube nur oder ‚du solltest deinen Glauben nicht hinterfragen‘, sollten wir einen sicheren Raum schaffen für Menschen, in dem sie schwierige Fragen stellen und über Zweifel reden dürfen.“
 

Ähnliches sagte Derek Webb, als er kürzlich über seine Bekehrung vom Christentum zum Atheismus sprach: „Entweder ist alles Chaos – oder es gibt einen Gott, der sowohl voller Liebe als auch allmächtig ist, und er ist einfach ein verdammtes A****loch. Es muss eines von beidem sein.“

Lisa Gungor erzählte, dass einer der Wendepunkte in der Dekonstruktion ihres Glaubens ein Besuch des Konzentrationslagers in Auschwitz war. Kurz danach, während sie die Krebserkrankung ihres Cousins verarbeitete, beschrieb sie, dass sie den Tiefpunkt erreicht hatte. Ihr vorübergehender Atheismus kehrte nach der Geburt ihres zweiten Kindes zu einer Art Glauben zurück. Auch wenn sie keine genaue Bezeichnung verwendet, um ihr jetziges Glaubenssystem zu beschreiben, bezieht sie sich auf Gott als die „göttliche Mutter“ und sagt: „Ich mag die Art Jesu. Ich habe keine Definition dafür.“

Der ehemalige Atheist C.S. Lewis schrieb:

„Mein Argument gegen Gott war, dass das Universum so grausam und ungerecht erschien. Doch woher hatte ich diese Vorstellung von gerecht und ungerecht? Man kann eine Linie nicht schief nennen, wenn man keine Vorstellung einer graden Linie hat. Womit habe ich dieses Universum verglichen, als ich es als ungerecht bezeichnet habe?“

Für Lewis führte das Problem des Bösen zum Glauben an Gott. Doch im Fall der progressiven Christen und Atheisten führt es häufig zu Dekonstruktion und Unglauben.

3. Kulturangepasste Moralvorstellungen

Viele Atheisten glauben, dass eine Tat aufgrund ihrer Wirkung auf das Allgemeinwohl moralisch oder unmoralisch sei. Ohne die Notwendigkeit des Gottesbezugs führt diese Sicht dazu, bestimmten gesellschaftlichen Normen zu folgen. 

Beim progressiven Christentum verhält es sich nicht viel anders. Wenn erst einmal die Bibel ihre Autoritätsposition verloren hat, verlagert sich die Autorität für gewöhnlich auf uns selbst. Das eigene Gewissen, die persönliche Meinung und die eigenen Vorlieben werden zur Linse, durch die das Leben und die Moral bewertet und verstanden werden – und diese werden vor allem durch das gegenwärtige kulturelle Umfeld geprägt.

Im Jahr 2016 sorgte Jen Hatmaker für Schockwellen in der amerikanischen christlichen Kultur, als sie erklärte, dass sie nun die gleichgeschlechtliche Ehe gutheiße. LGBT-Aktivist Matthew Vines hat in einem Tweet gepostet, dass dies sie „zu einer der größten Evangelikalen“ mache. Sie ist gewiss nicht die einzige selbsternannte Evangelikale, die keine historisch-christliche Position zur Sexualität und Ehe vertritt.

Für Atheisten stand Moral noch nie auf der Grundlage der Bibel und progressive Christen verändern die Bibel so, dass sie zu den moralischen Maßstäben der Kultur passt.

Atheisten im Entstehen?

Nach seiner Bekehrung zum säkularen Humanismus war Campolo davon überzeugt, dass er weiterhin als Geistlicher etwas zu bieten hatte. Statt das Evangelium Jesu Christi zu predigen, lehrt er nun die Grundsätze des Humanismus als Geistlicher der Universität von Cincinnati. Mit den Fähigkeiten, die er als christlicher Geistlicher erworben hat, arbeitet er wie jeder andere Geistliche und trifft sich mit Studenten, um ihnen Rat und Hilfe zu geben.

Wenn Campolo recht hat, sind viele progressive Christen auf dem Weg, ausgereifte Atheisten zu werden. Und er wird da sein, um den Entkehrten in einer Welt ohne Gott Unterstützung und Freundschaft anzubieten.

„Die Lehren der Bibel sind nicht progressiv – sie sind ewig.“
 

Das soll nicht heißen, dass jeder Christ, der in bestimmten Fragen progressive Ansichten vertritt, auf direktem Weg zum Atheismus gelangt. Das progressive Christentum deckt ein Spektrum ab. Doch Campolo beschreibt, dass es süchtig machen kann, wenn man sich von historischen Lehren abwendet. Er erklärt: „Wenn man erstmal angefangen hat, seine Theologie auf die sichtbare Realität vor sich anzupassen, kommt es zu einer Entwicklung, die nicht enden wird.“

Für Campolo war die Souveränität das erste, was er aufgab. Bei anderen ist es vielleicht der Glaube an biblische Normen zur Sexualität und zu den Geschlechtern oder der Sühnetod Jesu am Kreuz. Egal, was es ist, sobald jemand seine eigenen Gedanken, Gefühle und Meinungen für eine autoritative Quelle der Wahrheit hält, wird sein Glaube reflektieren, was er bevorzugt und nicht das, was wahr ist. Und je weiter ein Christ auf diesem Weg geht, desto weiter entfernt er sich von einer echten Beziehung zu Gott. Tim Keller formuliert treffend: 

„Was geschieht, wenn man all das aus der Bibel streicht, was die eigenen Empfindungen verletzt oder gegen den eigenen Willen steht? Wenn man sich das rauspflückt, was man glauben will, und den Rest ablehnt, wie kann man dann einen Gott haben, der einem widersprechen kann? Es ist unmöglich! Man wird einen Roboter-Gott haben! Einen Gott, den man sich im Wesentlichen selbst gemacht hat und nicht einen Gott, zu dem man eine echte Beziehung haben kann.“

Die christliche Antwort

Was können wir tun, um unsere Gemeinden und Familien davor zu bewahren?

Natasha Crain hat vor kurzem darauf hingewiesen, dass überzeugte Christen eine Minderheit im Westen sind, und wir müssen uns und unsere Kinder auf diese Realität vorbereiten. Wir müssen verstehen, was es wirklich bedeutet, den schmalen Weg zu nehmen und unseren Blick auf den herrlichen Preis zu richten, der diejenigen erwartet, die ihn gehen. Wir müssen bedacht und weise mit Glaubensfragen umgehen, mit Mitgefühl und Klarheit. Statt einfach nur zu sagen „glaube nur“ oder „du solltest deinen Glauben nicht hinterfragen“, sollten wir einen sicheren Raum schaffen für Menschen, in dem sie schwierige Fragen stellen und über Zweifel reden dürfen.

Jesus wirklich nachzufolgen, war schon im ersten Jahrhundert etwas, was sich gegen die damalige Kultur richtete. Christen mussten schon immer gegen den Zeitgeist aufstehen. Wenn wir das nicht tun, kann das ein erster Schritt in Richtung Unglauben sein. Die Lehren der Bibel sind nicht progressiv – sie sind ewig. Wir müssen also „festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat“ (Hebr 10,23).

Letzten Endes sind viele der zeitgenössischen Ansichten, die viele für „progressiv“ halten, gar nicht so progressiv: Sie sind alt. Sie sind nur ein Echo der uralten Frage: „Sollte Gott wirklich gesagt haben?“ (1Mose 3,1), die ein Vorzeichen der schlimmsten vorstellbaren Rebellion war. Und wir wissen alle, wohin das führt.