Sollten Christen fasten?

Artikel von Guy Richard
26. November 2018 — 6 Min Lesedauer

Von allen Aspekten des Christentums gibt es für die Kirche des 21. Jahrhunderts vielleicht nichts Ungewohnteres als die Praxis des Fastens. In meiner Erfahrung ist solch eine Praxis einfach nicht auf dem Radarschirm der meisten Gemeindemitglieder von heute. Vielleicht kommt das daher, dass wir nicht über das Fasten predigen und lehren, wie wir es sollten. Vielleicht, weil wir es nicht in unseren Gemeinden vormachen. Vielleicht auch, weil wir unsere Bibeln nicht so oft lesen wie frühere Generationen, sodass wir nicht die Hinweise auf das Fasten in der Bibel lesen wie vormals. Aber es gibt vielleicht auch einen tieferen Grund, warum das Fasten heute so ungewohnt ist. Fasten ist, wie schon seit geraumer Zeit, gegenkulturell. Es geht gegen den Zeitgeist der westlichen Welt. Es verlangt Selbstverleugnung und Opfer. Es ist unbequem und unangenehm. Es macht keinen Spaß und entspannt nicht – Eigenschaften, die in der westlichen Welt über alles geschätzt zu werden scheinen.

Fasten ist völlig anders als die Art und Weise, wie die westliche Welt das Christentum (und Religion als Ganzes) angeht, und weil die Welt so sehr in die Gemeinde eingedrungen ist, mag das sehr wohl der Hauptgrund sein, warum Fasten für uns im 21. Jahrhundert so ungewohnt ist. Aber es war nicht immer so. Wir wissen aus der Heiligen Schrift, dass Jesus selbst fastete (z.B. Mt 4,1–4) und dass er klar zu verstehen gab, dass Fasten ein Teil des Lebens jedes Jüngers sein würde. In Matthäus 9,14–15 kündigte Jesus zum Beispiel an, dass seine Jünger fasten würden, wenn sein irdischer Dienst zu seinem Ende gekommen wäre. Und in Matthäus 6,16 sagte er zu seinen Jüngern: „Wenn (oder immer dann, wenn) ihr fastet“. Er sagte nicht: „Falls ihr fastet“. Indem er sich so ausdrückte, ging Jesus davon aus, dass seine Nachfolger fasten würden, genauso wie er vorher davon ausging, dass sie Almosen geben (6,2) und beten (6,5–7) würden.

Aber wir müssen bedenken, dass es Jesus nicht darum ging, dass Christen einfach Routinen abspulen. Er will nicht reines routinemäßiges Spenden, Beten oder irgendetwas anderes. Gott verlangt Gehorsam im christlichen Leben, das ist wahr. Aber er möchte, dass dieser Gehorsam aus einem Herzen kommt, das ihn liebt, das sich danach sehnt, in Gemeinschaft mit ihm zu sein, und das ihm gefallen möchte aus Dankbarkeit dafür, was er schon getan hat. Das bedeutet, dass, wenn Jesus davon ausgeht, dass seine Nachfolger fasten würden, er damit rechnet, dass ihr Fasten aus einem Herzen fließt, das Gott liebt und sich danach seht, allem zu gehorchen, was er ihnen aufgetragen hat.

Wenn wir anfangen, über das Thema Fasten tiefer nachzudenken, ist es ein guter Ausgangspunkt, sich zwei Fragen zu stellen: Was ist Fasten? Und warum sollten wir es tun? Um die erste dieser Fragen zu beantworten, können wir sagen, dass biblisches Fasten ein aufopferndes, freiwilliges Sich-Enthalten von Essen (und manchmal Trinken) für eine bestimmte Zeitspanne und für ein geistliches Ziel ist. Es findet in der Bibel selten, wenn überhaupt, allein statt. Mit anderen Worten, es ist keine Praxis, die Gottes Volk einfach für sich selbst tut, sondern etwas, das sie in Verbindung mit Gebet tut. Manche Fastenzeiten in der Heiligen Schrift sind vollkommene Enthaltungen, wo Nahrung und Wasser vermieden werden (Est 4,16). Andere sind teilweise Enthaltungen, wo gewisse Aspekte der normalen Nahrungsaufnahme für eine Zeit ausgesetzt werden (Dan 1,15; 10,3). Manchmal dauert Fasten in der Bibel viele Tage hintereinander an (5Mo 9,9–29; 10,1–11; Est 4,16; Mt 4,2), aber manchmal dauern sie auch nur einen Teil des Tages an (Ri 20,26; Dan 6,18). Es geht nicht so sehr darum, worauf wir verzichten und für wie lange, sondern dass wir uns selbst auf eine gewisse Weise verleugnen und uns entsprechend dem Gebet weihen. Es geht darum, die Zeit, Energie und Konzentration zu benutzen, die normalerweise für das Essen (und/oder Trinken) eingesetzt werden würde, um den Herrn im Gebet zu suchen.

Um die zweite Frage zu beantworten, können wir sagen, dass in gewissem Sinne Jesu eigenes Vorbild des Fastens und seine Annahmen über das Leben seiner Nachfolger Grund genug sein sollten, um uns dieser Praxis zu widmen. Aber Gott, in seiner großen Barmherzigkeit, hat uns in der Bibel viele zusätzliche Gründe geliefert, um als Christen das Fasten zu praktizieren. Ich gebe hier sechs davon wieder:

  1. Um unsere Ernsthaftigkeit zu zeigen. Fasten hilft uns, in unseren Gebeten Ernsthaftigkeit auszudrücken (Apg 14,23). Wenn wir uns Nahrung versagen, sagen wir dem Herrn, dass wir es ernst meinen. Andrew Murray drückte es so aus: „Fasten hilft uns, den Entschluss auszudrücken, zu vertiefen und zu bekräftigen, dass wir bereit sind, alles zu opfern, uns selbst zu opfern, um das zu erlangen, was wir für das Reich Gottes ersuchen“.
  2. Um unseren aufrichtigen Glauben auszudrücken, während wir den Herrn suchen. Fasten ist in der Bibel ein Ausdruck ganzheitlicher Hingabe an Gott. Es ist ein Weg, um zu zeigen, dass wir wirklich bußfertig sind und dass er wirklich wichtiger für uns ist als körperliches Vergnügen (Joel 2,12–13).
  3. Um den Herrn anzuflehen. Zu anderen Zeiten ist Fasten ein Ausdruck der Trauer – ob über Tod (2Sam 12,16) oder über Sünde (Jon 3,5) – und des Flehens, dass der Herr unsere Gebete um Barmherzigkeit und um Heilung erhört. Das scheint der Punkt von Jona 3,5; Ester 9,31 und Joel 1,14 zu sein.
  4. Um Weisheit und Wegweisung zu suchen. In 2. Chronik 20,1–30 rief Josaphat ein nationales Fasten aus, damit das ganze Volk die Weisheit und Wegweisung des Herrn inmitten einer eindringenden militärischen Horde suche, die von Edom auf sie zukam. Dies deutet an, dass Fasten und Gebet inmitten von beängstigenden Aufgaben und überwältigenden Umständen vollkommen angemessen für uns ist.
  5. Um demütige Abhängigkeit vom Herrn auszudrücken. In Esra 8,21–23 haben wir einen Hinweis auf ein Fasten, das als Ausdruck von Demut und Abhängigkeit vom Herrn für seine Versorgung ausgerufen wurde. Hier wird nicht leichtfertig gefastet, sondern in demütiger Abhängigkeit von Gott, dass er ihre Gebete erhören und für ihre Bedürfnisse sorgen wird, wenn sie es brauchen.
  6. Um uns auf Versuchung vorzubereiten. In Matthäus 4,1–3 fastet Jesus, damit er den Versuchungen des Teufels widerstehen kann, nicht damit der Teufel eine Möglichkeit hat, ihn zu versuchen, wie manche glauben. (Der Teufel versucht Jesus auf drei Weisen, nicht nur in Bezug auf seinen körperlichen Hunger). Wenn Jesus fastete, um besser auf Versuchung vorbereitet zu sein, wieviel mehr sollten wir es tun?

In all diesen Dingen müssen wir uns daran erinnern, dass Fasten niemals ein Weg ist, um Gott dahingehend zu manipulieren, unsere Gebet zu erhören oder uns Barmherzigkeit zu erweisen. Es ist kein Hungerstreik, um sicherzustellen, dass Gott unsere Liste von Forderungen erfüllt. Es ist ein Weg, unsere Liebe für ihn auszudrücken und unsere Dankbarkeit für alles, was er für uns getan hat. Es ist ein Weg, um Gemeinschaft mit ihm zu haben und unsere Herzen auf ihn auszurichten. Die Welt versucht beständig, unser Verlangen vom Herrn abzuwenden. Sie lädt uns beständig ein, unser Vergnügen in Essen oder Trinken oder anderen weltlichen Freuden zu finden. Fasten erinnert uns daran, dass der Herr unser größtes Vergnügen ist, und es erzieht uns dazu, dass es so bleibt. Es hilft uns, uns daran zu erinnern, dass „Freuden in Fülle“ und „liebliches Wesen“ nur in seiner Gegenwart und zu seiner Rechten gefunden werden kann (Ps 16,11). Aus diesem Grund spielt Fasten eine wichtige Rolle im Kampf um unser Verlangen, was am Herzen von dem liegt, worum es im ganzen christlichen Glauben geht. Wir vernachlässigen es zu unserem eigenen Schaden.