Das Herzstück der Reformation

Die Bedeutung von „simul justus et peccator“

Artikel von R.C. Sproul
17. November 2018 — 7 Min Lesedauer

Das Herz der Kontroverse im 16. Jahrhundert war die Frage, auf welcher Grundlage Gott jemanden für gerecht erklären kann. Der Psalmist fragte: „Wenn du, o HERR, Sünden anrechnest, Herr, wer kann bestehen?“ (Ps 130,3) Mit anderen Worten, wenn wir irgendwann vor Gott stehen und seiner vollkommenen Gerechtigkeit und seinem vollkommenen Urteil über unsere Leistungen ins Auge sehen, wird keiner von uns diese Prüfung bestehen. Wir würden alle durchfallen, weil, wie Paulus sagt, wir alle die Herrlichkeit verfehlen, die wir bei Gott haben sollten (Röm 3,23). Also ist die drängende Frage in der Rechtfertigung, wie ein ungerechter Mensch jemals vor einem gerechten und heiligen Gott gerechtfertigt werden kann.

Die katholische Sicht ist als analytische Rechtfertigung bekannt. Das bedeutet, dass Gott einen Menschen nur dann gerecht erklärt, wenn Gott durch seine vollkommene Analyse herausfindet, dass dieser Mensch gerecht ist, dass ihm Gerechtigkeit innewohnt. Der Mensch kann diese Gerechtigkeit nicht ohne Glauben, ohne Gnade und ohne die Hilfe Christi haben. Dennoch muss letztendlich wahre Gerechtigkeit der Seele dieses Menschen innewohnen, bevor Gott ihn jemals für gerecht erklären wird.

Während die katholische Sicht analytisch ist, ist die reformatorische Sicht der Rechtfertigung synthetisch. Eine synthetische Aussage ist eine, bei der durch das Prädikat etwas Neues hinzugefügt wird, das nicht schon im Subjekt steckte. Wenn ich zu dir sagen würde: „Der Junggeselle ist ein armer Mann“, dann habe ich dir im zweiten Satzteil etwas Neues gesagt, das nicht schon im Wort Junggeselle steckte. Alle Junggesellen sind per Definition Männer, aber nicht alle Junggesellen sind arme Männer. Es gibt viele wohlhabende Junggesellen. Armut und Reichtum sind Konzepte, die nicht in der Vorstellung von Junggesellentum inhärent sind. Also, wenn wir sagen: „Der Junggeselle ist ein armer Mann“, dann ist das eine Synthese.

Wenn wir sagen, dass die reformatorische Sicht der Rechtfertigung synthetisch ist, dann meinen wir damit, dass, wenn Gott einen Menschen gerecht spricht, das nicht aufgrund dessen geschieht, was er durch seine Analyse in dem Menschen findet. Stattdessen geschieht es aufgrund dessen, was der Person hinzugefügt wird. Dasjenige, was hinzugefügt wird, ist natürlich die Gerechtigkeit Christi. Deshalb sagte Luther, dass die Gerechtigkeit, durch die wir gerechtfertigt werden, extra nos ist, das heißt „getrennt von uns“ oder „außerhalb von uns“. Er nannte sie auch eine „fremde Gerechtigkeit“, nicht eine Gerechtigkeit, die uns gehört, sondern eine Gerechtigkeit, die uns fremd ist. Sie kommt von außerhalb der Sphäre unseres eigenen Verhaltens. Mit diesen beiden Begriffen redete Luther über die Gerechtigkeit Christi.

Wenn irgendein Wort im Zentrum des Feuersturms der Kontroverse während der Reformation stand und bis heute in der Debatte zentral bleibt, dann ist es das Wort „Anrechnung“. Es fanden im 16. Jahrhundert zahlreiche Treffen zwischen Protestanten und Katholiken statt, um das Schisma zwischen beiden zu heilen. Theologen aus Rom trafen sich mit den Reformatoren, um die Probleme zu lösen und die Einheit der Kirche zu bewahren. Es gab auf beiden Seiten eine Sehnsucht nach Einheit. Aber das Konzept, welches immer wieder Reibung auslöste, war der Gedanke der Anrechnung, der für die Protestanten so kostbar und für die Katholiken ein Stolperstein war. Wir können nicht wirklich verstehen, worum sich die Reformation drehte, ohne die zentrale Bedeutung dieses Konzepts zu verstehen.

Wenn Paulus die Lehre der Rechtfertigung erklärt, zitiert er das Beispiel des Erzvaters Abraham. Er schreibt: „Denn was sagt die Schrift? Abraham aber glaubte Gott, und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet" (Röm 4,3; Zitat aus 1Mo 15,6). Mit anderen Worten, Abraham hatte Glauben und deshalb sprach ihn Gott gerecht. Abraham war immer noch ein Sünder. Die restliche Geschichte des Lebens von Abraham offenbart, dass er nicht immer Gott gehorchte. Nichtsdestotrotz rechnet Gott ihn für gerecht, weil er an die Verheißung glaubte, die Gott ihm gemacht hatte. Das ist ein Beispiel für Anrechnung, die beinhaltet, dass etwas juristisch auf das Konto eines anderen überwiesen wird bzw. es wird angerechnet, dass es da ist. Auf diese Weise spricht Paulus von Gott, der Abraham für gerecht erklärt oder ihm Gerechtigkeit anrechnet, obwohl Abraham in sich selbst nicht gerecht war. Er hatte keine Gerechtigkeit, die ihm innewohnte.

Wie ich oben erklärte, umfasst die katholische Vorstellung, dass Gnade der Seele eines Menschen bei der Taufe eingegeben wird, wodurch er in sich selbst gerecht wird, sodass Gott ihn folglich für gerecht erklärt. Aber die Reformatoren beharrten darauf, dass wir erst dann gerechtfertigt werden, wenn Gott unserem Konto die Gerechtigkeit eines anderen anrechnet, nämlich die Gerechtigkeit Christi.

Wenn irgendeine Aussage das Wesen der reformatorischen Sicht zusammenfasst, dann Luthers berühmte lateinische Formel simul justus et peccator. Simul ist das Wort für „gleichzeitig“. Justus ist das lateinische Wort für „gerecht“. Et bedeutet einfach „und“. Peccator bedeutet „Sünder“. Also sagte Luther mit dieser Formel – „gleichzeitig gerecht und Sünder“ – dass wir in unserer Rechtfertigung zur gleichen Zeit gerecht und sündig sind. Wenn er gesagt hätte, dass wir gerecht und sündig sind zur gleichen Zeit und in der gleichen Beziehung, dann wäre das ein Widerspruch. Aber das ist nicht, was er sagte. Er sagte, dass wir in einem Sinn gerecht sind. Und in einem anderen Sinn, sind wir Sünder. In uns selbst, unter Gottes prüfendem Blick, haben wir immer noch Sünde. Aber durch Gottes Anrechnung der Gerechtigkeit Jesu Christi auf unser Konto, sind wir gerecht erachtet.

Das ist das Herz des Evangeliums. Um in den Himmel zu kommen, werde ich da anhand meiner eigenen Gerechtigkeit oder der Gerechtigkeit Christi beurteilt? Wenn ich auf meine eigene Gerechtigkeit vertrauen müsste, um in den Himmel zu kommen, würde ich vollständig verzweifeln müssen hinsichtlich jedweder Möglichkeit, jemals erlöst zu werden. Aber wenn wir sehen, dass die Gerechtigkeit, die uns im Glauben gehört, die vollkommene Gerechtigkeit Christi ist, dann sehen wir, wie herrlich die gute Nachricht des Evangeliums ist. Die gute Nachricht ist nämlich einfach diese: Ich kann mit Gott versöhnt werden. Ich kann gerechtfertigt werden, nicht aufgrund dessen, was ich tue, sondern aufgrund dessen, was Christus für mich getan hat.

Natürlich lehrt der Protestantismus in Wirklichkeit eine doppelte Anrechnung. Unsere Sünde wird Jesus angerechnet und seine Gerechtigkeit uns. In dieser zweifachen Transaktion sehen wir, dass Gott nicht seine Integrität kompromittiert, wenn er Errettung für sein Volk schafft. Stattdessen bestraft er die Sünde vollständig, nachdem sie Jesus angerecht wurde. Deshalb kann er sowohl „gerecht sein und zugleich den rechtfertigen, der aus dem Glauben an Jesus ist“, wie Paulus in Römer 3,26 schreibt. Also, meine Sünde geht zu Jesus und seine Gerechtigkeit kommt zu mir. Das ist die Wahrheit, die es Wert ist, die Kirche zu spalten. Das ist der Glaubensartikel, auf dem die Kirche steht oder ohne den sie fällt, weil es der Glaubensartikel ist, auf dem wir stehen oder fallen.

Es ist für mich befremdlich, dass Rom so negativ auf den Gedanken der Anrechnung reagierte, weil sie in ihrer eigenen Lehre der Sühne davon ausgehen, dass unseren Sünden Jesus am Kreuz angerechnet wurden, weshalb sein Sühnetod für uns wertvoll ist. Das Prinzip der Anrechnung ist vorhanden. Ferner lehrt Rom, dass ein Sünder Ablässe erhalten kann durch den Transfer von Verdiensten aus dem Kirchenschatz, aber dieser Transfer kann nicht anders vonstattengehen als durch Anrechnung.

Die katholische Kirche erklärte, dass die reformatorische Sicht von der Rechtfertigung Gott in eine „juristische Fiktion“ involviert, die seine Integrität unterminiert. Rom fragte sich, wie Gott, in seiner vollkommenen Gerechtigkeit und Heiligkeit einen Sünder für gerecht erklären kann, wenn dieser nicht wirklich gerecht ist. Das scheint Gott in eine fiktionale Erklärung zu involvieren. Die protestantische Antwort war, dass Gott Menschen für gerecht erklärt, weil er ihnen die reale Gerechtigkeit Christi anrechnet. Es gibt nichts Fiktives bei der Gerechtigkeit Christi und deshalb nichts Fiktives bei Gottes gnädiger Anrechnung dieser Gerechtigkeit.