Der Alte Bund ist vorüber, trotzdem bleibt das Alte Testament gültig

Artikel von Thomas R. Schreiner
7. November 2018 — 7 Min Lesedauer

Andy Stanleys Behauptung, dass wir uns vom Alten Testament abkoppeln sollten, hat großes Aufsehen erregt und er verteidigt diese Sicht in seinem neuen Buch Irresistible: Reclaiming the New that Jesus Unleashed for the World. Der Alte Bund sei vollständig vorüber, argumentiert Stanley. In einem Blogbeitrag („Jesus Ended the Old Covenant Once and for All”) zitiert er mich, um seine Sicht zu unterstützen: „Paulus argumentiert, dass das ganze Gesetz aufgehoben ist, da Christus gekommen ist. Zu sagen, dass die ‚moralischen‘ Elemente des Gesetzes weiterhin autoritativ sind, stumpft die Wahrheit ab, dass das gesamte mosaische Gesetz nicht länger für Gläubige in Kraft ist.“ Er schließt seinen Beitrag mit den Worten, dass wir andere nicht auf der Grundlage der Zehn Gebote behandeln, sondern nach dem Gesetz der Liebe; der Liebe, die Jesus gegenüber seinen Jünger bekundet hat (Joh 13,34–35; 15,12).

Michael Kruger hat eine hervorragende Antwort auf Stanley­ (auf Englisch hier nachzulesen) aus der Perspektive der Bundestheologie geschrieben. Grundsätzlich stimme ich Kruger zu und wir kommen am Ende zum selben Schluss, doch ich komme auf anderem Weg dorthin und würde das Thema, als jemand der eine progressive Bundestheologie („progressive covenantalism“) statt einer klassischen Bundestheologie vertritt, etwas anders umreißen.

Den Alten Bund und das Alte Testament unterscheiden

Das von mir stammende Zitat, das Stanley anführt, ist korrekt, doch es muss in seinem Zusammenhang verstanden werden. Ja, der Alte Bund ist vollständig vorüber und Gläubige stehen nicht länger unter dem Alten Bund, sondern unter dem Neuen Bund, der mit Jesu Tod und Auferstehung eingeleitet wurde (Jer 31,31–34; Gal 3,15–4,7; Röm 6,14–15; 7,4–6; Hebr 8,1–10,18). Doch die moralischen Maßstäbe gelten immer noch für die Gläubigen. Liebe ist nicht einfach nur ein sentimentales Gefühl. 

Die Aussage, der Alte Bund ist vorüber, heißt nicht, dass das Alte Testament nicht länger (oder irgendwie weniger) Gottes Wort ist. Die ganze Schrift, sowohl Altes als auch Neues Testament, ist die letzte Autorität und Gottes unfehlbares und irrtumsloses Wort. Das ganze Alte Testament hat eine offenbarende und erziehende Autorität für Gläubige in Jesus Christus. Wir müssen das Alte Testament in Bezug auf Gottes fortschreitende Offenbarung in seinen Bündnissen verstehen, um zu entscheiden, wie wir es heute anwenden können.

„Die Aussage, der Alte Bund ist vorüber, heißt nicht, dass das Alte Testament nicht länger (oder irgendwie weniger) Gottes Wort ist.“
 

Die Verfasser des Neuen Testaments entscheiden nicht, wie das Alte Testament anzuwenden ist, indem sie es in moralische, zeremonielle und zivile Vorschriften einteilen, wobei das Moralgesetz weiterhin als moralische Norm gilt. Diese Kategorien sind tatsächlich hilfreich und diese Differenzierung mag von der Sache her richtig sein, doch das Neue Testament wendet das alttestamentliche Gesetz nicht auf der Grundlage dieser Kategorien auf die Gläubigen an. Das zu tun, kann zu einigen Verzerrungen bei der Anwendung des Alten Testaments auf unser Leben führen.

Da die Gläubigen nicht mehr unter dem mosaischen Bund stehen, gelten für uns auch nicht die Bestimmungen des Alten Bundes als einem Bund. Der mosaische oder sinaitische Bund wurde mit Israel geschlossen, nicht mit uns. Jahwe schloss den Bund mit Israel, nachdem er sie aus Ägypten befreit hatte. Israels Bund mit dem Herrn beinhaltete religiöse und politische Elemente und dementsprechend bekam Israel als eine Nation, als ein abgesondertes Volk, bestimmte Anordnungen sowohl für das religiöse als auch das politische Leben. Die Gesetze, die Israel gegeben wurden, bildeten eine Verfassung für sie als Nation, als Gottes besonderes Volk in der antiken Welt. Doch die Gesetze und Regelungen sind keine Verpflichtungen für die Gemeinde Jesu Christi, die unter einem neuen Bund steht (Jer 31,31–34; Hes 36,26–27; 2Kor 3,6; Hebr 8,8–13).

Solche Aussagen machen manche Leute nervös und sie mögen sagen, progressive Bundestheologen seien gesetzlos! Sie mögen uns vorwerfen, dass wir nicht einmal glauben, man solle sich an die Zehn Gebote halten! Doch man sollte nicht zu schnell urteilen, denn progressive Bundestheologen kommen nicht zum selben Schluss wie Stanley, und wir glauben an universale moralische Normen.

Das Gesetz Christi und das Gesetz Moses unterscheiden

Wenn wir über die Zehn Gebote nachdenken, müssen wir sie im Bundeskontext verorten. Schließlich sind sie Teil des mosaischen Bundes und Christen stehen nicht unter diesem Bund. Beispielsweise ist der Sabbat das Zeichen des mosaischen Bundes, von Jahwes Bund mit Israel (2Mo 31,13.17), doch Christen sind nicht länger unter dem Sabbatgebot, denn es ist ein Schatten, der auf Christus hinweist (Kol 2,16; Röm 14,5). Der Sabbat weist auf unsere Ruhe in Christus hin (Hebr 4,1–11), wie ich in meinem Buch über die progressive Bundestheologie deutlich mache. Da der Sabbat heute für Gläubige nicht mehr erforderlich ist, ist es zu einfach zu sagen, dass Gläubige die Zehn Gebote befolgen müssen.

„Da der Sabbat heute für Gläubige nicht mehr erforderlich ist, ist es zu einfach zu sagen, dass Gläubige die Zehn Gebote befolgen müssen.“
 

Bei der Interpretation des Alten Testaments sollten wir darauf achten, dass es sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität gibt, sowohl Aufhebung (Hebr 8,13) als auch Erfüllung (Mt 5,17–20). Das Gesetz weist auf die Erfüllung in Jesus hin. Das bedeutet aber nicht, dass es keine moralischen Normen für Gläubige mehr gibt. Das Gesetz Christi fungiert als Norm für Gläubige (Röm 13,8–10; Gal 5,14; 6,2; 1Kor 9,20–21), deren Herz und Seele die Nächstenliebe ist. Diese Liebe hat Christus über alle Maßen in seiner Selbsthingabe am Kreuz gezeigt. 

Mancher mag hier einwenden: „Du teilst doch Andy Stanleys Sicht!“ Nicht so schnell. Römer 13,8–10 hilft uns, das Wesen der Liebe zu verstehen und Paulus erklärt, dass die Liebe bestimmte Gebote einhält, zu denen die Gebote gehören, die Ehebruch, Mord, Stehlen und Begehren verbieten. Paulus führt aus, dass auch andere Gebote darunterfallen. Wenn wir das Neue Testament lesen, stellen wir fest, dass neun der zehn Gebote im Neuen Testament wiederholt werden (die Ausnahme ist wieder der Sabbat). Solche moralischen Normen halten uns davon ab, Liebe sentimental zu definieren.

Also, wir wissen vom Neuen Testament selbst – von dem Neuen Bund und der Erfüllung in Jesus – was die moralischen Normen sind, die unser Leben bestimmen sollten. Niemand kann behaupten, ein Leben der Liebe zu führen, während er diese moralischen Normen übertritt. 

Moralische Normen und der Charakter Gottes

Die Gebote, die heute normativ für Gläubige sind, sind es nicht nur, weil sie in den Zehn Geboten stehen oder weil sie Teil des Alten Bundes sind. Wir wissen aus dem Neuen Testament, also dem Neuen Bund, welche moralischen Normen heute gelten, und sie bleiben moralische Normen, weil sie Gottes Wesen reflektieren. Es gibt Hinweise, sogar im Bund mit Adam und dem Bund mit Noah – welcher in vieler Hinsicht eine Wiederholung des Bundes mit Adam ist –, dass es solche moralischen Normen schon am Anfang gegeben hat, sogar vor dem mosaischen Gesetz. So sind beispielsweise der Fortbestand der Ehe (1Mo 1,26; 2,18–25), das Mordverbot (1Mo 9,6) und die völlige Hingabe an Gott von Anfang an vorhanden, was zeigt, dass die Gebote der Liebe zu Gott und zum Nächsten (Mt 22,34–40) in der Schöpfung verankert sind.

„Das Alte Testament ist Gottes verbindliches Wort an uns, doch wir müssen die Bibel entsprechend der Bündnisse und im Licht der Erfüllung in Christus lesen, um sie gut auf unser Leben anzuwenden.“
 

Die progressive Bundestheologie und die Bundestheologie sagen fast das Gleiche über moralische Normen. Wir kommen nur auf einem anderen Weg zu unseren Ergebnissen, und wir sind nicht unterschiedlicher Meinung darüber, dass Götzendienst, die Eltern nicht zu ehren, Ehebruch, Mord, Stehlen, Lügen, Begehren oder die gleichgeschlechtliche Ehe moralisch verkehrt sind und ein Übertritt des Liebesgebots darstellen.

Das Alte Testament ist Gottes verbindliches Wort an uns, doch wir müssen die Bibel entsprechend der Bündnisse und im Licht der Erfüllung in Christus lesen, um sie gut auf unser Leben anzuwenden.

Thomas R. Schreiner ist Professor für Neues Testament am Southern Baptist Theological Seminary in Kentucky. Er ist Autor zahlreicher Kommentare zum Neuen Testament und Monographien über die Theologie von Paulus, des Neuen Testaments sowie der ganzen Bibel. Zugleich ist er Pastor der Clifton Baptist Church in Louisville. Tom ist verheiratet mit Diane und hat vier Kinder und neun Enkelkinder.