Francis Schaeffer: Tod in der Stadt
Die Wurzel des Problems
Mehr als siebzig Morde fanden in London im ersten Quartal statt.[1] Ein Chirurg in einem Londoner Krankenhaus berichtete, dass die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die mit Stichverletzungen eingeliefert wurden, so hoch war wie noch nie.[2] Diese große Stadt, die in der Vergangenheit mit einigen der größten Evangeliumsprediger der Kirchengeschichte gesegnet wurde, wacht fast täglich mit Schlagzeilen auf, die berichten, dass ein weiteres Leben ausgelöscht wurde.
Politiker debattieren über die Erhöhung der Mittel für die Polizei. Zeitungen fordern Strafverfolgung. Das alles hat seinen Platz. Aber die Wurzel des Problems wird in einem Buch mit dem treffenden Titel Tod in der Stadt beschrieben, das der Apologet Francis Schaeffer bereits vor knapp fünfzig Jahren schrieb. Welche moralische Grundlage soll es in einer Kultur, die sich bewusst von Gott abgewandt hat, auch noch geben?
„Die westlichen Gesellschaften leben vom geborgten Kapital der christlichen Weltanschauung. Doch dieses Kapital geht schnell zur Neige.“
Schaeffer warnt in diesem Buch, dass die westlichen Gesellschaften vom geborgten Kapital der christlichen Weltanschauung leben. Er warnt, dass dieses Kapital schnell zur Neige geht. Es gibt folglich keine feste Grundlage mehr für Ethik und Moral. Der soziale Kollaps ist die zwangsläufige Folge. In Tod in der Stadt zieht er eine Reihe von Vergleichen zwischen der Misere des Westens und dem Zusammenbruch der gesellschaftlichten Ordnung in Jerusalem, wie ihn Jeremia beschreibt.
Gottes Ablehnung hat Folgen
Im siebten Jahrhundert v. Chr. wandte sich die Bevölkerung von Jerusalem trotz wiederholter Gnadenangebote bewusst von der „Quelle des lebendigen Wassers“ ab. Sie bevorzugten „zerbrochene Zisternen, die kein Wasser halten“ (Jer 2,13). Sie glaubten Lügen. „Dahin ist die Wahrhaftigkeit, ausgerottet aus ihrem Mund!“ (Jer 7,28)
Jeremia wurde verspottet, als er davor warnte, dass die Suche nach „Freiheit“ von Gottes moralischen Gesetzen in die Sackgasse führt, in die Sklaverei der Sünde. Er zeigte, wie „schlimm und bitter“ es ist, den Herrn, den Allmächtigen, zu verlassen (Jer 2,19). Seine erbittertsten Gegner waren im religiösen Establishment zu finden. Die „entsetzliche und abscheuliche“ Realität bestand darin, dass Propheten und Priester das Volk in die Rebellion geführt hatten (Jer 5,30–31). Sie leugneten, dass Gott jemals Gericht halten würde:
„Denn vom Kleinsten bis zum Größten trachten sie alle nach unrechtem Gewinn, und vom Propheten bis zum Priester gehen sie alle mit Lügen um. Und sie heilen den Schaden der Tochter meines Volkes leichthin, indem sie sprechen: ‚Friede, Friede!’, wo es doch keinen Frieden gibt. Schämen sollten sie sich, weil sie Gräuel verübt haben! Aber sie wissen nicht mehr, was sich schämen heißt, und empfinden keine Scham. Darum werden sie fallen unter den Fallenden; zur Zeit ihrer Heimsuchung werden sie stürzen! spricht der HERR“. (Jer 6,13–15)
Dieses schamlose Verhalten musste Gott provozieren. So zeigte sich, dass es am Ende selbstzerstörerisch war (Jer 7,18–19). Gott wandte sein Gesicht ab. Jerusalem fiel schutzlos in die Hände rücksichtsloser Feinde: „Denn der Tod ist durch unsere Fenster hereingestiegen…, um die Kinder von der Straße wegzuraffen“ (Jer 9,20).
Zweieinhalbtausend Jahre später. Francis Schaeffer ist entsetzt über den Anblick der liberalen Theologen, die die Wahrheit des Wortes Gottes leugnen und die Zehn Gebote missachten. Er vergleicht sie mit dem König Jojakim, der die Weissagungen Jeremias zerschnitt und verbrannte, als sie ihm vorgelesen wurden (Jer 36). Honest to God von Bischof John Robinson wurde 1963 unter großem Medienecho veröffentlicht. Robinson ruft darin zur „Situationsethik“ auf, nachdem er die Idee eines transzendenten Gottes über Bord wirft und ihn auf einen subjektiven „Gott in mir“ reduziert. „Moralische Absolutheiten“ sind eine Fessel, Befreiung dringend notwendig, argumentiert er.
In Tod in der Stadt (1969) und einer Reihe weiterer Bücher wie Preisgabe der Vernunft (1968) klagt Schaeffer das religiöse Establishment an, weil es sich mit der Irrationalität des Relativismus verbündet, anstatt ihn zu hinterfragen. Falsche Propheten zu Jeremias Zeit stellten das Böse als gut dar und leugneten, dass es ein Gericht geben würde (Jer 14,14–15). Aber ist es nicht noch schlimmer, wenn sogenannte christliche Pastoren und Pfarrer, die Zugang zur Offenbarung haben und Gottes Erlösung in Christus kennen, das Böse als gut und das Gute als böse darstellen und über die Vorstellung des zukünftigen Gerichts lachen?
In der Moderne suchten die Menschen Antworten, indem sie ihre Vernunft unabhängig von Gott gebrauchten, erklärt Schaeffer. Dieses Projekt scheiterte und öffnete die Tür zur Postmoderne. Heute irrt die intellektuelle Elite, einschließlich der liberalen Theologen, in den Trümmern der postmodernen Ablehnung aller Wahrheitsansprüche umher. Und seit die Postmoderne durch die Unterhaltungsmedien ihren Weg zur allgemeinen Bevölkerung gefunden hat, treibt die Menschheit in einem Ozean der Unvernunft umher.
Die Tragik spüren
Die Einwohner von Jerusalem lehnten die Botschaft des Propheten Jeremia konsequent ab. Sie verspotteten ihn, beschimpften ihn und schmiedeten Pläne, um ihn umzubringen. Er wurde angeklagt, gefangen genommen und schließlich in eine schmutzige Zisterne geworfen. Und doch sehnte er sich nach ihrer Errettung und weinte über ihr Schicksal (Jer 9,1).
Auch Schaeffer weinte. Täglich hörten er und seine Frau Edith die Geschichten junger Menschen, deren Leben keinen Sinn zu haben schien. Viele fanden ihren Weg in das Haus der Schaeffers hoch in den Schweizer Alpen. L’Abri (französisch für „Zuflucht“) war ein Zufluchtsort für die Opfer einer Kultur, die den Menschen Sinn, Würde und Hoffnung versagte. Schaeffer fühlte ihren Schmerz. Durch geduldiges Fragen und gute Argumente deckte er die Torheit, Sinnlosigkeit und Widersprüchlichkeit ihrer gottlosen Weltanschauung auf. Seine Botschaft kam an, da er Mitgefühl zeigte mit den schmerzhaften Folgen der Lebenslügen, in denen manche lebten. Die vielen Geschichten derer, die L’Abri besuchten, sind ein Zeugnis davon, dass der Böse nur kommt, um zu stehlen, zu töten und zu zerstören. Schaeffer war kein abgehobener Akademiker. Er trauerte mit Menschen.
„Schaeffer war kein abgehobener Akademiker. Er trauerte mit Menschen.“
Auf die Frage, was er in L’Abri gelernt habe, antwortete Dr. Donald Drew schlicht: „Ich habe gelernt, zu weinen.“[3]
Schaeffer empfand tiefe Liebe und Mitgefühl für diejenigen, die durch Satans Lügen betrogen worden waren. Aber er war sehr zornig auf falsche Lehrer, die diesen Betrug auch noch förderten. Seine emotionale, geistliche und intellektuelle Kraft fand ihren Ausdruck in zweiundzwanzig Büchern. Bereits in seinem frühen Werk Und er schweigt nicht (1972) findet sich das wiederkehrende Thema, dass die Leugnung der Wahrheitsansprüche der Bibel den Menschen ohne sichere Grundlage hinterlässt. Weder für die Erkenntnis, noch für die Existenz oder Ethik. Den einzig möglichen Ausweg aus der Sinnlosigkeit, die zwangsläufig in die Verzweiflung führt, bietet die christliche Botschaft, da sie in der Geschichte gründet und in Raum und Zeit stattfand. Schaeffer machte seine Hauptgedanken durch seine einflussreichen Filmreihen Whatever Happened to the Human Race? und How Should We Then Live? bekannt. Die Filme rüttelten die Evangelikalen auf und rissen viele aus ihrer Passivität in Bezug auf ethische Themen wie z.B. Abtreibung heraus.
Ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung von Schaeffers bahnbrechenden Büchern Gott ist keine Illusion und Preisgabe der Vernunft (1968) bewegt sich unsere Kultur immer schneller in Richtung Irrationalität. Schaeffer sah voraus, dass das Unterschreiten der „Linie der Verzweiflung“ zum sozialen Zerfall führen würde, so sicher wie das Römische Reich inmitten von Dekadenz, Zügellosigkeit und Unmoral zusammenbrach. Andere (sowohl Christen als auch Nichtchristen) schlugen ebenfalls Alarm. Philip Rieff warnte in The Triumph of the Therapeutic (1966), dass eine von allen Zwängen befreite Gesellschaft implodieren würde. Christopher Lasch argumentierte in The Culture of Narcissism (1979), dass keine Gemeinschaft gedeihen kann, in der jedes Individuum auf „Selbstverwirklichung“ ausgerichtet ist und in der Selbstbeherrschung als einengend gebrandmarkt wird.
Heute sehen wir beim Blick auf unsere Gesellschaft nicht nur den Kollaps jeglicher Übereinstimmung in Ethik und Moral, sondern selbst die Auflösung jeder Überzeugung in Bezug auf die menschliche Identität. Die fundamentale Dualität von männlich und weiblich wird im Namen der „Freiheit“ geleugnet. Die natürlichen Grenzen der Menschheit lösen sich auf in der Fragmentierung durch die Identitätspolitik.
Es fühlt sich an, als ob wir inmitten von Ruinen stünden. Eine Klage ist richtig und angebracht. Unser Zeugnis von Gottes gutem Plan für die Menschheit und unsere Verkündigung der frohen Botschaft werden nur dann gehört werden, wenn wir die Tragik des „Todes in der Stadt“ spüren.
Weinen wir über die Millionen von Babys, deren Leben ausgelöscht wird, bevor sie das Licht der Welt erblicken? Trauern wir darüber, wie unsere Kinder ihrer Unschuld beraubt und durch die Dogmen der Sexualerziehungslobby der sexuellen Unmoral ausgesetzt werden? Trauern wir darüber, dass der Zerfall von Familien so viele Kinder von einem oder beiden leiblichen Elternteilen wegreißt? Sind wir entsetzt, dass die Wahrheit der Schöpfung als so schädlich angesehen wird, dass man verbietet, sie in den Schulen zu lehren? Weinen wir, wenn wir sehen, wie Ärzte im Namen einer radikalen Gender-Ideologie, die keine Grundlage in Wissenschaft oder Vernunft hat, mit den vollkommen gesunden Körpern junger Menschen experimentieren? Sind wir entsetzt, dass so viele um uns herum auf eine ewige Verlorenheit zusteuern, während „christliche“ Theologen darauf bestehen, dass Sünde keine Sünde ist, dass es keinen Tag des Gerichts geben wird und dass die Hölle ein mittelalterlicher Mythos ist?
Es gibt Hoffnung
Doch das Wort Gottes steht fest. König Jojakim zerschnitt und verbrannte die Weissagung Jeremias. Doch wo ist dieser König heute? Er ist längst vergessen. Aber Gottes Wort hat Bestand!
„Francis Schaeffer betonte, dass wir der gegenwärtigen Generation predigen und ihre Verlorenheit aufdecken müssen. Aber das ist nicht alles. Wir haben eine gute Botschaft zu verkünden.“
Sünde ist Sünde. Es wird einen Tag des Gerichts geben. Die Hölle ist real. Schaeffer betonte, dass wir der gegenwärtigen Generation predigen und die „Verlorenheit der Verlorenen“ aufdecken müssen. Aber das ist nicht alles. Wir leben in den Tagen des Evangeliums. Wir haben eine gute Botschaft zu verkünden. Jeremia wurde eine herrliche, hoffnungsvolle, Vision gegeben, die über den Fall Jerusalems hinaus ging. Es war eine Vision, die auf das Kommen des Erlösers hinwies, der kommen würde, um die Verlorenen zu suchen und zu retten:
„In seinen Tagen wird Juda gerettet werden und Israel sicher wohnen; und das ist der Name, den man ihm geben wird: ‚Der HERR ist unsere Gerechtigkeit‘“. (Jer 23,6)
Schaeffer betonte, dass die gottlose Weltanschauung zur Verzweiflung führt. Das Volk Gottes darf zu Recht klagen. Aber wir dürfen niemals verzweifeln. Vielmehr sollten wir um Reformation und Erweckung beten und dafür arbeiten.
Während wir das tun, sollten wir bedenken: Je unheimlicher die Feinde sind, desto größer wird die Herrlichkeit des Einen sein, unter dessen Füße alle Feinde gelegt werden (1Kor 15,25–26).[4] Wir sollten uns daran erinnern, dass im Laufe der Menschheitsgeschichte mächtige Reiche zusammengebrochen sind, doch das Reich Gottes immer Bestand hatte. Der Stein, der sie zermalmte, „wurde zu einem großen Berg und erfüllte die ganze Erde“ (Dan 2,35). Und wir sollten zuversichtlich sein, dass die Erde wird erfüllt sein von der Erkenntnis des Herrn erfüllt sein wird, „wie die Wasser den Meeresgrund bedecken“ (Jes 11,9).
[1] Der Artikel bezieht auf das Jahr 2018, Anm. d. Red. Lizzie Dearden, „Wilde Messerattacken, bei denen die Opfer mehrfach gestochen werden, treiben die Mordrate in London in die Höhe, warnt die Polizei“, The Independent, 27.06.2018, https://www.independent.co.uk/news/uk/crime/stabbings-murder-knife-crime-violence-london-multiple-times-feral-police-mayor-a8419961.html.
[2] Damien Gayle, „Wenn Opfer von Messerangriffen in Schuluniformen im Krankenhaus ankommen, wird es einem vor Augen geführt“, The Guardian, 4.5.2017, https://www.theguardian.com/membership/2017/may/04/when-knife-victims-arrive-in-school-uniform-it-brings-it-home-to-you.
[3] William Edgar, Schaeffer on the Christian Life: Countercultural Spirituality, Wheaton, Ill.: Crossway, 2013, S. 192.
[4] Siehe Jonathan Edwards’ großartige Abhandlung über diese Verse, Christ Exalted, www.biblebb.com/files/edwards/exalted.htm.