Die größte protestantische „Irrlehre“

Artikel von Sinclair B. Ferguson
14. Oktober 2018 — 4 Min Lesedauer

Lasst uns mit einer Prüfungsfrage aus der Kirchengeschichte beginnen: Kardinal Robert Bellarmin (1542-1621) war eine Person von Gewicht. Er war der persönliche Theologe von Papst Clemens VIII. und eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Gegenreformation der katholischen Kirche im 16. Jahrhundert. Zu einem Anlass schrieb er: „Die größte aller protestantischen Irrlehren ist ________.“ Vervollständige, erkläre und diskutiere die Aussage von Bellarmin.

Wie würdest du antworten? Was ist die größte aller protestantischen Irrlehren? Vielleicht Rechtfertigung aus Glauben? Vielleicht sola scriptura oder eines der anderen Schlagwörter der Reformation?

Diese Antworten ergeben Sinn. Aber keine von ihnen vervollständigt Bellarmins Satz. Er schrieb: „Die größte aller protestantischen Irrlehren ist Heilsgewissheit“.

Wenn man einen Augenblick darüber nachdenkt, kommt man auf den Grund dafür. Wenn Rechtfertigung nicht allein aus Glauben, allein in Christus und allein aus Gnade ist – wenn Glauben durch Werke vervollständigt werden muss; wenn Christi Werk irgendwie wiederholt werden muss; wenn Gnade nicht frei und souverän ist; dann muss immer noch etwas getan werden, etwas „hinzugefügt“ werden, damit wir letztendlich gerechtfertigt werden. Das ist genau das Problem. Wenn die letztendliche Rechtfertigung von etwas abhängt, das wir hinzufügen müssen, ist es nicht möglich, Heilsgewissheit zu erfahren. Denn in diesem Fall ist theologisch gesehen die letztendliche Rechtfertigung bedingt und unsicher, und es ist für niemanden möglich (außer durch besondere Offenbarung, gestand Rom ein), sich seines Heils gewiss zu sein. Aber wenn Christus alles vollbracht hat, wenn Rechtfertigung aus Glauben ist, ohne beizutragende Werke; wenn sie durch die leeren Hände des Glaubens empfangen wird – dann ist Gewissheit, sogar „volle Gewissheit“ für jeden Gläubigen möglich.

Kein Wunder, dass Bellarmin dachte, dass volle, freie und ungebundene Gnade gefährlich ist! Kein Wunder, dass die Reformatoren den Hebräerbrief liebten!

Das ist der Grund, warum der Autor des Hebräerbriefs nach Atem schnappt, wenn er zum Höhepunkt seiner Auslegung des Werkes Christi kommt (Hebr 10,18), und dann mit einem paulusähnlichen „deshalb“ fortsetzt (Hebr 10,19). Er ruft uns auf, „so lasst uns hinzutreten … in völliger Gewissheit des Glaubens“ (Hebr 10,22). Wir müssen nicht den ganzen Brief aufs Neue lesen, um die Logik seines „deshalbs“ zu verstehen. Christus ist unser Hohepriester; unsere Herzen sind besprengt und befreit von einem bösen Gewissen, genauso wie unsere Leiber mit reinem Wasser gewaschen wurden (Vers 22).

Christus ist ein für alle Mal das Opfer für unsere Sünden geworden, und ist auferstanden und gerechtfertigt in der Kraft eines unzerstörbaren Lebens als unser stellvertretender Priester. Durch Glauben an ihn sind wir so gerecht vor dem Thron Gottes, wie er gerecht ist. Denn wir sind gerechtfertigt in seiner Gerechtigkeit, seine Rechtfertigung allein gehört uns! Und wir können diese Rechtfertigung genauso wenig verlieren, wie wir vom Himmel fallen können. Folglich braucht unsere Rechtfertigung genauso wenig vervollständigt werden wie die von Christus!

Mit diesem im Sinn sagt der Autor: „Denn mit einem einzigen Opfer hat er die für immer vollendet, welche geheiligt werden“ (Hebr 10,14). Der Grund, warum wir vor Gott in voller Glaubensgewissheit stehen können, ist, weil wir jetzt die „Besprengung der Herzen los vom bösen Gewissen und am Leib gewaschen mit reinem Wasser“ (Hebr 10,22) erfahren haben.

Kardinal Bellarmins römische Kirche wandte ein: „Lehre das und die, die glauben, werden in Zügellosigkeit und Antinomismus leben“. Aber hör stattdessen auf die Logik des Hebräerbriefs. Der Genuss dieser Heilsgewissheit führt zu vier Dingen: Erstens, ein Festhalten ohne zu wanken am Bekenntnis des Glaubens an Jesus Christus allein als unsere Hoffnung (Vers 23); zweitens, eine eifrige Bemühung, wie wir uns gegenseitig zu „Liebe und guten Werken“ ermutigen können (Vers 24); drittens, eine andauernde Gemeinschaft mit anderen Christen in der Anbetung und in jedem Aspekt von Gemeinschaft (Vers 25a); viertens, ein Leben, in dem wir uns gegenseitig ermahnen, weiter auf Christus zu schauen und ihm treu zu sein, denn der Tag seiner Wiederkehr naht heran (Vers 25b).

Es ist der gute Baum, der gute Frucht hervorbringt, nicht andersherum. Wir sind nicht durch gute Werke gerettet; wir sind für gute Werke gerettet. Wir sind Gottes Schöpfung am Werk (Eph 2,9–10)! Deshalb, statt ein Leben moralischer und geistlicher Gleichgültigkeit zu führen, schenkt das ein-für-alle-Mal-Werk von Jesus Christus und der volle-Heilsgewissheit-Glauben, der dadurch gewirkt wird, dem Gläubigen den mächtigsten Antrieb, ein Leben zur Ehre und zum Wohlgefallen Gottes zu führen. Ferner ist diese volle Heilsgewissheit verwurzelt in der Tatsache, dass Gott selbst dies alles für uns getan hat. Er hat uns sein Herz in Christus offenbart. Der Vater benötigt nicht, dass der Tod Christi ihn überredet, uns zu lieben. Christus starb, weil der Vater uns liebt (Joh 3,16). Er lauert nicht hinter seinem Sohn mit einem niederträchtigen Wunsch, uns Böses zuzufügen – wenn nicht sein Sohn sich für uns geopfert hätte! Tausendmal nein! Der Vater selbst liebt uns in der Liebe des Sohnes und der Liebe des Geistes.

Die, die Heilsgewissheit genießen, gehen nicht zu den Heiligen oder zu Maria. Die, die nur auf Jesus schauen, brauchen nirgendwo anders hinzuschauen. In ihm erfahren wir volle Heilsgewissheit. Die größte aller Irrlehren? Wenn es eine Irrlehre ist, dann möchte ich diese glücklich machende „Irrlehre“ genießen! Denn sie ist Gottes eigene Wahrheit und Gnade!