Würdig des Evangeliums leben
In Philipper 1,27 ermahnt Paulus die Gemeinde, in seiner Abwesenheit eine Sache zu tun: „Nur führt euer Leben würdig des Evangeliums von Christus“. Auf diese Weise, sagt Paulus, wird euer würdiger Lebensstil „ein Anzeichen …für euch aber der Errettung“ sein (Vers 28). Auf den ersten Blick scheint es, dass Paulus, der Apostel der Gnade, eine Errettung durch Werke vertritt. Es scheint so, dass wir uns irgendwie würdig des Evangeliums erweisen müssen, bevor wir Errettung empfangen, wobei das Werk der Errettung gänzlich in den Schoß des Gläubigen fällt. Man findet diese Perspektive gewiss in antiken und modernen Ansichten über die Errettung. Aber vertritt der Apostel Paulus wirklich diese Botschaft der Selbsterrettung? Ein genauerer Blick auf Philipper 1,27 offenbart die Antwort.
Das griechische Verb politeuomai, das mit „führt euer Leben“ übersetzt wird, ist ein Imperativ, d.h. ein Befehl. Indem er dieses Wort gebraucht, erzeugt Paulus die Vorstellung einer Stadt (politeuomai ist abgeleitet von polis, was „Stadt“ bedeutet). Für den griechischen Philosophen Aristoteles war die Stadt (polis) im alten Griechenland wie eine Partnerschaft oder Gemeinschaft. Jeder Bürger darin hatte die gegenseitige Schuldigkeit, zivile Pflichten auszuüben. Die Bürger waren verpflichtet, ihre Talente und Gaben für das gemeinsame Wohl einzusetzen. Die „Stadt“ jedoch, an die Paulus denkt, unterscheidet sich von allen anderen auf eine grundlegende Weise – die Verfassung dieser Stadt ist „das Evangelium von Christus“. Das Evangelium ist die Gesetzgebung, der die Philipper sich anpassen mussten. Sie müssen sich auf eine Weise verhalten, die würdig ist gegenüber den Ansprüchen des Evangeliums, jedoch als Bürger einer himmlischen – statt einer irdischen Stadt (Kap. 3,20).
Aber was heißt es, ein Leben würdig des Evangeliums von Christus zu führen? Die Antwort findet sich in Kap. 1,27–28: „Damit ich, ob ich komme und euch sehe oder abwesend bin, von euch höre, dass ihr fest steht in einem Geist und einmütig miteinander kämpft für den Glauben des Evangeliums und euch in keiner Weise einschüchtern lasst von den Widersachern“. In „einem Geist“ und „einmütig“ begründen die Christen in Philippi, wie die Mitglieder antiker Gesellschaften, einen Leib. Aber anders als säkulare Gesellschaften „stehen sie fest“ und „kämpfen für den Glauben des Evangeliums“. Sie müssen zusammenstehen gegen Gefahr um Christi willen, ohne von ihren „Widersachern“ „eingeschüchtert“ zu werden. „Dies“, erklärt Paulus, ist „ein Anzeichen des Verderbens für die Widersacher, für die Gläubigen aber der Errettung“.
Aber worauf bezieht sich „dies“? Was ist das Bezugswort? „Dies“ verweist auf die Gesamtheit von Philipper 1,27–28. Ihre gemeinschaftliche, feste Hingabe an das Evangelium inmitten von Verfolgung und Leid ist genau das, was Paulus meint mit einem Leben „würdig des Evangeliums von Christus“. „Dies“ (d.h. ihr würdiges Verhalten) dient als ein Anzeichen ihrer „Errettung“ (Vers 28).
Wenn wir hier anhalten würden, würde sich logisch ergeben, dass die Handlungen der Gläubigen in ihrer letztendlichen Errettung resultieren werden, wenn sie sich als würdig des Evangeliums erweisen, aus einer inneren Würdigkeit heraus. Ist dies eine andere Version des weltlichen Mantras: „Sei ein guter Mensch und Gott wird dich erretten“? Nein. Bemerke, was Paulus hier tut. Er fügt auf clevere Weise eine subtile (aber mächtige) Phrase ein, die diesen Schluss vollkommen ausschließt: „und zwar von Gott“ (Vers 28). Wieder sind wir mit einem weiteren Pronomen konfrontiert. Worauf bezieht sich dieses zweite Pronomen? Es verweist nicht nur auf „Errettung“ im selben Vers, sondern greift ihren ganzen würdigen Wandel in den Versen 27–28 auf. Das mag unbedeutend erscheinen, aber es ist wesentlich für das Verständnis dieses Textes. Ihre letztendliche Errettung und ihr würdiger Wandel sind „von Gott“. Es ist Gottes Gnadengeschenk (1Kor 15,10; Phil 2,12–13; 1Thess 5,23–24). Das bedeutet, dass die Errettung eines Gläubigen geschenkt und nicht verdient wird, und dass der Wert eines Gläubigen von Gott geschaffen statt auf natürliche Weise kultiviert ist. Es ist Gott, der sie zu einer standfesten Einheit im Evangelium durch Widrigkeiten hindurch befähigt, und es ist Gott, der letztendlich errettet. Alles ist „von Gott“ und deshalb verdient Gott rechtermaßen allen Lobpreis, alle Herrlichkeit und Ehre (Röm 11,36; 1Kor 8,6; Offb 4,11).
Weil er eine Notwendigkeit wahrnahm, einen Grund für diese theologisch gewichtige Behauptung zu liefern, setzt Paulus in Philipper 1,29 fort: „Denn euch wurde, was Christus betrifft, die Gnade verliehen, nicht nur an ihn zu glauben, sondern auch um seinetwillen zu leiden“. Die Wortgruppe „Gnade verliehen“ (echaristhe, verwandt mit charis, „Gnade“) stellt noch einmal Gott als den hauptsächlichen Geber in dieser himmlischen Stadt dar, als denjenigen, der die Gemeinschaft mit den dreifältigen Gaben Glauben, Leid und Errettung beschenkt: (1) an das Evangelium zu glauben gewährt Einlass in die Stadt (Vers 29); (2) Leid in Verbindung mit von Gott geschenktem Ausharren der Gemeinschaft, in den Versen 27–28, charakterisiert das christliche Leben innerhalb dieser Stadt (Vers 29); und (3) Errettung ist das Ziel, für das die himmlische Stadt erbaut wurde (Vers 28). Das Ganze, von Anfang bis Ende, wird durch Gottes Gnade zuwege gebracht.
Wahrlich, Gott begründet und beendet das christliche Leben (Phil 1,6). Wir wirken nicht – egal ob durch unsere eigenen Bemühungen oder sogar mit Gottes Hilfe – um Menschen zu werden, die würdig sind, die Errettung zu empfangen. Das entspräche dem, wie die Welt denkt: „Wenn ich gut bin, dann bekomme ich Gutes als Belohnung“. Deshalb ist das Evangelium von Christus so entnervend für die Welt. Es stellt auf mächtige Weise jede weltliche Vorstellung von Wert und Errettung auf den Kopf. Sünder, ohne jeglichen Wert in sich selbst, die an das Evangelium der Gnade glauben und darin ruhen, werden würdig „in Christus“. Sünder sind weder würdig (Röm 3,12; 4,5) noch gottesfürchtig getrennt von Christus (Phil 3,10–11.23). Es ist nur, wenn wir Christus und all seine Rettungsgaben durch Gnade allein und durch Glauben allein empfangen, dass wir „in Christus“ für gerecht oder für würdig erklärt werden. Und wir wissen, dass die, die Gott für gerecht erklärt, anschließend rechtschaffen gemacht werden. Aber wir werden Bürger von Gottes Reich und erhalten Zugang zu den guten Dingen der Errettung nicht, weil Gott uns gerecht oder würdig macht, sondern weil wir für gerecht oder würdig erklärt wurden durch Gnade allein und durch Glauben allein und in Christus allein.
Meine Hoffnung ist, dass das Gebet von Paulus zu unserem eigenen wird, während wir weiterhin auf die Gnade Gottes vertrauen, um ein Leben zu führen, dass würdig ist dem Evangelium von Christus. „Deshalb beten wir auch allezeit für euch, dass unser Gott euch der Berufung würdig mache und alles Wohlgefallen der Güte und das Werk des Glaubens in Kraft zur Erfüllung bringe, damit der Name unseres Herrn Jesus Christus in euch verherrlicht werde und ihr in ihm, gemäß der Gnade unseres Gottes und des Herrn Jesus Christus“ (2Thess 1,11–12).