Was ist das Reich Gottes?

Artikel von R.C. Sproul
1. Juli 2018 — 8 Min Lesedauer

Angenommen, jemand würde dich fragen: Was ist das Reich Gottes? Wie würdest du antworten? Die leichte Antwort wäre, anzumerken, dass ein Reich ein Gebiet ist, über das ein König herrscht. Da wir verstehen, dass Gott der Schöpfer aller Dinge ist, erstreckt sich sein Herrschaftsgebiet über die ganze Erde. Offensichtlich also ist das Reich Gottes da, wo Gott herrscht, und weil er überall herrscht, ist auch das Reich Gottes überall.

Aber ich denke, mein Pastor verstand darunter etwas Anderes. Gewiss versteht das Neue Testament darunter etwas Anderes. Wir sehen dies, wenn Johannes der Täufer aus der Wüste kommt und diese dringende Bekanntgabe macht: „Tut Buße, denn das Reich der Himmel ist nahe herbeigekommen!“ Wir sehen es weiterhin, wenn Jesus auf die Bühne kommt mit derselben Bekanntgabe. Wenn das Reich Gottes das ganze Universum umfasst, über das Gott herrscht, wieso würde dann jemand erklären, dass das Reich Gottes nahe ist oder nahe herbeigekommen ist. Offensichtlich meinten Johannes der Täufer und Jesus etwas mehr in Bezug auf dieses Konzept des Reiches Gottes.

Im Herzen dieses Themas ist die Vorstellung von Gottes messianischem Königreich. Es ist ein Reich, das von dem gottbestimmten Messias beherrscht wird, der nicht nur der Erlöser seines Volks sein wird, sondern ihr König. Deshalb, wenn Johannes von der radikalen Nähe dieses Durchbruchs spricht, dem Hereinbrechen des Reiches Gottes, dann spricht er vom Königreich des Messias.

Am Ende von Jesu Leben, als er kurz davor war, diese Erde zu verlassen, hatten seine Jünger die Möglichkeit, ihm eine letzte Frage zu stellen. Sie fragten: „Herr, stellst du in dieser Zeit für Israel die Königsherrschaft wieder her?“ (Apg 1,6b). Ich kann mir leicht vorstellen, dass Jesus etwas frustriert hätte sein können über diese Frage. Ich hätte erwartet, dass er sagt: „Wie oft muss ich es euch sagen, dass ich die Königsherrschaft für Israel nicht wiederherstellen werde?“ Aber das ist es nicht, was er sagte; er gab eine geduldige und sanfte Antwort. Er sagte: „Es ist nicht eure Sache, die Zeiten oder Zeitpunkte zu kennen, die der Vater in seiner eigenen Vollmacht festgesetzt hat; sondern ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch gekommen ist, und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde!“ (Apg 1,7–8). Was meinte er damit? Worauf wollte er hinaus?

Als Jesus zu Pilatus sagte: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, wies er da darauf hin, dass sein Reich etwas Geistliches war, das in unseren Herzen stattfindet oder sprach er von etwas Anderem? Das ganze Alte Testament macht aufmerksam nicht auf ein Reich, das einfach nur in den Herzen von Menschen erscheinen würde, sondern auf ein Reich, das in diese Welt hineinbrechen würde, ein Reich, das von Gottes gesalbtem Messias beherrscht würde. Aus diesem Grund machte Jesus während seines irdischen Dienstes Kommentare wie diesen: „Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen!“ (Lk 11,20) Gleichermaßen, als Jesus die siebzig Jünger auf einen Verkündigungsdienst aussandte, trug er ihnen auf, den unbußfertigen Städten zu sagen: „Dass das Reich Gottes nahe zu euch herbeigekommen ist!“ (Lk 10,11b). Wie konnte das Reich zu Menschen kommen oder nahe zu ihnen herbeigekommen sein? Das Reich Gottes war nahe zu ihnen herbeigekommen, weil der König des Reiches da war. Als Jesus kam, führte er Gottes Reich ein. Er brachte es nicht zur Vollendung, sondern er begann es. Und als er in den Himmel auffuhr, ging er dort hin für seine Krönung, seine Einsetzung als König aller Könige und Herr aller Herren.

Also ist die Königsherrschaft Jesu nicht etwas, das nur in der Zukunft ist. Christus ist König in diesem Moment. Er sitzt auf dem Stuhl der höchsten kosmischen Autorität. Alle Macht im Himmel und auf Erden ist Gottes gesalbtem Sohn gegeben worden (Mt 28,18).

Im Jahr 1990 wurde ich nach Osteuropa eingeladen, um eine Lehrserie in drei Ländern zu halten, zuerst in der Tschechoslowakei, dann in Ungarn und schließlich in Rumänien. Als wir Ungarn verließen, wurden wir davor gewarnt, dass die rumänischen Grenzkontrolleure ziemlich feindselig gegenüber Amerikanern waren und dass wir vorbereitet sein sollten, einige Probleme an der Grenze zu bekommen und vielleicht sogar verhaftet zu werden.

So geschah es dann auch, als unser klappriger Zug die Grenze von Rumänien erreichte, dass zwei Grenzkontrolleure zustiegen. Sie konnten kein Englisch, aber sie zeigten auf unsere Pässe und dann auf unser Gepäck. Sie wollten, dass wir unser Gepäck von der Ablage herunterholten und öffnen, dann wurden sie sehr grob und schroff. Plötzlich erschien ihr Vorgesetzter, ein korpulenter Offizier, der gebrochenes Englisch sprach. Er bemerkte, dass eine Frau in unserer Gruppe eine Papiertüte auf ihrem Schoß liegen hatte, und dass etwas herausguckte. Der Offizier sagte: „Was das? Was in Tüte?“ Dann öffnete er die Tüte und zog eine Bibel hervor. Ich dachte: „Na, jetzt stecken wir in Problemen.“ Der Offizier begann, durch die Bibel zu blättern, und schaute schnell durch die Seiten. Dann hielt er inne und blickte mich an. Ich hielt meinen amerikanischen Pass, und er sagte: „Du kein Amerikaner“. Dann blickte er Vesta an und sagte: „Du kein Amerikaner“. Er sagte das gleiche zu anderen in der Gruppe. Aber dann lächelte er und sagte: „Ich bin kein Rumäne“.

Jetzt waren wir vollends verwirrt, aber er zeigte auf einen Text, gab ihn mir und sagte: „Lies, was da steht“. Ich schaute ihn an und er sagte aus: „Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel“ (Phil 3,20a). Der Grenzkontrolleur war ein Christ. Er wendete sich zu seinen Untergebenen und sagte: „Lasst diese Leute in Ruhe. Sie sind ok. Sie sind Christen“. Wie du dir vorstellen kannst, sagte ich „Danke, Herr“. Dieser Mann verstand etwas über das Reich Gottes – dass unser oberstes Bürgerrecht im Reich Gottes ist.

Ich hatte an dem Punkt eine Krise im letzten Jahr meiner Bibelschulausbildung, als ich Studentenpastor einer Gemeinde von ungarischen Flüchtlingen in Western Pennsylvania war. Es war eine kleine Gruppe von ungefähr einhundert Menschen, viele davon sprachen kein Englisch. Jemand spendete der Gemeinde eine amerikanische Flagge, die ich bei der Kanzel neben der christlichen Flagge aufhing. Meine Krise kam in der darauffolgenden Woche, als einer der Ältesten, der ein Kriegsveteran war, zu mir kam und sagte: „Herr Pastor, sie haben das auf der Kanzel verkehrtherum“. Ich fragte: „Was ist denn falsch?“ Er antwortete: „Naja, unser Gesetz verlangt, dass immer wenn irgendeine Flagge mit der amerikanischen Flagge aufgehängt wird, muss sie in einer untergeordneten Stellung zur amerikanischen Flagge hängen. So, wie sie es hier aber eingerichtet haben, ist die amerikanische Flagge der christlichen Flagge untergeordnet. Das muss sich ändern.“ Ich liebe und ehre mein Land, zusammen mit seinen Symbolen, einschließlich der Flagge. Aber als ich diesem Ältesten zuhörte, fragte ich mich, wie die christliche Flagge irgendeiner nationalen Flagge untergeordnet sein kann?

Das Reich Gottes steht über jedem irdischen Reich. Ich bin zuerst ein Christ, dann erst ein Amerikaner. Ich schulde der amerikanischen Flagge die Treue, aber eine noch größere Treue schulde ich Christus, denn er ist mein König. Also hatte ich ein Dilemma. Ich wollte nicht das Gesetz der Vereinigten Staaten verletzen und ich wollte nicht kommunizieren, dass das Reich Gottes einer menschlichen Regierung untergeordnet sei. Deshalb löste ich das Dilemma auf leichte Weise – ich entfernte beide Flaggen aus der Gemeinde.

Wir erfahren diesen Konflikt zwischen den Reichen, wenn Jesus uns aufträgt, zu beten: „Dein Reich komme“. Was bedeutet das? Wofür beten wir, wenn wir diese Bitte äußern? Es gibt eine interne Logik im Vaterunser. Jede Bitte ist mit den anderen verknüpft. Die erste Bitte, die Jesus uns lehrte, war: „Geheiligt werde dein Name“, was ein Verlangen ausdrückt, dass der Name Gottes als heilig erachtet werde. Offensichtlich ist es so, dass Gottes Reich in diese Welt nicht kommen wird und nicht kommen kann, so lange nicht sein Name als heilig erachtet wird. Aber wir, die wir seinen Namen als heilig erachten, haben die Verantwortung, das Reich Gottes sichtbar werden zu lassen.

Johannes Calvin sagte, dass es die Aufgabe der Kirche sei, das unsichtbare Reich sichtbar zu machen. Wir tun das, indem wir auf eine Weise leben, die die Wirklichkeit der Königsherrschaft Christi bezeugt: auf Arbeit, in unseren Familien, in unseren Schulen und sogar mit unserem Konto, weil Gott in Christus König ist über jedes Gebiet unseres Lebens. Der einzige Weg, wie das Reich Gottes in dieser Welt sichtbar werden wird, bevor Christus kommt, ist, wenn wir es sichtbar werden lassen durch die Art, wie wir als Bürger des Himmels und Untertanen des Königs leben.