Wenn man sich wie ein (christlicher) Hochstapler fühlt

Artikel von Sam Allberry
15. November 2019 — 6 Min Lesedauer

Der Ausdruck „Hochstapler-Syndrom” ist vielleicht nicht so weit verbreitet, dennoch kennt man das Konzept, das sich dahinter verbirgt. Das Hochstapler–Syndrom ist das quälende Gefühl, dass man nicht das tun kann, was andere von einem erwarten. Man nimmt an, dass jeder Erfolg, den man bisher erzielt hat, ein nicht zu wiederholender Zufall gewesen sei. Man fühlt sich wie ein Betrüger und schon bald werden alle um einen herum dies begreifen. 

Das ist eine Erfahrung, die viele auf dem Arbeitsplatz machen. Ich erlebe es, um ehrlich zu sein, momentan. Ich war bei einer Konferenz einer der Redner, von denen einige Leute sind, die ich bewundere; Leute mit unglaublichen Fähigkeiten und Begabungen. Was mache ich also hier? Ganz sicher war die Einladung ein Versehen.

Es gibt ein ähnliches Gefühl, das sich schnell in unser Leben als Christ schleicht. Wir betreten die Gemeinde am Sonntag und schauen uns um. Alle sehen so aus, als ob sie hierhergehören. Sie scheinen verstanden zu haben, wie das Leben als Christ laufen soll (so glauben wir). Doch das Christsein fühlt sich für uns nicht so natürlich an. 

Heilig ist, was du bist

Vielleicht trifft das am meisten zu, wenn wir an Heiligkeit denken. Wir hören den Befehl, „seid heilig, so wie euer Vater heilig ist“. Wir wissen, dass wir ein Leben führen sollen, das würdig des Evangeliums ist. Doch es fühlt sich so fremd für uns an, genau das zu tun. All unsere Grundeinstellungen scheinen uns in eine andere Richtung auszurichten. Und in dieser Erschöpfung fangen wir an zu denken, dass es keinen Sinn hat. Das bin ich nicht. Ich versuche jemand zu sein, der ich nicht bin.

Auch wenn es sich natürlich anfühlen mag, so zu denken, so ist es doch in Wirklichkeit einfach nur falsch. Die Bibel ist ganz sicher sehr realistisch mit der andauernden Gegenwart unserer sündigen Tendenzen in unserem Leben. Wir sind noch immer nicht unsere sündige Natur los. Doch das ist nicht alles, was es darüber zu sagen gibt. Ja, die sündige Natur schlägt noch immer um sich – aber das ist nicht, wer wir wirklich sind.

Der Schlüssel ist, unsere Einheit mit Christus zu begreifen. Ein Christ zu sein bedeutet nicht einfach nur, dass wir uns entscheiden „Jesus zu wählen” oder wir ihn aus der Ferne bewundern. Die häufigste Art und Weise, wie Gläubige im Neuen Testament beschrieben werden, spricht von denjenigen, die „in Christus” sind. Wir sind mit ihm verbunden wie Zweige mit einem Baum (Joh 15,1) oder ein Körper mit dem Kopf (Eph 4) oder ein Ehemann mit seiner Frau (1Kor 6).

Eine der herrlichen Auswirkungen dessen ist, dass unsere Identität nun in Jesus ist. Hör auf diese erstaunlichen Worte von Paulus:

„Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahin gegeben“(Gal 2,20).

„Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur“ (2Kor 5,17).

Dies bedeutet, dass sich unsere Beziehung zu unserem alten Ich, unserer sündigen Natur entscheidend und dramatisch verändert hat – für immer. Deswegen kann Paulus sagen:

„Haltet euch für Menschen, die der Sünde gestorben sind und für Gott leben in Christus Jesus“ (Röm 6,11).

Die Sünde ist nicht mehr unser Herr. Das bedeutet nicht, dass sie keinen Einfluss auf uns hat, doch es heißt, dass sie keine Autorität über uns hat. Wir müssen nicht tun, was sie uns sagt. Außerdem heißt dies nicht, dass wir nie mehr sündigen werden. Doch es bedeutet, dass jedes Mal, wenn wir es tun, wir es nicht hätten tun müssen.

Sünde ist nicht, was du bist 

Das zu verstehen verändert unser Leben. Die meisten von uns haben eine bestimmte Gewohnheitssünde, die so tiefverwurzelt zu sein scheint, dass wir uns nicht vorstellen können, sie jemals loszuwerden. 

Wenn die Versuchung kommt, redet sie uns ein: So bist du. So läuft es. Hör auf so zu tun, als ob du etwas anderes bist. Das mag sehr überzeugend klingen und wir geben so leicht auf.

Doch in diesem Zusammenhang ist die Botschaft des Evangeliums so herrlich befreiend. Diese oder jene Sünde hat unser Leben bestimmt. Vielleicht war es, wer wir waren. Auch wenn es schon längst nicht mehr ist, wer wir sind.

Paulus hat dies den Christen in Korinth erklärt: 

„Oder wisst ihr nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Irrt euch nicht! Weder Unzüchtigenoch Götzendiener noch Ehebrecher noch Lustknabennoch Knabenschänder noch Diebe noch Habsüchtige noch Trunkenbolde noch Lästerer noch Räuber werden das Reich Gottes erben. Und das sind manche von euch gewesen; aber ihr seid abgewaschen, aber ihr seid geheiligt, aber ihr seid gerechtfertigt worden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes“ (1Kor 6,9–11).

Immer wenn das Neue Testament uns zur Heiligkeit aufruft, ruft es uns dazu auf, die zu sein, die wir nun sind. Wenn ich so bin, wie ich in Christus bin, wird Heiligkeit – nicht Sündhaftigkeit – am wahrhaftigsten sein für die Person, die ich in meinem tiefsten Kern bin. Auch wenn tiefe sündige Gedanken kommen, so geht die neue Liebe und das Leben, das ich in Christus habe, immer noch tiefer. Sünde ist gegen den Kern meines wahren Selbst; deswegen bin ich am wahrhaftigsten gegenüber meinem Selbst, wenn ich Christus nachfolge. 

Ich schreibe dies als jemand, der sein ganzes Leben als Christ mit homosexuellen Versuchungen zu kämpfen gehabt hat. Meine Zuneigung und Gefühle wurden über viele Jahre davon bestimmt. Manchmal hat sie noch immer eine starke Anziehungskraft auf meine Leben. Doch während es zwar meine Versuchungen beschreiben mag, so ist es nicht, wer ich bin. Solchen Gefühlen nachzugeben würde bedeuten nicht echt zu sein mit meiner Identität, die ich nun ich Christus habe. 

Die Gefahr, es umzukehren

Was am meisten wahr ist über Gläubige, betrifft nicht ihre sündige Natur. Wenn wir das aber umkehren, werden wir nie das Gefühl haben, die Kraft zu haben, so wie Christus zu leben. Der Versuch, christliche Ethik zu leben mit einer nichtchristlichen Identität, erzeugt eine instabile Bindung. Wir brauchen eine Veränderung in unserer Identität, um unsere Ethik auszuleben, ansonsten werden wir den Kampf um Heiligkeit aufgeben, während wir – gut meinend, aber getäuscht – uns an das klammern, „wer wir wirklich sind.“