Liebe und Gemeindezucht

Artikel von Jonathan Leeman
3. Mai 2019 — 3 Min Lesedauer

Klingen die Worte Liebe und Gemeindezucht widersprüchlich? Es stimmt, dass Gemeindezucht lieblos geschehen kann. Aber wenn deine Gemeinde eine liebende Gemeinde ist, dann wird sie Gemeindezucht praktizieren.

Meine Gemeinde liebte Michael, auch wenn sie an ihm Gemeindezucht ausüben musste. Vielleicht hat sich das zu der Zeit nicht so angefühlt. Hättest du dagesessen und zugesehen, wie die Entscheidung fiel, Michael die Mitgliedschaft zu entziehen, hättest du dich vielleicht gefragt, ob dies eine liebende Handlung sei.

Michael war obdachlos und drogenabhängig. Er wurde Christ durch die Evangelisation der Gemeinde. Er nahm Anteil am Leben der Gemeinde. Aber irgendwann begann Michael, Gemeindemitglieder zu belügen und zu bestehlen, um seine Drogensucht zu finanzieren. Und er weigerte sich Buße zu tun, als er darauf angesprochen wurde. Nach vielen Gesprächen verweigerte die Gemeinde ihm schließlich die Teilnahme am Abendmahl und entzog ihm die Mitgliedschaft. War die Gemeinde lieblos, als sie das tat?

Wenn man über Gemeindezucht redet, spricht man im Grunde über Jüngerschaft. Jüngerschaft umfasst das Lehren und das Korrigieren, wie im Matheunterricht oder beim Fußballtraining. Gemeindezucht ist der korrigierende Teil. Sie fängt mit persönlichen Ermahnungen an. Sie schreitet - wenn notwendig - fort, um jemanden aus der Mitgliedschaft und vom Abendmahl auszuschließen. Die Person darf weiter die öffentlichen Versammlungen besuchen, aber sie ist nicht länger ein Mitglied. Die Gemeinde wird diese Person nicht länger als Teil des „einen Leibes“ bekennen (Mt 18,15–17; 1Kor 5, 10,17).

Unsere heutige Kultur ringt mit jeder Form von Zucht oder Ausschluss, weil wir eine emotionale Sicht von Liebe haben, bei der es darum geht, dass wir uns als etwas Besonderes fühlen. Dazu kommt eine romantisierte Sicht von Liebe, der es wichtig ist, dass wir uns selbst entdecken und ausdrücken sowie eine konsumistische Sicht von Liebe, die wiederum danach strebt, den Partner zu finden, der am besten zu uns passt. Aber das ist nicht die Liebe der Bibel. Liebe in der Bibel ist heilig und setzt hohe Anforderungen. Sie ist gehorsam. Sie freut sich nicht an der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit (1Kor 13,6). Sie hält die Gebote desjenigen, den sie liebt (Joh 15,10).

Die Schrift sagt uns, dass Zucht ein Ausdruck der Liebe Gottes zu uns ist (Hebr 12,6). Gemeindezucht zeigt Liebe gegenüber der Person, die in eine Sünde verstrickt ist, damit sie zur Buße geführt wird (1Kor 5,5). Sie zeigt Liebe für den schwächeren Bruder oder die schwächere Schwester, damit nicht ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert (1Kor 5,6). Sie zeigt Liebe für unsere nichtchristlichen Nachbarn, weil die Gemeinde ihr Zeugnis hell und anziehend erhält (Mt 5,13–16). Und sie zeigt Liebe für Christus, weil sein Ruf geschützt wird.

Michael tat irgendwann Buße. Mein Freund Charles verbrachte Zeit mit ihm, arbeitete mit ihm an seinen Problemen und las die Bibel mit ihm. Eines Tages schließlich wollte Michael seine Sünde vor der ganzen Gemeinde bekennen. Er stand vor der Gemeinde, bekannte seine Sünde und ermutigte so die Gemeinde. Mit Tränen erzählte er von Gottes Barmherzigkeit im Evangelium: „Versteht ihr, liebe Familie, wie gut Gott ist?“ Die Gemeinde freute sich und umarmte Michael. Das war Wiederherstellung – das Ziel, auf das wir in allen Fällen von Gemeindezucht hoffen.

Was für eine wunderbare Liebe wird Sündern wie Michael, dir und mir geschenkt.