Glaubensbekenntnis vs. Bibel?

Artikel von Carl R. Trueman
5. Juli 2024 — 6 Min Lesedauer

Vielen Christen aus evangelikalen Freikirchen dürfte die folgende Aussage bekannt sein: „Wir brauchen kein Glaubensbekenntnis, die Bibel genügt.“ Vielleicht fiel dieser Satz in einer Predigt oder in einer Bibelstunde. Vielleicht hat jemand diese oder eine ähnliche Behauptung in einem Gespräch gemacht, in dem es darum ging, was den christlichen Glauben eigentlich auszeichnet. Die Äußerung ist kurz und klar, aber ist sie auch ein zuverlässiger und nützlicher Grundsatz, der uns als Christen in unserem Denken über christliche Wahrheit und Autorität leiten soll?

Eine wichtige Wahrheit

Bevor man solche Überzeugungen kritisiert, muss man zunächst verstehen, welche Wahrheit damit eigentlich transportiert und geschützt werden soll: die Autorität und Hinlänglichkeit der Bibel als zuverlässige Quelle und höchster Maßstab des christlichen Glaubens. Dieses biblische Prinzip hat seine Wurzeln in der Reformation, als die protestantischen Reformatoren feststellten, dass viele Lehren der mittelalterlichen Kirche, etwa das Fegefeuer, der Ablass und die ausgefeilte Theorie der Transsubstantiation, nicht nur jeder biblischen Grundlage entbehrten, sondern mit der Bibel unvereinbar waren. Sie waren Erfindungen und Spekulationen einer Kirche, die für sich in Anspruch nahm, Zugang zu einer Tradition christlicher Wahrheit zu haben, die von der biblischen Offenbarung unabhängig war.

Vor diesem Hintergrund unterstreicht die grundsätzliche Ablehnung von Glaubensbekenntnissen eine wichtige Wahrheit: Die Bibel liefert den Inhalt der christlichen Lehre und die Grundsätze für die Beurteilung, ob eine Lehraussage wahr ist oder nicht. Werden wir aus Glauben allein gerechtfertigt? Ja, denn Paulus lehrt es im Römerbrief. Kann jemand Gottes Gunst durch den Erwerb eines Ablassbriefes erkaufen? Nein, denn die Bibel lehrt dies nicht nur an keiner Stelle – sie lehrt sogar das Gegenteil, wie es der Fall von Simon verdeutlicht, dem Magier in Apostelgeschichte 8. Der Wunsch, die Vorrangstellung der Bibel zu schützen, ist daher begrüßenswert.

Verschriftlicht oder nicht

Bedeutet dies nun, dass Glaubensbekenntnisse, die die biblische Lehre zusammenfassen, problematisch sind und keinen Platz in der Gemeinde haben sollten? Bedeutet die Verwendung eines Glaubensbekenntnisses oder einer Bekenntnisschrift notwendigerweise, dass die einzigartige Autorität der Heiligen Schrift infrage gestellt wird? Nein, absolut nicht. Und es ist wichtig zu verstehen, warum das so ist.

„Was wir über die Bedeutung der Bibel glauben, ist unser Glaubensbekenntnis, ob wir es nun aufschreiben oder nicht.“
 

Zunächst einmal müssen wir festhalten, dass kein Christ sich wirklich umfassend und vollumfänglich gegen jegliches Glaubensbekenntnis abseits der Bibel ausspricht. Um dies zu verdeutlichen, muss man sich nur einmal vor Augen führen, dass niemand einfach nur der Bibel glaubt. Alle Christen – vom größten Bibelgelehrten bis zum jüngsten Neubekehrten – sind davon überzeugt, dass die Sätze der Bibel eine bestimmte Bedeutung haben. Das zeigt sich darin, dass kein Prediger von der Kanzel lediglich den Bibeltext abliest. Er legt den Bibeltext vielmehr aus und wendet ihn auf die Gemeinde an. Auch verschenkt kein Christ, der seinen Freunden oder Nachbarn vom Evangelium erzählt, einfach nur eine Bibel. Er bietet seinen Mitmenschen auch an, zu erklären, wie die Bibel zu verstehen ist. Was wir über die Bedeutung der Bibel glauben, ist unser Glaubensbekenntnis, ob wir es nun aufschreiben oder nicht.

Das Verhältnis von Glaubensbekenntnissen zur Bibel

Haben wir diese Wahrheit einmal erkannt, fragen wir uns nicht länger, ob Glaubensbekenntnisse eine gute Sache sind. Die Frage ist dann vielmehr, ob unser Glaubensbekenntnis die Lehre der Bibel widerspiegelt oder nicht. Dabei ist es nützlich zu verstehen, in welchem Verhältnis ein Glaubensbekenntnis zur Heiligen Schrift steht. Ein Glaubensbekenntnis steht nicht über der Heiligen Schrift. Es ist kein Rahmen, der die letzte Autorität darüber hat, was die Bibel zu bedeuten hat. Auch ist ein Glaubensbekenntnis keine separate Quelle göttlicher Offenbarung, die losgelöst von der Schrift eine eigene Autorität enthält. Glaubensbekenntnisse sind Zusammenfassungen biblischer Lehre und somit – zumindest theoretisch – im Lichte der biblischen Lehre korrigierbar.

Glaubensbekenntnisse sind Zusammenfassungen biblischer Lehre und somit im Lichte der biblischen Lehre korrigierbar.
 

Die Systematische Theologie kennt ein Begriffspaar, das die Beziehung zwischen Bibel und Glaubensbekenntnis treffend auf den Punkt bringt: Die Bibel ist die normierende Norm, ein Glaubensbekenntnis ist die normierte Norm. Ersteres schützt die höchste Autorität der Bibel bei der Formulierung der christlichen Lehre und der Beurteilung jeglicher Lehre. Letzteres weist jedoch auf eine wichtige Realität hin: Gemeinden (und einzelne Christen) fassen christliche Lehren ständig in Worte, ohne stets alle relevanten Bibeltexte zu zitieren oder eine ausführliche Darstellung darüber zu geben, wie zum Beispiel die Lehre der Dreieinigkeit aus der Schrift abgeleitet wird. Kurz gesagt ist ein Zweck des Bekenntnisses die Darbietung „gesunder Worte“ (um eine Formulierung von Paulus zu entlehnen), die in kurzer Form wichtige biblische Wahrheiten darlegen.

Das Rad neu erfinden?

Im Idealfall erkennen Christen daher an, dass jeder von uns das eine oder andere Glaubensbekenntnisse nutzt. Wir alle denken, dass die Bibel etwas bedeutet und dass ihre Lehre in einer Art und Weise formuliert werden kann, die prägnant ist und die Position der Bibel zu einer ganzen Reihe der wichtigen Themen zusammenfassen kann. Hierbei sollten wir es aber nicht belassen. Davon ausgehend schauen wir auf die großen Glaubensbekenntnisse der Kirche, um zu sehen, welche Formen „gesunder Worte“ sich im Laufe der Geschichte als nützlich erwiesen haben, um der Kirche zu helfen, dem Evangelium gegenüber treu zu sein. Nur weil etwas die Jahrhunderte überdauert, muss es nicht zwingend wahr sein. Wenn ein Glaubensbekenntnis – etwa das Bekenntnis von Nicäa – der Gemeinde jedoch schon über 1.500 Jahre gedient hat, ist dies durchaus ein Indiz dafür, dass sein Inhalt mit den Aussagen der Bibel übereinstimmt. Natürlich kann eine Gemeinde auch heute ihre eigenen Glaubensgrundsätze formulieren. Warum aber das Rad neu erfinden, wenn es bereits bewährte Glaubensbekenntnisse gibt?

Außerdem bietet der Gebrauch eines historischen Glaubensbekenntnisses zusätzliche Vorteile. Es erinnert die Gemeinde daran, dass das Evangelium nicht jeden Sonntag neu erfunden wird. Es ermutigt jeden Gläubigen, sich mit anderen Brüdern und Schwestern rund um die Welt zu identifizieren – gegenwärtig, aber auch im Laufe der Jahrhunderte. Der Presbyterianer, der das Westminster-Bekenntnis, und der Lutheraner, der das Konkordienbuch bekräftigt, identifizieren sich mit großen und umfangreichen christlichen Traditionen und werden dadurch daran erinnert, dass sie Teil einer viel größeren Geschichte sind.

„Ein Zweck des Bekenntnisses ist die Darbietung ‚gesunder Worte‘, die in kurzer Form wichtige biblische Wahrheiten darlegen.
 

Es gibt noch viele weitere Vorteile, die heutige Christen und Gemeinden durch Glaubensbekenntnisse erhalten. Ich hoffe jedoch, dass die bisherigen Beschreibungen genügen, um den Appetit auf mehr anzuregen. Jeder, der sich mit der Überlieferung des Glaubens von Generation zu Generation und von Ort zu Ort befasst, wird den Nutzen dieser großartigen Dokumente schnell erkennen.