Die Gemeinde lieben, nicht eine Wunschvorstellung von ihr

Artikel von Jonathan Leeman
31. März 2019 — 10 Min Lesedauer

Dieser Artikel geht an die Theologen unter uns. An die Männer, die es lieben, über Dogmatik zu diskutieren. An die Leute, die eine bestimmte ekklesiologische Sicht vertreten. An die Pastoren und Ältesten, aus deren Sicht die Bibel Entscheidendes über die Praxis und die Strukturen der Gemeinde zu sagen hat.

Moment mal, ich rede über mich selbst und uns alle bei 9Marks, und vielleicht über dich. Ich danke Gott für dich, und ich freue mich, gemeinsam mit dir am Reich Christi zu bauen.

Doch es gibt eine Versuchung, für die du und ich, meiner Beobachtung nach, anfällig sind: Wir können unsere Vision, davon wie eine Gemeinde sein soll, mehr lieben als die Menschen, aus denen sie besteht. Wir können einem unverheirateten Mann ähneln, der die Vorstellung einer Frau liebt, dann aber eine echte Frau heiratet und es schwieriger findet, sie zu lieben als seine Vorstellung von ihr. Oder wie eine Mutter, die ihren Traum von der perfekten Tochter mehr liebt als die Tochter selbst.

Wir befinden uns alle schnell in dieser Gefahr, wenn wir viel aus Büchern, auf Konferenzen und von christlichen Werken und Organisationen über „gesunde Gemeinden“ lernen durften. Gott hat uns damit beschenkt, aber wir fangen allzu leicht an, die Vorstellung einer gesunden Gemeinde mehr zu lieben, als die echte Gemeinde, in die Gott uns gestellt hat.

Ich erinnere mich, wie ich einmal einen Gemeindeältesten über eine Familie schimpfen hörte, die ihre ungetauften Kinder das Abendmahl nehmen ließ, als der Teller mit dem Brot durch ihre Reihe gegeben wurde. Es war der Tonfall des Ältesten, der mir auffiel. Er klang frustriert und leicht verächtlich, als würde er denken: „Wie konnten sie das tun?! Die Narren!“ Aber diese Leute hatten es nicht anders beigebracht bekommen, sie waren „ungelehrte Schafe“. Natürlich wussten sie es nicht besser. Doch Gott hatte ihnen diesen Ältesten gegeben – nicht um sich über sie zu beschweren, sondern um ihnen in Liebe zu begegnen und sie zu lehren. In diesem Moment fühlte es sich an, als ob dieser Älteste seine Vision einer biblischen Gemeinde mehr liebte als diese Familie.

Es passiert uns so schnell, dass wir wie dieser Älteste reagieren.

Was ich nicht sagen will

Ich will nicht ausdrücken, dass wir die Menschen lieben und die biblische Gesundheit vergessen sollten, als ob man die beiden voneinander trennen könnte. Nein, das hieße, Gottes Liebe und Gottes Wort gegeneinander auszuspielen. Jemanden zu lieben bedeutet, ihm Gutes zu wollen, und nur Gott definiert, was gut ist. Deine Gemeinde zu lieben bedeutet zum Teil, dass du möchtest, dass sie hinwächst zu allem, was Gott als gut definiert. Es geht darum, dass deine Gemeinde in eine biblische Richtung wächst.

Einfacher gesagt, wenn du deine Kinder liebst, möchtest, du, dass sie gesund sind.

Was meine ich also damit, dass wir die Gemeinde mehr lieben sollten als ihre Gesundheit?

Zurück zum Evangelium

Christus hat die Gemeinde teuer erkauft durch seinen Tod. Sie ist sein. Er hat sich mit ihr identifiziert. Er hat ihr seinen Namen gegeben. Daher bedeutet die Verfolgung der Gemeinde Christus zu verfolgen (Apg 9,5) und die Sünde gegen einen Christen gegen Christus zu sündigen (1Kor 8,12; vgl. 6,15). Einzeln und gemeinsam sind wir Stellvertreter Christi.

Überlege mal, was das bedeutet. Es bedeutet, dass Christus unreifen Christen seinen Namen gegeben hat: Christen, die zu lange in Mitgliederversammlungen sprechen, Christen, die ihre ungetauften Kinder zu Unrecht das Abendmahl nehmen lassen, und Christen, die seichte Loblieder lieben – sie alle tragen seinen Namen. Christus hat sich mit den Christen identifiziert, deren Theologie unterentwickelt und unvollkommen ist. Christus zeigt auf die Christen, die sich fälschlicherweise gegen biblische Leitungsstrukturen und die Praxis der Gemeindezucht stellen, und sagt: „Sie vertreten mich. Sündige gegen sie und du sündigst gegen mich!“

Wie breit, wie lang, wie tief, wie hoch ist die Liebe Christi! Sie deckt eine Menge von Sünden zu und nimmt Sünder an. Die Liebe Christi nimmt Sünder nicht nur an, sondern legt das ganze Gewicht seiner eigenen Identität und Herrlichkeit auf sie und sagt über sie: „Sie werden meinen Namen tragen und meine Herrlichkeit soll ihnen gehören“.

Wir sollten schließlich immer wieder zurück zum Evangelium kommen, oder?

Gib dich ganz für die Gemeinde hin

Ein Theologe hat mir geholfen, noch besser zu verstehen, was es heißt, zu lieben, wie es das Evangelium beschreibt: Er unterscheidet dazwischen, sich ganz hinzugeben und nur einen Teil von sich zu geben. Nur einen Teil von mir zu geben bedeutet, dass ich dir etwas gebe, was ich besitze – meine Weisheit, Freude, Besitztümer oder meine Stärken im Allgemeinen. Ich gehe damit keine Gefahr ein, irgendetwas zu verlieren, sondern werde dafür gelobt. In der Tat kann ich alles geben, was ich habe, sogar meinen Körper hingeben, dass ich verbrannt würde, und keine Liebe haben. Mich selbst hinzugeben bedeutet jedoch nicht nur zu geben, was ich besitze, sondern alles, was ich bin. Ich identifiziere mich selbst mit dir. Ich fange an auf deinen Namen und deinen Ruf zu achten, weil sie mit meinem eigenen verbunden sind. Jede Ehre, die ich habe, wird deine, und ich werde mich an keiner Ehre mehr freuen als an deiner. Sie gehört auch mir!

So sollten wir einander in der Gemeinde lieben, denn so hat Christus uns geliebt. Wir nehmen einander nicht nur an, wir geben dem anderen das ganze Gewicht unserer Identität zu tragen. Wir teilen die Sorgen und Freuden, die Siege und Niederschläge des anderen. „Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit“ (1Kor 12,26). Wir achten den andern höher als uns selbst, wie Christus es mit uns getan hat (Phil 2,1–11). Wir tragen nun denselben Namen, weil wir alle Christus gehören, und sind daher Brüder und Schwestern geworden (Mt 12,50; Eph 2,19 u. a.). Wenn du meinen Bruder beleidigst, beleidigst du mich. Wenn du meine Schwester betrügst, betrügst du mich. In der Gemeinde ist nichts streng geschäftlich. Alles ist persönlich, weil das Evangelium persönlich ist. Er ist für dich gestorben, lieber Bruder, liebe Schwester. Er ist für mich gestorben. Damit wir seine Stellvertreter sind und ihm ähnlich werden. (Letztlich bleibt Christus der Mittelpunkt unserer Liebe zueinander. So ist es auch mit Christi Liebe für uns: Er hat uns geliebt, damit wir den Vater lieben können. Der Vater ist letztlich der Mittelpunkt seiner Liebe.) Wenn alle Christen diese Liebe an den Tag legen sollen, wie viel mehr muss das dann für uns als Pastoren und Ältesten gelten.

Wenn ich sage, dass wir die Gemeinde mehr lieben sollen als ihre Gesundheit, will ich Folgendes ausdrücken: Wir sollen die Menschen lieben, weil sie zum Evangelium gehören, nicht weil sie das Gesetz einer gesunden Gemeinde gehalten haben, auch wenn dieses Gesetz gut und biblisch sein mag. Wir sollen die Menschen in unserer Gemeinde lieben: nicht wegen ihrer eigenen Taten, sondern wegen dem, was Christus selbst getan und erklärt hat.

Wenn du deine Kinder liebst, möchtest du, dass sie gesund sind. Aber deine Liebe für sie hängt nicht davon ab, ob sie gesund oder krank sind.

Natürlich kannst du dich freuen, wenn ein Bruder oder eine Schwester eine gesunde Theologie entwickelt oder theologisch mehr versteht. Du freust dich an der größeren Einheit in der Wahrheit, die ihr jetzt miteinander habt (siehe 2Joh 1). Doch eine Liebe, wie sie dem Evangelium entspricht, gilt genauso dem Bruder, der theologisch, ekklesiologisch, sogar moralisch unreif ist: „Gott aber beweist seine Liebe zu uns dadurch, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.“ (Röm 5,8). Denn die Liebe des Evangeliums beruht auf der Vollkommenheit und Wahrheit Christi, nicht auf der des Bruders.

Lieber Pastor, wenn deine Gemeinde mit schwachen Gläubigen gefüllt ist, hast du genauso viel Grund dich mit ihnen zu identifizieren, als wenn sie geistlich stark wären. Vielleicht fühlst du dich mehr „eines Sinnes“ (ein beliebter Ausdruck unter reformierten Christen) mit dem reifen Bruder, der deine Theologie teilt. Das ist in Ordnung. Doch wenn dein theologisch gleichgesinnter Bruder, mit dir abfällig über einen anderen Bruder reden will, der weniger reif im Glauben oder weniger theologisch gebildet ist, dann antworte ihm: „Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. Du solltest aber fröhlich sein und dich freuen; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, und er war verloren und ist wiedergefunden worden!“ (Lk 15,31–32).

Älteste, liebt eure Herde, als wären sie eure Söhne und Töchter! Feuert sie an: Setzt euch auf die Tribüne ihres Lebens und unterstützt sie, egal ob sie ein Tor nach dem anderen schießen oder immer nur den Pfosten treffen. Macht ihre Freuden und Sorgen zu euren eigenen. Steht ihnen auch in ihrer Torheit bei. Fühlt euch nicht bedroht, wenn sie abschätzig mit euch sprechen. Begegnet ihrem Fluch mit Segen. Denkt daran, dass die Befreiung von der Sünde im Herzen ein langsamer Prozess ist und sie sich nicht immer selbst helfen können. Seid geduldig wie auch Christus mit euch.

Oder um ein anderes biblisches Bild zu benutzen: Eure Liebe zu eurer Gemeinde soll „in guten wie in bösen Tagen, in Reichtum und in Armut, in Gesundheit und in Krankheit“ gelten, auch wenn diese Liebe kein „bis, dass der Tod uns scheide“ kennt. Sollte es nicht so sein? Sollten wir uns unseren Gemeinden nicht genauso verpflichtet fühlen wie unserem eigenen Körper? Denn so hat Christus dich und mich geliebt!

Die Gemeinde wie Paulus lieben

So hat Paulus die Gemeinden geliebt. Er hat sich selbst hingegeben und nicht nur einen Teil von sich gegeben. Er schrieb den Philippern, dass sie „[seine] Freude und [seine] Krone“ seien (Phil 4,1). Auch die Thessalonicher nannte er „[seine] Hoffnung oder Freude oder Krone des Ruhms“ (1Thess 2,19–20).

Lieber Pastor, verstehst du auch die unbequemen oder theologisch naiven Christen in deiner Gemeinde als deine Freude und deine Krone? Identifizierst du dich so sehr mit ihnen, dass du das sagen kannst? Paulus bezeichnete die Gemeinden als seinen „Ruhm“ (2Kor 1,14; vgl. 2Thess 1,4). Kannst du das sagen?

Paulus schrieb den Korinthern, dass sie „[seine] geliebten Kinder“ seien – „gezeugt durch das Evangelium“ – und er ihr Vater (1Kor 4,14–15). Auch Timotheus und Titus und die Galater sah er als seine geliebten Kinder (Gal 4,19; 1. Tim 1,2; Tit 1,4).

Lieber Ältester, hast du deinen Namen und deinen Ruf so untrennbar mit deiner Gemeinde vereint wie ein Vater mit seinem Sohn?

Wie oft lesen wir bei Paulus Worte der Liebe und der Sehnsucht? Er öffnet sein Herz weit für die Gemeinden und sehnt sich danach, dass auch die Gemeinden ihm gegenüber ihr Herz weit machen (2Kor 6,12–13). Er sehnt sich danach bei ihnen zu sein und sie zu sehen (Röm 1,11; Phil 4,1; 1Thess 3,6; 2Tim 1,4). Paulus schreibt, „wie [ihn] nach [ihnen] allen verlangt in der herzlichen Liebe Jesu Christi“ (Phil 1,8). Und er weiß, dass seine eigene Bedrängnis, den Gemeinden zum Trost und zur Rettung dient und sein Trost ihnen zum Trost wird (2Kor 1,6). Paulus hat den Gemeinden nicht nur einen Teil von sich gegeben und den Rest für sich behalten wie Ananias und Saphira. Er hat sich selbst für die Gemeinde hingegeben.

Und Paulus liebte nicht nur die reifen Christen auf diese Weise. Sieh dir seine Briefe an, dann wirst du dich schnell daran erinnern, wie ungesund viele dieser Gemeinden waren!

Möge der Geist Gottes unsere Liebe wachsen lassen, damit wir Paulus nachahmen, so wie er Christus nachgeahmt hat.