Demut als notwendiges Kennzeichen christlicher Theologie
Nicht nur an einer Stelle ruft uns Gott dazu auf, demütig zu sein. Wir leben in einer Zeit, die es mehr als erstrebenswert und wichtig erachtet, alles dem Ziel der "Selbstvermarktung" zu unterstellen. Demut ist heutzutage auch in der akademischen Welt keine gefragte Tugend mehr. Leider kann sich dieser Trend auch auf die Arbeit christlicher Theologen ausbreiten. Matthew Hall zeigt uns in diesem Artikel auf, wie sich biblische Demut auf die akademische Arbeit christlicher Theologen auswirken kann.
Ich hatte nie die Möglichkeit, ihn zu treffen, aber bewundert habe ich Carl F. H. Henry schon lange. Neben seiner Einzigartigkeit als christlicher Denker, hat mich vor allem seine demütige Art erstaunt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Henry zögerte nicht, wenn es darum ging, falsche Argumente zu entlarven oder auch Irrlehre und Ungerechtigkeit beim Namen zu nennen. Aber er tat dies mit einer erstaunlichen Demut, die von vielen seiner Freunde, Studenten und Kollegen bezeugt wird.
D. A. Carson erzählte einmal von einem Gespräch mit Henry, in dem er ihn fragte, wie er es geschafft hatte, sich diese Demut zu bewahren. Die Antwort dieses bedeutenden evangelikalen Theologen war bemerkenswert: „Wie kann jemand hochmütig und arrogant sein, wenn er neben dem Kreuz Christi steht?“ Ich wünschte, ich hätte mehr von dieser Eigenschaft.
Christliche Theologen müssen von der Liebe für die Wahrheit und dem ernsten Verlangen, sie zu suchen, geprägt sein. Das bedeutet, dass Überzeugung, kritisches Denken und ein prüfender Geist sie auszeichnen müssen.
Demut muss ein Kennzeichen der christlichen Theologie sein
Aber ich glaube, dass die Demut als Kennzeichen christlicher Theologen in unseren Tagen am meisten missachtet wird. Und der Mangel der Demut wird dort deutlich, wo wir ihn nicht unbedingt vermuten. Vielleicht hat der gegenwärtige Evangelikalismus die Wahrheiten vergessen, die uns auffordern, Demut auch in der akademischen Welt auszuleben und ich denke, dass es für dieses Vergessen drei primäre Gründe gibt:
1. Demut steht der Professionalisierung christlicher Theologen entgegen
Ich habe die Vermutung, dass fehlende Demut innerhalb der akademischen Arbeit manchmal etwas mit unserer theologischen Amnesie zu tun hat. Wir haben größtenteils das historische und typisch christliche Verständnis der Berufung (vocatio) vergessen; ein Verständnis, das Christen früher besser verinnerlicht haben und das uns daran erinnert, dass unsere eigene Arbeit als christliche Theologen nur eine Gabe, ein Geschenk, ja eine Berufung ist.
Die Arbeit in der christlichen Theologie ist mehr als die Verwirklichung der persönlichen Karriere. Es ist eine Berufung. Der historische Protestantismus hat diesen Aspekt ein halbes Jahrhundert lang betont. Aber viel zu oft haben sich Theologen dem Zeitgeist der Professionalisierung gebeugt. In einer Zeit, die Bildung und Lernen nur als eine weitere Handelsware sieht, verstehen wir Christen den Ruf zum Lernen in der Schöpfungsordnung begründet. Er ist Teil des göttlichen Plans für die Menschen und zentral für den Aufruf, die Erde zu füllen und sich untertänig zu machen (Gen 1, 28).
Die Christen, die lehren, forschen, schreiben, neue Erkenntnisse hervorbringen und alte Weisheiten neu betonen, sind grundlegend berufene Menschen. Wir müssen diese Berufung aber in Demut ausleben. Das tun wir, indem wir uns immer wieder daran erinnern, dass sie uns durch göttliche Gnade anvertraut wurde, egal wie qualifiziert und fähig wir auch zu sein scheinen.
2. Demut steht den Werten der Welt und unserer Kultur entgegen
Dass wir in einer narzisstischen Welt leben, ist wahrscheinlich keine neue Erkenntnis. Aber während unsere Zeit mit furchtbaren Formen der Arroganz zu kämpfen hat, wissen wir als Christen, dass dieser Geist seit Genesis 3 in unserer Welt vorherrscht.
Christliche Theologen finden sich selbst immer mehr in einer Kultur, die Selbstvermarktung und Berühmtheit als essentiell notwendig ansieht. Demut ist wesentlich für Anstand und in unserer westlichen Welt (auch der akademischen) verabschieden sich beide zunehmend. Wenn Sie glauben, dass die akademische Zunft immun gegen diesen Trend ist, liegen Sie falsch. Natürlich kleiden wir uns sehr vornehm und angemessen, aber trotzdem ist dieser Trend gegenwärtig, sich selbst von der Gesellschaft abzuspalten und sogar über sie zu stellen.
In einer Zeit, die alles - einschließlich Bildung und Denken - vermarktet, wächst der Druck, sich selbst profilieren zu müssen. Theologische Arbeit, die von Demut geprägt ist, hat die Kraft, gegen diesen Strom zu schwimmen.
3. Demut steht der Eigenprofilierung entgegen, die sich auch im Evangelikalismus breit macht
Die Ausbreitung digitaler Technologien und sozialer Medien und die Demokratisierung der Massenmedien tragen viel positives Potential in sich. Das gilt vor allem auch in Bezug auf die evangelistische Arbeit: Durch den schnellen Austausch von Gedanken konnten die globale Evangelisation, der Dialog, Jüngerschaft und Bildung positiv beeinflusst werden.
Trotzdem gibt es auch hier versteckte Risiken. Wenn man als christlicher Theologe das Ziel hat, die Demut als Tugend zu kultivieren, wird man sehr schnell mit der Tatsache konfrontiert, dass nicht nur die Welt, sondern auch die evangelikale Subkultur davon ausgeht, dass die Eigenprofilierung längst zum „Geschäft“ dazu gehört. Wir halten es vielleicht für „strategisch sinnvoll“ oder für einen guten Weg, unser „Beziehungsnetzwerk“ auszubauen. Aber der Sirenengesang des Narzissmus hat in unserem digitalen Zeitalter einen sehr verführerischen Unterton.
Weder die Qualität noch die Effektivität christlicher Forschung wird dadurch vorangetrieben, wie viele Menschen meine Twitter-Nachrichten verfolgen. Sie werden auch nicht daran gemessen, wie viele Bestseller man verfasst hat oder wie oft man als Redner eingeladen wird. Die Qualität unserer Arbeit hat wenig damit zu tun, wie schnell wir in den sozialen Medien Antworten und Reaktionen von uns geben.
Eine demütige Einstellung in unserer Arbeit sollte uns misstrauisch gegenüber dem Aufruf zur Eigenprofilierung machen. Auch sollte sie uns aufmerken lassen, wenn wir den Druck verspüren, leichtsinnige, halbdurchdachte Urteile und Meinungen abgeben zu müssen, nur um möglichst viele Leser, Weiterempfehlungen und Aufrufe in den sozialen Medien zu ergattern.
Das Wesen der Demut als eine akademische Tugend
Wie kann die Demut das Leben und die Arbeit eines christlichen Theologen beeinflussen?
Erstens bedeutet Demut in diesem Zusammenhang, dass der christliche Theologe selbst immer Schüler bleibt. Wir hören niemals auf, zu lernen. Als Christen werden wir verändert durch die Erneuerung unserer Sinne (Röm 12,2). Unabhängig davon, wie einzigartig wir als Theologen vielleicht auch sein mögen, bleiben wir doch immer Schüler und Lernende. Es gibt immer noch Fragen, die gestellt und Antworten, die gefunden werden müssen. Es gibt mehr Wahrheit, die erkannt werden will. Ein christliches Verständnis von Offenbarung und Wahrheit untermauert unsere Berufung mit einer grundlegenden Hoffnung: Diese Fragen sind wichtig und es gibt Antworten, die denen zugänglich sind, die sie bei dem souveränen Gott suchen, der alle Dinge geschaffen hat, um die Geschichte seiner unendlichen Größe zu erzählen.
Zweitens bedeutet Demut, dass wir uns einer Autorität unterstellen. Für einen christlichen Theologen ist die Bibel selbst die ultimative Autorität. In den verschiedenen Fachbereichen gibt es eine Vielzahl an Theorien und konkurrierenden Autoritäten, aber die Hl. Schrift ist einzigartig. Die Bibel ist die einzig inspirierte und damit unfehlbare Autorität für das Volk Gottes. Sie ist der Ort, an dem der christliche Theologe zur Ruhe finden kann. Wir können dem, was Gott in seinem Wort sagt, voll und ganz vertrauen. Wir halten kein Gericht über die Bibel; vielmehr richtet sie uns (Hebr 4,12).
Zuletzt fordert die Demut uns auf, unsere eigenen Grenzen zu erkennen und zu gestehen. Es scheint vielleicht merkwürdig zu klingen, aber einmal auch zuzugeben, keine Antwort auf eine Frage zu haben, ist mehr als befreiend. Aber es ist nicht nur befreiend, sondern auch motivierend. Die Demut zu haben, die eigenen Grenzen zugeben zu können, kann auch den Forschergeist entfachen. Wenn wir ehrlich sind, dass wir etwas nicht wissen, schaffen wir die Möglichkeit, unsere eigene Wissbegierde zu neuem Leben zu erwecken.
Richard Mouw beschreibt diese Tatsache sehr gut in seinem neuen Buch Called to the Life of the Mind: Some Advice for Evangelical Scholars (Eerdmans, 2014). Mouw, der selbst ein einzigartiger Philosoph und langjähriger Präsident eines Seminars ist, stellt dort fest: „Gerade weil wir begrenzte (und auch gefallene) Wesen sind, müssen wir sehr demütig und bescheiden über das menschliche Erkenntnisvermögen denken. Gott allein kennt alle Dinge.“
Vielleicht hilft uns auch ein wenig Eschatologie. In dem neuen Himmel und der neuen Erde wird es Arbeit geben. Natürlich wird diese Arbeit von jedem Fluch befreit sein. Aber diejenigen von uns, die in die christliche Lehre berufen sind, werden in dieser Hinsicht mit einem Geheimnis konfrontiert. Für alle Ewigkeit werden wir fähig sein, Gott zu erkennen und uns in ihm zu freuen und werden dabei nie wieder mit Unkenntnis zu kämpfen haben. Vielleicht verstehen wir jetzt ein bisschen, was Paulus meinte, als er schrieb: „Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie auch erkannt worden bin“ (1.Kor 13,12). Er beschreibt hier die kommende Fülle der Erkenntnis, die voll und ganz auf Gott fokussiert ist. Gibt es etwas, das uns mehr in Staunen und Demut versetzt?
Matthew J. Hall, Christian Scholarship and the Distinguishing Virtue of Humility
© TheGospelCoalition
Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung